Aus der Wörtersammlung: wissen

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mr. blankfeins schweigen

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bamako : 6.45 — In der 37. Minu­te einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die von den Struk­tu­ren der Gold­man Sachs Bank erzählt, ereig­ne­te sich etwas sehr Merk­wür­di­ges. Lloyd Blank­fi­ne, Vor­stands­vor­sit­zen­der genau die­ser Bank, wur­de in einem Fern­seh­in­ter­view befragt. Ein äußerst scharf­zün­gi­ger Red­ner von hel­ler Stim­me, erkun­dig­te sich Mr. Blank­fi­ne zunächst bei dem Mode­ra­tor der Sen­dung, wie oft er ihn, Blank­fi­ne, im Fern­se­hen gese­hen habe? Nie! Wis­sen Sie was. Das war ver­mut­lich ein Feh­ler. Wir müs­sen uns jetzt bemü­hen, den Leu­ten zu erklä­ren, was wir tun. Sofort spitz­te sich die Lage zu. Der Mode­ra­tor der Sen­dung, der Mr. Blank­fi­ne unmit­tel­bar gegen­über­saß, parier­te mit­tels einer wei­te­ren Fra­ge, die der Ban­ker so nicht erwar­tet haben mag. Er for­mu­lier­te prä­zi­se: Ist es vor­ge­kom­men, dass ihre Invest­ment-Bera­ter einem Kun­den Anla­gen ver­kauft haben, gegen die Gold­man zur sel­ben Zeit spe­ku­lier­te? Nun geschah Fol­gen­des: Mr. Blankfine’s Augen wei­te­ten sich, er senk­te sei­nen Blick, setz­te zu einer Ant­wort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkenn­ba­ren Wor­tes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründ­lich, sie­ben Sekun­den lang, für eine übli­cher­wei­se äußerst schnell spre­chen­de und den­ken­de Per­son, die sich unter öffent­li­cher Beob­ach­tung weiß, ein bedeu­ten­der Zeit­raum. Ich habe die­se Sen­tenz des Gesprä­ches mehr­fach vor und zurück­ge­spielt, da mir Lloyd Blank­fi­ne in jenem Moment eine außer­or­dent­lich authen­ti­sche Per­sön­lich­keit gewe­sen zu sein schien. Ein Mensch, der nach ein­zel­nen Wör­tern such­te, nach einem ange­mes­se­nen Gedan­ken in sei­nem Kopf, weil sich bis­lang dort Sät­ze for­mu­lier­ten, die so auf­rich­tig waren, dass Mr. Blank­fi­ne sie nicht aus­spre­chen durf­te, um nicht für immer Scha­den zu neh­men, er selbst nicht und sei­ne Bank nicht. Ich beob­ach­te­te sein Gesicht. Drei­fach war Lid­schlag zu erken­nen, sei­ne Aug­äp­fel erweck­ten den Ein­druck, als wür­den sie wach­sen unter dem Druck eines Bli­ckes, der nicht ent­schei­den konn­te, ob er sich nach innen oder nach außen rich­ten soll­te, wäh­rend unge­heu­re, vor­be­wuss­te Rechen­leis­tung ent­fes­selt war, um viel­leicht doch einen Aus­weg zu fin­den. — stop
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quallenuhr

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ulys­ses

~ : oe som
to : louis
sub­ject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.

