Aus der Wörtersammlung: vergessen

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neufundland 18.01.45 uhr : schneeweiße stimme

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del­ta : 20.01 UTC — Noe, wir sind glück­lich, mel­de­te sich am frü­hen Abend end­lich wie­der. Ver­mut­li­che Tie­fe: 886 Fuß. Posi­ti­on: 78 See­mei­len süd­öst­lich der Küs­te Neu­fund­lands seit nun­mehr 2732 Tagen im Tief­see­tauch­an­zug unter Was­ser. ANFANG 18.01.45 | | | schrei­be oder den­ke ich? s t o p alles da drau­ßen ohne das geräusch einer spra­che. s t o p nur das sin­gen der wale. s t o p was sehen sie in mir? s t o p einen fisch? b l a c k s h o e f r o m a b o v e. s t o p das rau­schen der luft links und rechts mei­ner ohren. s t o p das was­ser nur eine schwa­che vorstel­lung. s t o p — e n o r m o u s g r e y f i s h r i g h t h a n d . s t o p ich habe den ver­dacht jün­ger zu wer­den. s t o p viel­leicht des­halb jün­ger wer­de weil ich mei­nen kör­per nicht sehen kann. s t o p unmög­lich das geräusch des regens noch vorzu­stellen. s m a l l s p o o n f r o m a b o v e . s t o p einen atem­zug lang habe ich mei­nen namen ver­ges­sen. s t o p t h r e e b l u e f i s h e s l e f t h a n d . s t o p immer wie­der die­sel­ben träu­me. s t o p von kie­men. s t o p von uhren. s t o p. von astro­nauten. s t o p von yoko. s t o p von ihrer stim­me die nicht erin­nert wer­den kann. s t o p schnee­weiße stim­me. s t o p schnee­weiße haut. s t o p schnee­weißer sand. s t o p ich soll­te wie­der ein wenig schwei­gen. stop | | | ENDE 18.03.58

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verschwinden no 2

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echo : 20.05 UTC — Manch­mal, wäh­rend ich hin­ter dem Roll­stuhl mei­ner Mut­ter spa­zie­re, sehe ich etwas, und dann sehe ich wie­der nichts für län­ge­re Zeit. Ich sehe Schwal­ben über den Him­mel huschen, ich sehe das Stroh­hüt­chen mei­ner Mut­ter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hän­de, die mit­ein­an­der rin­gen. Wenn ich etwas wirk­lich sehe, also erken­ne, kann ich es for­mu­lie­ren. Ich sehe dem­zu­fol­ge mit Wör­tern. Wenn ich ohne Wör­ter gedan­ken­los sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und ver­ges­se in ein und dem sel­ben Moment. Ich ver­ges­se Schwal­ben, Rosen­blü­ten, die Hän­de mei­ner Mut­ter, ihr Hüt­chen auf dem Kopf, den Him­mel über mir, Bäu­me, das Licht in den Pfüt­zen, und schon habe ich mei­ne Füße und kurz dar­auf mich ins­ge­samt ver­ges­sen. – stop
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leere seite

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sier­ra : 10.22 UTC — Ein­mal beob­ach­te ich einen Mann, der an Hand der Gestalt von Schrift­zei­chen, die auf Brief­um­schlä­gen zu fin­den sind, Dia­gno­sen erstellt. Er mache das seit vie­len Jah­ren. Zur Betrach­tung wird also ein Brief, der zu unter­su­chen ist, aus einer Box geho­ben, um ihn unter das Licht einer star­ken Lam­pe zu legen. Der Mann sagt: Die Per­son, die die­sen Brief nach Lon­don sen­de­te, war im Moment, da sie ihren Brief adres­sier­te, betrun­ken. Er nimmt einen wei­te­ren Brief aus der Box: Die­ser Brief nach Zürich wur­de von einer Frau notiert, die glaub­te, ihre Zeit sei abge­lau­fen. Das hier ist ein ganz selt­sa­mes Exem­plar, nicht wahr, war­um über­haupt jedes Schrift­zei­chen auf dem Brief­um­schlag ver­ges­sen wur­de, kön­nen wir erst dann mit Sicher­heit sagen, wenn wir den Brief geöff­net haben Erden, schö­ne Brief­mar­ke. Hier haben wir einen Brief, des­sen Adres­se nur schein­bar von Hand gesetzt wor­den ist, bei genau­er Ansicht ist fol­gen­des deut­lich zu erken­nen: Die Anschrift „To Lady Char­lot­te Rid­lin­ger, NY, 210 Lex­ing­ton Ave­nue“ wur­de von einer Maschi­ne gestem­pelt. — stop

