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nachtorte

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ulys­ses : 1.15 — Und träu­me von frü­her. Als die Zeit noch eine Figur war, die eine Rol­le spiel­te. Damals dach­te ich, dass, wenn bei uns Tag war, wir die Nacht auf der ande­ren Sei­te der Welt bewach­ten. Bis mir klar wur­de, dass wir ihren Schlaf nicht bewach­ten, son­dern sie im Schlaf aus­raub­ten. Dann bin ich auf­ge­wacht. — Die­se Beob­ach­tung habe ich in einer Text­samm­lung Ali­s­sa Walsers ent­deckt: Von den Tie­ren im Notie­ren. Kur­ze Zeit spä­ter, auf dem Weg zum Fens­ter, erin­ner­te ich mich an das Muse­um der Nacht­häu­ser, das sich am Shore Bou­le­vard nörd­lich der Hell Gates Bridge befin­det, die den New Yor­ker Stadt­teil Queens über den East River hin­weg mit Rand­alls Island ver­bin­det. Ich weiß nicht, ob das Muse­um noch immer exis­tiert, es war oder ist ein recht klei­nes Haus, rote Back­stei­ne, ein Schorn­stein, der an einen Fabrik­schlot erin­nert, ein Gar­ten, in dem ver­wit­ter­te Apfel­bäu­me ste­hen, und der Fluss so nah, dass man ihn rie­chen konn­te. Wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges, zufäl­lig, ent­deck­te ich die­ses Muse­um, von dem ich nie zuvor hör­te. Es war ein spä­ter Nach­mit­tag, ich muss­te etwas war­ten, weil das Muse­um nicht vor Ein­bruch der Däm­me­rung öff­nen wür­de, ein Muse­um für Nacht­men­schen eben, die in Nacht­häu­sern woh­nen, wel­che erfun­den wor­den waren, um Nacht­men­schen art­ge­rech­tes Woh­nen zu ermög­li­chen. Als das Muse­um dann end­lich öff­ne­te, war ich schon etwas müde gewor­den, und weil ich der ein­zi­ge Besu­cher gewe­sen, führ­te mich ein jun­ger Mann per­sön­lich her­um. Er war sehr gedul­dig, war­te­te, wenn ich wie wild in mein Notiz­buch notier­te, weil er span­nen­de Geschich­ten erzähl­te von jenen merk­wür­di­gen Gegen­stän­den, die in den Vitri­nen des Muse­ums ver­sam­melt waren. Von einem die­ser Gegen­stän­de will ich kurz berich­ten, von einem metal­le­nen Wesen, das mich an eine Kreu­zung von Gecko und Spin­ne erin­ner­te. Das ver­ros­te­te Ding war von der Grö­ße eines Schuh­kar­tons. An je einer Sei­te des Objekts saßen Bei­ne fest, die über Saug­näp­fe ver­füg­ten, eine Kame­ra thron­te oben­auf wie ein Rei­ter. Der jun­ge Mann erzähl­te, dass es sich bei die­sem Gerät um ein Instru­ment der Ver­tei­di­gung han­del­te, aus einer Zeit, da Nacht­men­schen mit Tag­men­schen noch unter ein und dem­sel­ben Haus­dach wohn­ten. Das klei­ne Tier saß in der Vitri­ne in einer Hal­tung, als wür­de er sich ducken, als wür­de es jeder­zeit wie­der eine Wand bestei­gen wol­len. Das war näm­lich sei­ne vor­neh­me Auf­ga­be gewe­sen, Zim­mer­wän­de zu bestei­gen in der Nacht, sich an Zim­mer­de­cken zu hef­ten und mit klei­nen oder grö­ße­ren Ham­mer­werk­zeu­gen Klopf- oder Schlag­ge­räu­sche zu erzeu­gen, um Tag­men­schen aus dem Schlaf zu holen, die ihrer­seits weni­ge Stun­den zuvor noch durch ihre erbar­mungs­los har­ten Schrit­te den Erfin­der der Geck­oma­schi­ne, einen Nacht­ar­bei­ter, aus sei­nen Träu­men geris­sen haben moch­ten. Es war, sag­te der jun­ge Mann, immer so gewe­sen damals in die­ser schreck­li­chen Zeit, dass sich Tag­men­schen sicher fühl­ten vor Nacht­men­schen, die unter ihnen leb­ten, die mit Schrit­ten Zim­mer­de­cken ihrer Woh­nung nie­mals erreich­ten. Aus und fini! — stop