Ganz plötz­lich, lie­ber Lou­is, habe ich Lust bekom­men, Dir zu schrei­ben. Eigent­lich woll­te ich mich erst am kom­men­den Sams­tag mel­den, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu war­ten, ob er uns mit vol­ler Wucht tref­fen wird. Ver­mut­lich ist es die­se War­te­rei, die an unse­ren Ner­ven zerrt. Auch, dass die Tage wie­der kür­zer wer­den. Ges­tern haben wir einen Schwarm Tin­ten­fi­sche beob­ach­tet, der unser Schiff umkreis­te. Ein unge­wöhn­li­cher Anblick, die Tie­re waren schnee­weiß. Wir haben eini­ge gefan­gen, sie schme­cken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Man­deln. Beun­ru­hi­gend ist, dass sie weder über Her­zen noch Augen ver­fü­gen. Eine hal­be Nacht haben wir einen Fisch nach dem ande­ren durch­sucht. Als wir kein Exem­plar mehr hat­ten, um unse­re Suche fort­set­zen zu kön­nen, ist Mil­ler mit dem Bei­boot los­ge­fah­ren. Fast wind­still ist es hier unten auf Höhe des Mee­res, weit oben jedoch rasen­de Wol­ken von West nach Ost. Ja, lie­ber Lou­is, wir durch­le­ben schwie­ri­ge Tage. Und Noe, unser Noe in der Tie­fe, ist von Fie­ber befal­len. Wir haben ihn gut 150 Fuß ange­ho­ben, damit er Licht sehen kann. Seit meh­re­ren Stun­den wie­der­holt er eine klei­ne Geschich­te, von der wir nicht wis­sen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stel­le sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von aller­feins­ter Qual­len­haut, ein Zim­mer von Was­ser, ein Zim­mer von Salz, ein Zim­mer von Licht. Man könn­te die­ses Zim­mer, und alles, was sich im Zim­mer befin­det, das Qual­len­bett, die Qual­len­uhr, und all die Qual­len­bü­cher und auch die Schreib­ma­schi­nen von Qual­len­haut, trock­nen und fal­ten und sich 10 Gramm schwer in die Hosen­ta­sche ste­cken. Und dann geht man mit dem Zim­mer durch die Stadt spa­zie­ren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaf­fee­haus und war­tet. Noe sitzt also ganz still und zufrie­den unter einer Ven­ti­la­tor­ma­schi­ne an einem Tisch, trinkt eine Tas­se Kakao und lächelt und ist gedul­dig und sehr zufrie­den, weil nie­mand weiß, dass er ein Zim­mer in der Hosen­ta­sche mit sich führt, ein Zim­mer, das er jeder­zeit aus­pa­cken und mit etwas Was­ser, Salz und Licht, zur schöns­ten Ent­fal­tung brin­gen könn­te. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zim­mer vor, ein freund­li­ches, hel­les Zim­mer von feins­ter Qual­len­haut. — Bes­te Grü­ße. Ahoi. Dein OE SOM

gesen­det am
12.09.2012
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oe som to louis »

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PRÄPARIERSAAL : xiangs momentaufnahme

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nord­pol : 8.27 — Xiang, 24, notiert in einer E‑Mail über Musik und Ana­to­mie – zwei Begrif­fe, die auf den ers­ten Blick unver­ein­bar schei­nen. Aber je län­ger ich dar­über nach­den­ke, des­to deut­li­cher erken­ne ich eine mög­li­che Ver­bin­dung. Sicher ist es das The­ma des Todes, dass die Musik dort domi­nie­ren wür­de, sodass mir spon­tan Beset­zun­gen wie Orgel (all­mäch­ti­ger Cha­rak­ter), Xylo­fon (Käl­te, Leb­lo­sig­keit) oder Chor (Toten­kla­ge) ein­fal­len. Ich kann mir ent­we­der sehr alte Musik­sti­le, wie Gre­go­ria­nik und Früh­ba­rock, oder Musik des 20./21. Jahr­hun­derts vor­stel­len, z. B. John Cage oder Geor­ge Crumb, deren Inten­ti­on immer­hin gera­de in einer gewis­sen Absur­di­tät, Grenz­über­schrei­tung, bzw. in gewoll­ter Ent­fer­nung von der Ästhe­tik der Wirk­lich­keit zu fin­den ist. Gera­de die­ses Moment prägt die Atmo­sphä­re des Prä­pa­rier­saa­les: eine zwar arti­fi­zi­el­le, jedoch nicht pri­mär ästhe­ti­sche Arbeit an mensch­li­chen Kör­pern, die durch den Tod und den Vor­gang des Halt­bar-Machens von einem Indi­vi­du­um zu einem Prä­pa­rat ver­wan­delt wur­den, sodass Zeit­lo­sig­keit an die Stel­le dyna­mi­schen Lebens getre­ten ist. Es ist nicht leicht an Musik in die­sem Zusam­men­hang zu den­ken, da sich Musik gera­de durch ihren ewi­gen Fluss, ihre im Inne­ren gebor­ge­ne Leben­dig­keit aus­zeich­net, ihre See­le, die nie­mals ster­ben kann, selbst dann nicht, wenn noch so vie­le Ver­su­che unter­nom­men wer­den, sie in Moment­auf­nah­men zu kon­ser­vie­ren. — stop

