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downtown south ferry : lorra

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nord­pol : 0.22 — Elends­men­schen unter Decken, unter Män­teln, unter Papp­kar­tons ver­bor­ge­ne Per­so­nen­we­sen, zer­schla­ge­ne, gefro­re­ne, eitern­de Gesich­ter zu Tau­sen­den auf der Stra­ße, in Tun­nels, Haus­ein­gän­gen, Parks. Ich kann nicht erken­nen, ob sie Frau­en oder Män­ner sind, sie spre­chen und bewe­gen sich nicht, oder nur sehr lang­sam, als wür­den sie sich in einer ande­ren Zeit befin­den. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu spre­chen ver­fügt, wan­dert in der Sub­way, eine äußerst schwie­ri­ge Arbeit, das Erzäh­len immer wie­der ein und der­sel­ben Geschich­te: Guten Abend, mei­ne Damen und Her­ren! Ich bit­te um ihre Auf­merk­sam­keit! Ich bin Lor­ra, ich bin 32 Jah­re alt, ich bin woh­nungs­los, ich habe kei­ne Arbeit, ich habe Kin­der, wir müs­sen über den Win­ter kom­men. Von Wagon zu Wagon. Von Zug zu Zug. Stun­de um Stun­de. Sie nimmt auch zu Essen, zu Trin­ken, Papier oder lee­re Fla­schen an. Alles hilft, sagt Lor­ra, alles hilft. Sie wird nicht ver­höhnt, ver­trie­ben oder miss­ach­tet, sie bekommt, so oft ich ihr in der Linie 5 down­town South Fer­ry begeg­ne­te, zwei oder drei Dol­lar über­reicht. Abends sitzt sie im War­te­saal der Fäh­re und schläft. Ein­mal nähert sich ein Poli­zist. Lor­ra war ein wenig zur Sei­te gefal­len. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schul­ter: Mam, ist alles in Ord­nung? Aber Lor­ra ant­wor­tet nicht. Ein zwei­ter Poli­zist kommt hin­zu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie rich­ten die schla­fen­de Frau gemein­sam auf. Sie tra­gen jetzt Hand­schu­he von Plas­tik. Sie spre­chen solan­ge lei­se auf Lor­ra ein, bis sie die Augen öff­net. Dann macht sie die Augen wie­der zu. — stop

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manhattan midtown — käfer der stille

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echo : 0.18 — Wie vie­le Cent wür­den Käfer kos­ten, die sich in mei­ne Ohren schmie­gen und von der Stil­le sum­men? In wel­cher Art Woh­nung hau­sen Käfer, die von der Stil­le erzäh­len? Was und wie viel wür­den sie fres­sen? Sind Orte bekannt, da ihre Lieb­lings­spei­sen zur Abho­lung lagern? Leben Käfer der Stil­le für sich oder leben sie in Grup­pen? All die­se Fra­gen! All die­se Fra­gen! — Ich habe ein klei­nes Loch in den Zei­ge­fin­ger­strumpf mei­nes rech­ten Hand­schuhs fabri­ziert, um in der Käl­te mei­ne iPad Touch — Schreib­ma­schi­ne bedie­nen zu kön­nen. Aber es ist warm gewor­den in New York. 15 ° C. Regen. Alles dampft. Auf den Dächern der Häu­ser schnur­ren die Tur­bi­nen. — stop

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manhattan : subwayaugen

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tan­go : 0.02 — Ich fah­re in der Sub­way, ein Buch in Hän­den, in oder über der Stadt unter Men­schen sit­zend dahin und bän­di­ge mei­nen Blick. Ich kann nun tat­säch­lich lesen, also abwe­send sein. Oder ich kann so tun, als ob ich lesen wür­de. In die­sem Fall betrach­te ich Buch­sta­ben oder die Sei­te eines Buches und ihre Zei­chen oder das Buch ins­ge­samt. Ande­re, die in mei­ner Nähe rei­sen, betrach­ten ihre Hän­de oder ihr Tele­fon oder eine Zei­tung. Wie­der ande­re lesen in der Zei­tung, sind dem­zu­fol­ge tat­säch­lich nicht anwe­send oder nur zum Teil anwe­send, wäh­rend ein Auge den Zei­len folgt, trach­tet das ande­re Auge nach innen gerich­tet in den kom­men­den Abend oder auf den ver­gan­ge­nen Mor­gen zurück. Ges­tern, auf der Fahrt mit der Linie D von der 96. Stra­ße West nach Coney Island,  habe ich ein sehr schö­nes Buch beob­ach­tet. E.B.Whites Essay Here is New York. stopRegen. stop. Es ist warm gewor­den. Man­che New Yor­ker tra­gen Som­mer­klei­dung für einen Tag, ande­re Hand­schu­he. In der Däm­me­rung in den Pfüt­zen der Stra­ßen wie­der blin­ken­de, damp­fen­de Hun­de, künst­li­che Licht­na­tu­ren. Gespens­ter. — stop