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nahe centralbahnhof

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MELDUNG. Jun­ge Kai­ma­ne, ein Schwarm, haben nahe Cen­tral­bahn­hof einen Imbiß über­fal­len. Von Meteo­ren durch­schla­gen : Kioskdach, Limat 8, 9.02.03, 6.7 Gramm. Mar­ki­se, Opern­platz 12, 3. Eta­ge, 9.03.05, 0.8 Gramm. Mer­ce­des Benz Cou­pe 107, Madri­der­platz, 9.03.08, 12.01 Gramm. — stop
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vor neufundland 2.12.16 uhr : die sterne sind rund

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tan­go : 0.02 — Neh­men wir ein­mal an, man wür­de einen Vogel von der Grö­ße eines Zei­sigs kon­stru­ie­ren, ein Wesen, wel­ches aus 1500 Ein­zel­tei­len bestehen wird, sagen wir aus Stre­ben von leich­tem Metall, einem höl­zer­nen Rumpf, Flü­gel von kost­ba­rem Tuch, Schrau­ben, Farb­schich­ten, Dioden, feins­ten Sei­len, das wäre eine sehr fei­ne Geschich­te, einen Bau­kas­ten­vo­gel ent­de­cken für Mäd­chen und Jun­gen, die nun in ihren Zim­mern sit­zen, um den Vogel­kör­per zu mon­tie­ren. Sie wer­den viel­leicht zwei oder drei Mona­te Zeit in ihren Zim­mern ver­brin­gen, kaum etwas wird noch von ihnen zu sehen sein, als das Licht, das bis spät in die Nacht ver­bo­te­ner­wei­se aus ihren Zim­mern dringt. Wie sie zuletzt ins Zen­trum ihrer Vögel, dort wo sie den Herz­ort ihrer Vögel ver­mu­ten, mit einer Pin­zet­te und zit­tern­den Hän­den eine Atom­bat­te­rie ver­pflan­zen, nicht grö­ßer als ein Reis­korn, und wie sich nun ihre Vögel mit sur­ren­den Flü­geln erhe­ben und aus den Fens­tern segeln und flat­tern zur gro­ßen Rei­se ein­mal um die Erd­ku­gel her­um. — Kurz nach Mit­ter­nacht. Ich habe einen Funk­spruch mei­nes Freun­des Noe emp­fan­gen. Tie­fe 828 Fuß. Posi­ti­on 81 See­mei­len süd­öst­lich der Küs­te Neu­fund­lands. Fröh­li­che Stim­me, fol­gen­de Nach­richt: ANFANG 2.12.16 | | | Habe lan­ge zei­ten kei­ne ster­ne gese­hen. s t o p die ster­ne sind rund. s t o p zar­te fin­ger von licht. s t o p füh­ler. s t o p als ob der welt­raum das meer durch­such­te. y e l l o w t u m b l i n g f i s h f r o m a b o v e. träum­te yoko. s t o p ihre schul­tern. s t o p ihren mund. s t o p ihre stim­me. s t o p spü­re ihren atem an mei­nem hals. s t o p ihre lip­pen auf mei­ner brust. s t o p coney island. s t o p wird man viel­leicht selt­sam in der stil­le? s t o p in der mee­res­stil­le. s t o p schluss jetzt. s t o p fan­gen wir noch ein­mal von vor­ne an. s t o p. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p wer­de ich je wie­der land betre­ten? s t o p | | | ENDE 2.14.02 — stop