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august august

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alpha : 1.02 — Der 23. August. Gewit­ter plus­tern sich über dem Haus. Ich bin ein wenig unru­hig, weil ich mich einem beson­de­ren Tag nähe­re. Ich habe für die­sen beson­de­ren Tag in mei­nem digi­ta­len Kalen­der vor bei­na­he fünf Jah­ren fol­gen­den Satz ver­merkt: Tru­man kehrt zurück! Noch drei Näch­te, dann ist es so weit, Tru­man wird zurück­ge­kehrt sein und mir viel­leicht auf eine Fra­ge ant­wor­ten, die ich ihm gestellt hat­te. Ein Par­tic­le aus dem Som­mer des Jah­res 2007 erzählt davon: > Frü­her Abend. Sehr hei­ße Luft. Ich wün­sche zu wis­sen, ob Geschöp­fe, die über 5 Bein­paa­re ver­fü­gen, noch als Käfer anzu­se­hen sind. Also schrei­be ich einem Freund eine E‑Mail. Kaum habe ich mei­ne Fra­ge notiert, abge­schickt und mich erho­ben, um etwas die Bei­ne zu ver­tre­ten, kommt mit einem Ping­ge­räusch sei­ne Ant­wort: Bin zurück > Sonn­tag, 26. August 2012. Haben Sie eine gute Zeit. Tru­man. — Es ist jetzt bei­na­he 5 Jah­re spä­ter. Und wie­der die Fra­ge: Habe ich die­se Geschich­te erfun­den? — stop

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schimpansen

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ulys­ses : 2.18 — Im Traum an Vaters Grab. Hat­te von der Ankunft des 200 Jah­re alte Kreu­zes erfah­ren, das wir Schmie­den zur Restau­ra­ti­on über­ge­ben haben. Als ich mich der Grab­stel­le nähe­re, ent­de­cke ich Mut­ter, die mit zwei wil­den Män­nern dis­ku­tiert, sie knien in der Nähe des Gra­bes auf dem Boden. Bei­de tra­gen schwe­re Schür­zen von Leder und sind behaart und ihre Ohren glü­hen und damp­fen in der feuch­ten Luft. Mut­ter will wis­sen, war­um die Schmie­de das Kreuz, das sie anlie­fer­ten, der­art tief in den Boden ver­senk­ten, dass nur noch sei­ne ver­gol­de­te Spit­ze zu sehen ist. Die Män­ner lachen fröh­lich. Das sei in Afri­ka so üblich, ant­wor­ten sie, weil wil­de Tie­re bevor­zugt an Kreu­zen die­ser his­to­ri­schen Sor­te ihr Fell rei­ben wür­den, und zwar so lan­ge, bis von dem Kreuz Vaters bald nichts mehr übrig sei. Immer wie­der deu­ten sie in den Baum, der den Grab­hü­gel über­schat­tet. Die Eiche blüht wie ein Kirsch­baum. Schim­pan­sen sit­zen in der Kro­ne und flet­schen ihre Zäh­ne. Mut­ter indes­sen beginnt, das Kreuz mit blo­ßen Hän­den wie­der aus­zu­gra­ben. — stop