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upper east side : mail

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india : 2.08 — Im 22. Stock des Hau­ses in Man­hat­tan, in dem ich woh­ne, befin­det sich vor Auf­zü­gen ein Brief­kas­ten der United Sta­tes Pos­tal Ser­vices, ein Schlitz, der in die Wand ein­ge­las­sen wur­de, ein guss­ei­ser­ner Mund, genau­er, mit einem schwe­ren Häub­chen von roter Far­be. Ich war im Postof­fice an der Penn Sta­ti­on gewe­sen, um eine Brief­mar­ke zu besor­gen und einen Brief­um­schlag, eine Post­kar­te hat­te ich schon, sie zeigt eine Foto­gra­fie der Mund­har­mo­ni­ka Jack Kerou­acs. Ich habe nun Fol­gen­des unter­nom­men. Ich habe auf die Post­kar­te einen Satz für mich selbst notiert, der natür­lich geheim blei­ben muss. Dann habe ich die Post­kar­te in den Brief­um­schlag gesteckt, mei­ne Adres­se notiert und den Brief in den klei­nen Mund vor den Auf­zü­gen gesteckt. In dem Moment, da ich den Brief aus den Hän­den in die Tie­fe glei­ten ließ, mein Ohr hat­te ich dicht an den Schlitz her­an­ge­führt, war kein Geräusch zu hören gewe­sen, als ob der Brief in einem Nichts ver­schwin­den wür­de. — Spa­ziert im Cen­tral Park. Leich­ter Regen. Eine Stadt vol­ler Men­schen unter Schir­men, die mit­ein­an­der zu spre­chen schei­nen. – stop

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saint george ferry terminal : tiefseeelefanten

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echo : 0.02 — Ges­tern, Diens­tag, 24. Janu­ar, hat­te ich Gele­gen­heit mich genau so zu ver­hal­ten, als wür­de ich schla­fen, obwohl ich doch hell­wach gewe­sen war. War in der zen­tra­len Hal­le des Saint Geor­ge Fer­ry Ter­mi­nals, erin­ner­te mich an einen Traum, den ich vor zwei Jah­ren erleb­te. Ich war­te­te in die­sem Traum an einem spä­ten Abend an genau der­sel­ben Stel­le auf das nächs­te Schiff nach Man­hat­tan zurück. Ich war­te­te lan­ge, ich war­te­te die hal­be Nacht, begeis­tert vom Anblick einer Her­de fili­gra­ner Tief­see­ele­fan­ten, die über den hell­san­di­gen Boden eines Aqua­ri­ums wan­der­ten. Sie hat­ten ihre meter­lan­gen Rüs­sel zur Was­ser­ober­flä­che hin aus­ge­streckt, such­ten in der küh­len Luft her­um und berühr­ten ein­an­der in einer äußerst zärt­li­chen Art und Wei­se. Ein fas­zi­nie­ren­des Geräusch war zu hören gewe­sen, sobald ich eines mei­ner Ohren an das haut­war­me Glas des Gehe­ges leg­te. Und auch ges­tern war­te­te ich wie­der lan­ge Zeit und beob­ach­te­te den san­di­gen Boden des Aqua­ri­ums, von dem ich geträumt hat­te. Von Zeit zu Zeit, nicht ganz wach und nicht im Schlaf, war das Signal­horn eines Fähr­schiffs zu hören. Glück­li­che Stun­den. — stop

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staten island : ans ende der Welt

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sier­ra : 0.10 — In einem Zug der Sta­ten Island Rail­way ans Ende der Welt durch bors­ti­ge Land­schaft. Ort­schaf­ten, die sich ähn­lich sind, Häu­ser von Holz, ein oder zwei Stock­wer­ke hoch, hel­le Far­ben, Gär­ten, klein und von Holz­wän­den umzäunt, als woll­ten die Bewoh­ner die­ser selt­sa­men Gegend ein­an­der nicht sehen, nicht hören. Kirch­turm­spit­zen, Tank­stel­len, Fabri­ken, Stra­ßen ohne Ende, eine eiser­ne Wild­nis, in wel­cher Öltanks und Schrott­ber­ge wie Pil­ze aus kar­gen Wäl­dern wach­sen. Durch die­se Men­schen­land­schaft schau­kelt der Zug, dass man sich fest­hal­ten muss. Auf einem Schiffs­dock liegt ein Schau­fel­rad­damp­fer, den ich sofort mit mir neh­men wür­de, wenn ich ihn in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken könn­te. Frie­ren­de Men­schen stei­gen ein und frie­ren wei­ter. Aus einer Tasche ragt die damp­fen­de Schwanz­flos­se eines gekoch­ten Fisches. Kon­duk­teu­re wan­dern von Abteil zu Abteil, schla­gen Eis von den Türen. Und da ist die­ser wil­de Kerl, läuft rufend und sin­gend im Wagon auf und ab. Gefro­re­ne Möwen fal­len vom Him­mel. Tomp­kins­ville. Gre­at Kills. Atlan­tic. — stop