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pjöngjang

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hima­la­ya : 1.58 — Über einer Geschich­te Italo Calvino’s, die vom Bauch eines Geckos erzählt, schla­fe ich ein. Sofort aus der Woh­nung spa­ziert. Ich sage: Sei vor­sich­tig, Du schläfst! Wie ein alter Mann, der sich an dem Gelän­der einer Trep­pe fest­hal­ten muss, stei­ge ich zur Stra­ße hin ab, drei oder vier Stun­den, 52 Stock­wer­ke, um mei­nen Brief­kas­ten zu öff­nen. Ich fin­de dort eine Post­kar­te vor, die in der Stadt Pjöng­jang auf­ge­ge­ben wor­den sein könn­te. Selt­sa­me Schrift­zei­chen sind auf der Rück­sei­te der Post­kar­te zu lesen, die ich nicht ent­zif­fern kann. Aber mein Name und mei­ne Anschrift sind kor­rekt in latei­ni­scher Schrift dar­ge­stellt, Buch­sta­ben, sehr groß, wie gemalt. Auf dem Weg zurück nach oben, sage ich noch: Sei vor­sich­tig, Du schläfst! Vie­le Stun­den wie­der­um bin ich unter­wegs hin­auf unters Dach. Men­schen, die ich nicht ken­ne, kom­men mir ent­ge­gen. Sie sind ohne Far­be, auch ich selbst bin farb­los gewor­den, mei­ne Hän­de, mei­ne Schu­he, mei­ne Hose. Ein­mal begeg­ne ich einem Mäd­chen mit man­del­för­mi­gen Augen. Ich zei­ge ihr mei­ne Post­kar­te und sie lacht und wir setz­ten uns auf eine Trep­pen­stu­fe und sie liest mir die Post­kar­te vor, wes­we­gen ich nun weiß, wie die Wör­ter, die ich nicht lesen kann, klin­gen. — stop
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von schuhen

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char­lie : 3.25 – Bahn­steig 23, Zen­tral­bahn­hof, Diens­tag, 28 Minu­ten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunk­lem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von eben­so schwar­zer oder dun­kel­grau­er Far­be, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht ein­mal drei Stun­den ist es her, dass sie an die­sem Ort ein­ge­trof­fen ist. Ich höre, der jun­ge Mann, der an ihrer rech­ten Sei­te sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewe­sen, der die alte Frau aus dem Zug getra­gen hat­te, weil sie nicht mehr lau­fen konn­te, so erschöpft waren ihre Füße vom wochen­lan­gen Wan­dern durch halb Euro­pa, außer­dem waren zuletzt Schu­he kaum noch vor­han­den. Ein Mäd­chen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroß­mutter gebor­gen und schläft. Eigent­lich müss­ten da noch zwei Jungs sein, der älte­re Bru­der des klei­nen Mäd­chens, aber der ist tot, und auch ihr jün­ge­rer Bru­der ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mut­ter nicht, da ihre Woh­nung von einer Gra­na­te getrof­fen wor­den war, als das klei­ne Mäd­chen auf die Stra­ße rann­te ganz allein, was eigent­lich ver­bo­ten war im Novem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res in einem Dorf 16 Kilo­me­ter weit ent­fernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroß­va­ter des über­le­ben­den Mäd­chens ist abwe­send, weil er tot ist. Aller­dings ist der Urgroß­va­ter zur übli­chen Zeit eines natür­li­chen Todes gestor­ben und in Form einer Foto­gra­fie nach Euro­pa mit­ge­kom­men, die die alte Frau in die­sem Moment in ihrer Hand hält und betrach­tet. Ihr Sohn, der Vater des jun­gen Man­nes, der sei­ne Groß­mutter aus dem Zug getra­gen hat­te, spricht gera­de mit einer fröh­li­chen Per­son, die eine Wes­te trägt, wel­che leuch­tet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er ver­sucht der jun­gen deut­schen Frau zu erklä­ren, dass er vor Stun­den sei­ne Ehe­frau aus den Augen ver­lo­ren habe, er sagt immer wie­der ihre Namen auf, damit man unver­züg­lich nach ihr suchen kön­ne. Sein Sohn, der jun­ge Mann, der neben sei­ner Groß­mutter sitzt, erzählt indes­sen in eng­li­scher Spra­che, sei­ne Groß­mutter habe das Dorf, aus dem die Fami­lie vor Mona­ten geflüch­tet war, in ihrem ganz Leben nicht ein ein­zi­ges Mal ver­las­sen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in die­sem Nord­land, Bahn­steig 23, Zen­tral­bahn­hof, ver­steht kein Wort, von dem, was da so über­all um sie her­um gespro­chen wird, und streicht mit ihren Hän­den behut­sam über das Haar des schla­fen­den Kin­des. Immer wie­der schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass die­se Füße ihre eige­nen Füße sind. Vor­sich­tig bewegt sie sie hin und her, noch kei­ne Vier­tel­stun­de ist ver­gan­gen, da hat­te sich ihr Enkel vor ihr nie­der­ge­kniet, um ihr nagel­neue feu­er­ro­te Turn­schu­he anzu­zie­hen von Puma. – stop