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engelware

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nord­pol : 6.50 — Fan­gen wir noch ein­mal von vorn an. stop. Jener war­me Som­mer­tag. stop. Mein Vater trägt hel­le Hosen, ein wei­ßes Hemd, Turn­schu­he, Hosen­trä­ger. Immer wie­der erhebt er sich, geht über­le­gend auf und ab, weil ich ihm Fra­gen stel­le, vie­le, schwie­ri­ge Fra­gen. An eine die­ser Fra­gen kann ich mich noch gut erin­nern. Ich woll­te wis­sen, ob es grund­sätz­lich mög­lich sei, die Dau­er eines Momen­tes mathe­ma­tisch in einer For­mel dar­zu­stel­len, in wel­chem ein Trop­fen, der von einem Was­ser­spiel gegen den Him­mel gewor­fen wird, in der Luft ver­harrt, ohne sich wei­ter auf­wärts oder schon abwärts zu bewe­gen, also ohne Schwe­re ist. Lei­der kann ich mich an die Ant­wort mei­nes Vaters nicht erin­nern, aber an eine Geschich­te, die mein Vater an genau jenem Tag der Was­ser­trop­fen erzähl­te. Die­se Geschich­te han­del­te von mir selbst. Sie soll sich ereig­net haben, als ich noch sehr jung und klein gewe­sen war. Ich konn­te damals schon lau­fen und spre­chen, das wohl, und ich wuss­te, dass Weih­nachts­fes­te sich wie­der­ho­len, dass zur hei­li­gen Nacht Geschen­ke unter einem Baum zu fin­den sind, und dass die­se Geschen­ke von Engeln her­bei­ge­bracht wer­den. Der Geschich­te mei­nes Vaters zur Fol­ge kau­er­te ich an einem Dezem­ber­tag meh­re­re Stun­den vor einem Fens­ter zum Gar­ten. Schnee war gefal­len und es schnei­te immer wei­ter ohne Unter­bre­chung. Mei­ne Eltern beob­ach­te­ten mich genau, sie wun­der­ten sich, weil ich mich kaum beweg­te und weil ich in mei­ner Obser­va­ti­on der Schnee­land­schaft kei­ne Pau­sen mach­te. Nach einer gewis­sen Zeit kam mein Vater zu mir. Er frag­te, was ich da tue, ob ich viel­leicht etwas Beson­de­res ent­deckt haben wür­de. Ich ant­wor­te­te, dass ich auf das Erschei­nen eines Engels war­ten wür­de. Wie ich denn dar­auf kom­me, dass ich gera­de an die­sem Tag oder über­haupt je einen Engel sehen kön­ne, woll­te mein Vater wis­sen. Ich erklär­te, dass ich hör­te, jene Geschen­ke, die bald unter unse­rem Weih­nachts­baum lie­gen wür­den, sei von Engeln gelie­fer­te Ware, ich kön­ne also sicher sein, dass Engel den Luft­raum vor dem Fens­ter zum Wohn­zim­mer in Stun­den­zeit pas­sie­ren wür­den, ich müss­te nur lan­ge genug war­ten, um die Erschei­nung eines oder meh­re­rer Engel beob­ach­ten zu kön­nen. Eine Wei­le, erzähl­te mein Vater, habe er sich dann neben mich gesetzt, zwei gedul­di­ge Beob­ach­ter des Schnees, Schul­ter an Schul­ter. — stop

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zeit

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india : 0.05 — Saß an einem Som­mer­tag mit mei­nem Vater am Ufer eines Sees. Mein Vater trug hel­le Hosen, ein wei­ßes Hemd, Turn­schu­he und Hosen­trä­ger. Immer wie­der erhob er sich, ging über­le­gend auf und ab, weil ich ihm Fra­gen stell­te, vie­le, schwie­ri­ge Fra­gen. An eine die­ser Fra­gen kann ich mich noch gut erin­nern. Ich woll­te wis­sen, ob es grund­sätz­lich mög­lich sei, die Dau­er jenes Momen­tes mathe­ma­tisch in einer For­mel dar­zu­stel­len, in wel­chem ein Trop­fen, der von einem Was­ser­spiel gegen den Him­mel gewor­fen wird, in der Luft ver­harrt, ohne sich wei­ter auf­wärts oder schon abwärts zu bewe­gen, also ohne Schwe­re ist. Lei­der kann ich mich an die Ant­wort mei­nes Vaters nicht erin­nern, aber an eine Geschich­te, die mein Vater an genau jenem Tag der Was­ser­trop­fen erzähl­te. Die­se Geschich­te han­del­te von mir selbst. Sie soll sich ereig­net haben, als ich noch sehr jung und klein gewe­sen war. Ich wer­de sie mor­gen erzäh­len, weil sich gera­de ein groß­ar­ti­ges Gewit­ter ereig­net. — stop