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south ferry : durchleuchtung

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kili­man­dscha­ro : 0.15 — Leich­ter Schnee­fall, im Bus durch Brook­lyn gereist. Ich hat­te die Fahr­zeit genützt, um Beob­ach­tun­gen, die ich auf der Sta­ten Island Fäh­re hand­schrift­lich notier­te, in mein Note­book zu über­tra­gen. Mehr­fach schrieb ich das Wort Spreng­stoff in eine Datei. Abends war­te­te ich auf das letz­te Schiff, das ich an die­sem Tag noch neh­men woll­te. Ich saß gera­de auf einer Bank, als sich einer der Spreng­stoff­spür­hun­de, die ich Stun­den zuvor noch beob­ach­tet hat­te, näher­te. Prä­zi­se for­mu­liert, näher­te sich der Hund nicht mir selbst, son­dern mei­nem Ruck­sack, in dem mei­ne Schreib­ma­schi­ne ruh­te. Er leg­te sich auf den Boden und schau­te mich an, nicht unfreund­lich, wie auch der Poli­zist, der dem Hund gefolgt war, mich wohl­wol­lend mus­ter­te. Sir, sag­te er, Sir! We hope for your coope­ra­ti­on! Seit­her stel­le ich mir Fra­gen, die doch erstaun­lich sind. – stop

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downtown manhattan : concerto No 5

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nord­pol : 0.01 — Don­ners­tag, spä­ter Abend. Mrs. Lil­lue spielt Mozarts Vio­lin Con­cer­to No 5. Schwe­re Schnee­flo­cken schau­keln vom dunk­len Him­mel. Eisi­ge Käl­te da drau­ßen über der Upper Bay, in der War­te­hal­le Whi­te­hall Fer­ry Ter­mi­nal aber ist es warm und die Luft so tro­cken, dass Mrs. Lil­lue ihren Man­tel ablegt. Sie trägt jetzt ein dun­kel­grü­nes Kleid, das bis zum Boden reicht und feu­er­ro­te Turn­schu­he. Ein schwar­zer Jun­ge sitzt in ihrer Nähe auf sei­nem Bas­ket­ball und hört ihr zu mit erns­tem Gesicht. Kaum ein wei­te­rer Laut zu hören, obwohl hun­der­te Men­schen dar­auf war­ten, auf das nächs­te Schiff tre­ten zu dür­fen, das gleich anle­gen wird. In die­sem Moment nähert sich eine zier­li­che alte Frau der Künst­le­rin. Sie ist bei­na­he durch­sich­tig, so hell ihre Haut, so hell ihre Augen, und auch ihre Stim­me so hell, dass man sie kaum noch ver­neh­men kann. Sie will wis­sen, wie alt die  Gei­ge sei auf der Mrs. Lil­lue spielt? Wie sich die alte Frau soweit streckt bis sie auf den Spit­zen ihrer Zehen zu ste­hen kommt, um mit dem Rücken ihrer Hand über das Holz des Instru­ments zu strei­chen. — stop

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greenwich village : verschwinden

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echo : 0.12 — New York ist ein aus­ge­zeich­ne­ter Ort, um unter­zu­tau­chen, zu ver­schwin­den, sagen wir, ohne auf­zu­hö­ren. Ich stell­te mir vor, wie ich in die­ser Stadt Jah­re spa­zie­ren wür­de und schau­en, mit der Sub­way fah­ren, auf Schif­fen, im Cen­tral Park lie­gen, in Cafés sit­zen, durch Brook­lyn wan­dern, ins Thea­ter gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwe­send sein, gegen­wär­tig, ohne auf­zu­fal­len. Ich könn­te exis­tie­ren, ohne je ein Wort zu spre­chen, oder viel­leicht nur den ein oder ande­ren höf­li­chen Satz. Ich könn­te Nacht,- oder Tag­mensch sein, nie wür­de mich ein wei­te­rer Mensch für eine län­ge­re Zeit als für eine Sekun­de bemer­ken. Sehen und ver­ges­sen. Wenn ich also ein­mal ver­schwin­den woll­te, dann wür­de ich in New York ver­schwin­den, vor­sich­tig über Trep­pen stei­gen, jeden Rumor mei­den, den sen­si­blen New Yor­ker Blick erler­nen, eine klei­ne Woh­nung suchen in einer Gegend, die nicht all­zu anstren­gend ist. In Green­wich Vil­la­ge viel­leicht in einer höhe­ren Eta­ge soll­te sie lie­gen, damit es schön hell wer­den kann über  Schreib­tisch und Schreib­ma­schi­ne. Ich könn­te dann von Zeit zu Zeit ein Ton­band­ge­rät in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken und einen oder zwei mei­ner Tage ver­zeich­nen, nur so zur Vor­sicht, um nach­zu­hö­ren, ob ich nicht viel­leicht schon zu einer selbst­spre­chen­den Maschi­ne gewor­den bin. — stop
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