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auf hoher see

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bamako : 15.08 UTC — Ich hör­te von einem adop­tier­ten Jun­gen, der ger­ne den Nach­na­men sei­ner Nach­barn anneh­men möch­te. Sei­ne neu­en Eltern hei­ßen näm­lich Sim­bar­ski — Koh­le­berg, oder so ähn­lich, sei­ne Nach­barn Weber. Er selbst heißt Tobi­as mit Vor­na­men, sein ursprüng­li­cher soma­li­scher Name ist unbe­kannt, er habe ihn, sagt er, ver­ges­sen, er wis­se nicht war­um, sein Name sei irgend­wo auf der Flucht ver­lo­ren gegan­gen. Spä­ter ein­mal will er Fluss­schiff­ka­pi­tän wer­den. Der Jun­ge meint eines die­ser gro­ßen Boo­te, die Pas­sa­gie­re beför­dern, er will eine wei­ße Uni­form tra­gen und auf sei­nem eige­nen Schiff zu See fah­ren. Zur Zeit arbei­tet er noch als Brief­trä­ger, er ist gera­de 20 Jah­re alt gewor­den. Er berich­tet, dass er in der ers­ten Stadt, in der er in Euro­pa wohn­te, nicht ver­stan­den habe, was Fahr­rad­we­ge sind, Er habe sie für Flücht­lings­we­ge gehal­ten, wäh­rend die Ein­hei­mi­schen auf Bür­ger­stei­gen spa­zie­ren. — stop

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nikolai wassiljewitsch

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marim­ba : 0.12 UTC — Eigent­lich soll­te ich nie­mals das Ende eines Trau­mes erzäh­len, Trau­men­den befin­den sich nicht sel­ten bereits mit einem Bein im neu­en Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirk­lich­keit nen­nen, ich bin dann schon wach gewor­den auf einem Bein, habe die Fens­ter geöff­net, es reg­net zum Bei­spiel, auf der Stra­ße weit unter mir bewe­gen sich Regen­schir­me, Men­schen sind kei­ne zu erken­nen, aber ein paar nas­se Tau­ben, die sich, von der Schwe­re ihres Gefie­ders in die Tie­fe gezo­gen, kaum noch in der Luft zu hal­ten ver­mö­gen. Eine Exkur­si­on zur Kaf­fee­ma­schi­ne hin nüt­ze ich, um mein Mikro­skop vom Tisch zu holen. Tat­säch­lich erken­ne ich jetzt eine Her­de gold­grü­ner Frö­sche, die sich an der Haus­wand gegen­über west­wärts bewe­gen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, pras­selt auf die Blät­ter der Bäu­me, tropft von den Regen­rin­nen auf ble­cher­ne Fens­ter­sim­se, was für ein wun­der­schö­ner Mor­gen, schon hab ich den Traum, den ich träum­te, bei­na­he ver­ges­sen. Wie gut die Luft heut riecht, das den­ke ich noch, und erken­ne in die­sem Augen­blick zwei mensch­li­che Nasen, die dicht neben­ein­an­der auf dem Rücken einer Stras­sen­lam­pe sit­zen, sie sind sicher aus einem Buch gehüpft, das ich nicht lesen kann, weil es in rus­si­scher Spra­che auf­ge­schrie­ben wur­de, ich erin­ne­re mich, Gogol, nicht wahr, ich soll­te bald Gogols Nase lesen, auch soll­te ich ein wenig der rus­si­schen Spra­che lau­schen, um bald wie­der glück­lich ein­zu­schla­fen. — stop
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ein papiersegler

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ulys­ses : 17.52 UTC — Wie vie­le Geschich­ten habe ich in mei­nem Leben bereits ver­ges­sen? Es ist denk­bar, dass ich, wenn ich mich von Zeit zu Zeit an ver­ges­se­ne Geschich­ten erin­ne­re, mei­ne, sie sei­en umfas­send neue Geschich­ten. — stop