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stimmen

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nord­pol : 22.08 — Ges­tern habe ich bemerkt, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stim­me mei­nes Vaters erin­nern konn­te. Wie ich auch such­te, ich fand sie nicht. Ich war natür­lich sehr erschro­cken gewe­sen. Anstatt der Stim­me mei­nes Vaters, hör­te ich die Stim­me des gro­ßen Erzäh­lers Isaak B. Sin­ger, eine hel­le und zugleich raue Stim­me, die der Stim­me mei­nes Vaters sicher ähnel­te. Ich hat­te vor ein oder zwei Jah­ren Sin­gers Stim­me in einem Film­in­ter­view gehört. Foto­gra­fien zei­gen den alten Mann spa­zie­rend am Atlan­tik. Auch mein Vater war mehr­fach in Brigh­ton Beach gewe­sen, wenn ich nicht irre. Plötz­lich kehr­te die Erin­ne­rung an die Stim­me mei­nes Vaters zurück. Isaac B. Sin­gers Geschich­te im Übri­gen geht so: Kurz nach mei­ner Ankunft (in Ame­ri­ka) betrat ich zum ers­ten Mal eine Cafe­te­ria, ohne zu wis­sen, was das ist. Ich hielt es für ein Restau­rant. Ich sah lau­ter Leu­te mit Tabletts und frag­te mich, war­um man in so einem klei­nen Restau­rant so vie­le Kell­ner brauch­te. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vor­bei­kam, ein Zei­chen. Ich hielt sie alle für Kell­ner und woll­te etwas bestel­len. Aber sie igno­rier­ten mich, man­che lächel­ten auch. Und ich dach­te, was für ein unwirk­li­cher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein klei­nes Café mit so vie­len Kell­nern, und nie­mand beach­tet mich! Irgend­wann begriff ich dann, was eine Cafe­te­ria ist. Sie wur­de mein zwei­tes Zuhau­se. Die Cafe­te­ri­en wur­den eine Art Zuhau­se für Flücht­lin­ge aus Polen, Russ­land und ande­ren Län­dern. Vie­le mei­ner Geschich­ten spie­len in Cafe­te­ri­en, wo all die­se Men­schen auf­ein­an­der­tra­fen: die Nor­ma­len, die weni­ger Nor­ma­len und die Ver­rück­ten. Das ist also der Hin­ter­grund mei­ner Geschich­ten, die in Cafe­te­ri­en spie­len. – stop
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apfelohren

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del­ta : 6.35 — Ges­tern hab ich eine lus­ti­ge E‑Mail bekom­men. Sie war irgend­wann, wäh­rend ich schlief, auf mei­nem Com­pu­ter laut­los ein­ge­trof­fen. Die Per­son, die mir geschrie­ben hat­te, woll­te wis­sen, wie ich vor­ge­he, wenn ich nachts einen Apfel oder eine Apri­ko­se oder Bana­nen belau­sche. Ich hat­te zunächst eini­ge trif­ti­ge Grün­de auf die­se Fra­ge nicht ein­zu­ge­hen, gera­de auch des­halb, weil der Absen­der der E‑Mail, einen selt­sa­men Namen ange­ge­ben hat­te, des­sen Exis­tenz ich über die Goog­le – Such­ma­schi­ne ver­geb­lich zu prü­fen such­te. Aber dann schien mir doch reiz­voll zu sein, dem Absen­der der E‑Mail zu ant­wor­ten. Ich notier­te kurz und bün­dig, dass ich, wenn ich einen Apfel belau­sche, den Apfel in eine mei­ner Hän­de neh­me, um ihn tat­säch­lich an eines mei­ner Ohren zu füh­ren. Was man, wenn man in die­ser Wei­se vor­geht, hören kann, ist natür­lich zunächst das Rau­schen des Blu­tes in den eige­nen Ohr­ge­fä­ßen, sonst aber nichts, abge­se­hen von Geräu­schen viel­leicht, die man sich gründ­lich vor­zu­stel­len ver­mag, Geräu­schen orga­ni­schen Zer­falls zum Bei­spiel, einem Pfei­fen, einem Sau­sen oder den Beiß­ge­räu­schen eines Wurm­kie­fers in grö­ße­rer Apfel­tie­fe. Ich attes­tier­te in einem Ant­wort­schrei­ben sehr ernst­haft, dass ein Apfel ein stil­les Wesen sei, immer­hin habe ich nicht nur einen, ich habe min­des­tens fünf Äpfel belauscht, Bir­nen, Trau­ben, Bana­nen, Pfir­si­che, alle sind sie ohne tat­säch­li­che Geräu­sche in den Fre­quen­zen mensch­li­chen Hör­ver­mö­gens. Dafür leg ich eine Hand ins Feu­er, jawohl, es ist Mon­tag: Rasen­de Wol­ken. — stop

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zerstreuung

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mari­ma­ba : 6.36 — In einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die den Schrift­stel­ler Jona­than Fran­zen fünf Tage lang wäh­rend einer Lese­rei­se beglei­tet, fol­gen­de berüh­ren­de Sze­ne, die sich im New Yor­ker Arbeits­zim­mer des Autors ereig­net. Jona­than Fran­zen hält sei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein preis­wer­tes Dell – Note­book, vor das Objek­tiv der Kame­ra. Er deu­tet auf eine Stel­le an der Rück­sei­te des Gerä­tes, dort soll frü­her ein­mal ein Fort­satz, eine Erhe­bung zu sehen gewe­sen sein. Er habe die­sen Fort­satz eigen­hän­dig abge­sägt. Es han­del­te sich um eine Buch­se für einen Ste­cker. Man konn­te dort das Inter­net ein­füh­ren, also eine Ver­bin­dung her­stel­len zwi­schen der Schreib­ma­schi­ne des Schrift­stel­lers und der Welt tau­sen­der Com­pu­ter da drau­ßen irgend­wo. Jona­than Fran­zen erklärt, er habe sei­nen Com­pu­ter bear­bei­tet, um der Ver­su­chung, sich mit dem Inter­net ver­bin­den zu wol­len, aus dem Weg zu gehen. Eine über­zeu­gen­de Tat. Im Moment, da ich die­se Sze­ne beob­ach­te, bemer­ke ich, dass die Ver­füg­bar­keit von Infor­ma­ti­on zu jeder Zeit auch in mei­nem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zer­streu­ung, Belie­big­keit erzeu­gen kann. Ich schei­ne in den Zei­chen, Bil­dern, Fil­men, die her­ein­kom­men, flüs­sig zu wer­den. Dage­gen ange­neh­me Gefüh­le, wenn ich die abge­schlos­se­ne Welt eines Buches in Hän­den hal­te. Frü­her ein­mal, sobald ich spa­zie­ren ging oder auf eine Rei­se, zur Arbeit, ins Thea­ter oder sonst wohin, ver­ließ ich nie­mals das Haus, ohne eines mei­ner zer­schlis­se­nen Unter­wegs­bü­cher mit mir zu neh­men. Wenn ich ein­mal doch kein Buch in der Hand oder Hosen­ta­sche bei mir hat­te, sofort das Gefühl, unbe­klei­det oder von Lee­re umge­ben zu sein. Als ob ich einen immer­wäh­ren­den Aus­weg in mei­ner Nähe wis­sen woll­te, ein Zim­mer von Wör­tern, in das ich mich jeder­zeit, manch­mal nur für Minu­ten, zurück­zie­hen konn­te, um fest zu wer­den. Da waren also Bücher von Mal­colm Lowry, Kenzabu­ro Oe, Tru­man Capo­te, Frie­de­ri­ke May­rö­cker, Wal­ter Ben­ja­min, Janet Frame, Georg C. Lich­ten­berg, Hein­rich von Kleist, Moni­ka Maron, Alex­an­der Klu­ge, Boho­u­mil Hra­bal, Johann Peter Hebel, Patri­cia High­s­mith, Eli­as Canet­ti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger. Irgend­wann, weiß der Teu­fel war­um, hör­te ich auf damit. Und doch tra­ge ich noch immer ein Buch in mei­ner Nähe. Ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher nicht län­ger in der Hand, ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher im Ruck­sack auf dem Rücken. — stop

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