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von der stille

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hima­la­ya : 20.12 UTC — Ein­mal spa­zier­te ich durch New York an einem war­men Tag im April. Ich ging eini­ge Stun­den lang ohne ein Ziel nur so her­um, manch­mal blieb ich ste­hen und beob­ach­te­te dies oder das. Ich dach­te, New York ist ein ausge­zeich­neter Ort, um unter­zu­tau­chen, um zu ver­schwin­den, sagen wir, ohne aufzu­hören. Ich stell­te mir vor, wie ich in die­ser Stadt Jah­re spa­zie­ren wür­de und schau­en, mit der Sub­way fah­ren, auf Schif­fen, im Cen­tral Park lie­gen, in Cafés sit­zen, durch Brook­lyn wan­dern, ins Thea­ter gehen, ins Kino, Jazz hören, sein, anwe­send sein, gegen­wärtig, ohne aufzu­fallen. Ich könn­te exis­tieren, ohne je ein Wort zu spre­chen, oder viel­leicht nur den ein oder ande­ren höfli­chen Satz. Ich könn­te Nacht­mensch oder Tag­mensch sein, nie wür­de mich ein wei­te­rer Mensch für eine län­ge­re Zeit als für eine Sekun­de bemer­ken. Sehen und ver­ges­sen. Wenn ich also ein­mal ver­schwin­den woll­te, dann wür­de ich in New York ver­schwin­den, vor­sich­tig über Trep­pen stei­gen, jeden Rumor mei­den, den sensi­blen New Yor­ker Blick erler­nen, eine klei­ne Woh­nung suchen in einer Gegend, die nicht all­zu anstren­gend ist. In Green­wich Vil­la­ge viel­leicht in einer höhe­ren Eta­ge soll­te sie lie­gen, damit es schön hell wer­den kann über Schreib­tisch und Schreib­ma­schine. Ich könn­te dann von Zeit zu Zeit ein Tonband­gerät in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken und für einen oder zwei mei­ner Tage ver­zeich­nen, was Men­schen, die mir begeg­ne­ten, erzähl­ten. So ging ich damals dahin, ich glau­be, ich spa­zier­te im Kreis her­um, berühr­te da und dort die Küs­te eines Flus­ses, und als es Abend wur­de, besuch­te ich Mari­na Abra­mo­vic, die seit Mona­ten bereits in einem Saal des Muse­ums für moder­ne Kunst auf einem Stuhl saß. Wie sie Men­schen erwar­te­te, um mit ihnen gemein­sam zu schwei­gen, berüh­ren­de Stun­den, und ich dach­te und notier­te, wie ich heu­te wie­der notie­re, es geht dar­um, in der Begeg­nung mit Men­schen Zeit zu tei­len, es geht dar­um, die Zeit zu syn­chro­ni­sie­ren, in mei­nem Fal­le geht es dar­um, lang­sa­mer zu wer­den, um Men­schen in der Wirk­lich­keit nahe­kom­men zu kön­nen, es geht dar­um in die­ser rasen­den Welt von Still­stand, so lang­sam zu wer­den, und wenn es nur für weni­ge Stun­den ist, dass ein Gespräch, eine Berüh­rung, über­haupt mög­lich sein kann. Dar­an wie­der erin­nern, Tag für Tag. — Heu­te bin ich nicht in New York. Wo ich bin, schwebt ein dunk­ler, schla­fen­der Zep­pe­lin am Hori­zont, der mög­li­cher­wei­se bald auf­wa­chen und blit­zen wird. Ein schö­ner, nach­denk­li­cher Tag, wei­te­re schö­ne Tage wer­den fol­gen. Ich wer­de lang­sam lesen und lang­sam spre­chen, und den­ken wer­de ich so lang­sam wie nie zuvor. Ich wer­de die Emp­fin­dung der Zeit zur Geschmei­dig­keit über­re­den, ja, das ist vor­stell­bar, wei­che, war­me Stun­den. — stop

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sekundenglück

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romeo : 17.10 UTC — Ade­le, die in Süd­afri­ka gebo­ren wur­de, in Johan­nes­burg genau­er, in Sove­to, sitzt auf einer Bank der Cen­tral­sta­ti­on. Sie soll­te eigent­lich längst auf dem Weg zur Arbeit sein, es ist kurz nach zehn Uhr, statt­des­sen sitzt sie hier unter wei­te­ren Men­schen auf einer Bank und weint. Sie sagt, sie habe ihre Bril­le ver­ges­sen, ohne Bril­le kön­ne sie nicht arbei­ten, wenn sie heu­te nicht arbei­ten wür­de, wer­de das sehr schlim­me Fol­gen haben, man wür­de ihren Ver­trag nicht ver­län­gern, ohne Arbeit sei ihre Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung bald ver­wirkt, sie müs­se dann zurück nach Süd­afri­ka, ich könn­te mir gar nicht vor­stel­len, was das für sie bedeu­ten wür­de, des­halb wei­ne sie, des­halb sei sie ganz am Ende, nein, dass Lese­bril­len exis­tie­ren, die nicht ein­mal soviel kos­ten wie eine Wochen­zei­tung, das wuss­te sie nicht, das ist jetzt doch eine Über­ra­schung, die wun­der­bar ist, Bril­len gleich hier um die Ecke, Bril­len die stark sind, nein wirk­lich! Wie sie jetzt auf­springt, wie sie zunächst auf die Uhr blickt, dann auf die klei­ne Skiz­ze, die sie aus den Wör­tern pflück­te, die ich ihr erzähl­te, wie sie auf knall­ro­ten Turn­schu­hen los­rennt, wie sie mit einem Lächeln zurück in der Men­schen­men­ge ver­schwin­det, so viel Glück, dass die Luft zu knis­tern beginnt, soviel Glück. — stop

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