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mirabelle-acht

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del­ta : 2.55 — Im Waren­haus beob­ach­te­te ich, wie Prei­se für Fern­seh­ap­pa­ra­te stünd­lich fal­len, Fern­seh­ap­pa­ra­te sind inzwi­schen so güns­tig gewor­den, dass sie bei­na­he nichts mehr wert sind. Auch Hum­mer­tei­le wer­den immer bil­li­ger, Bücher, Espres­so­ma­schi­nen, See­ane­mo­nen, Weih­nachts­en­gel, Schreib­ma­schi­nen. Oder die Prei­se für Fin­ger­hand­schu­he, gestrickt, das 8. Jahr in Fol­ge. — Gegen 2 Uhr heu­te Nacht fol­gen­de Beob­ach­tung. Wenn ich um die Wort­grup­pe schwe­res Was­ser ein Ver­zeich­nis leicht­sin­ni­ger Asso­zia­tio­nen lege, ver­schwin­det der Begriff in der Gestalt eines Atolls. Ob nicht viel­leicht Erin­ne­rung über­haupt in die­ser Form orga­ni­siert sein könn­te? — Zwei Uhr fünf­zig Minu­ten in Röszke, Ungarn. — stop

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bambus vol. 2

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echo : 1.08 — Wie Men­schen nun Han­dys nicht län­ger an ihre Ohren hal­ten, son­dern vor den Mund. Viel­leicht auch des­halb, um gleich­zei­tig spre­chen und lesen zu kön­nen, spre­chen also und hören und noch etwas Wei­te­res tun. — Wie­der Nacht. In einem Moment der Stil­le beob­ach­te­te ich vor weni­gen Minu­ten ein Bücher­re­gal, das in mei­nem Arbeits­zim­mer steht. Ich mein­te wie­der ein­mal, ein Geräusch wahr­ge­nom­men zu haben, in etwa hör­te sich das so an, als wür­de man ein Ohr an ein Bam­bus­rohr legen, durch wel­ches Kie­sel­stei­ne fal­len. Zunächst mel­de­te sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befin­den, die ich bis­her nicht gele­sen habe, war­ten­de Bücher, sagen wir, Mah­nen­de. Kurz dar­auf wan­der­te das Geräusch in die Mit­te des Regals, Chris­toph Rans­mayr klim­per­te, John Ber­ger, Janet Frame, Anto­nio Tabuc­chi. Ich hat­te für eini­ge Minu­ten den Ein­druck, das Geräusch oder sei­ne Ursa­che könn­te sich ver­viel­fäl­tigt haben. Wenn nun fol­gen­des gesche­hen wäre, dass sich die Bücher mei­nes Regals in Funk­bü­cher ver­wan­del­ten, in Bücher, die nur vor­ge­ben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Sei­ten ver­fü­gen, die eigent­lich Bild­schir­me sind, die man umblät­tern kann. Dann wäre denk­bar, dass ich jenes typi­sche Geräusch ver­nom­men habe, das in genau dem Moment ent­steht, da der Autor eines Buches mit­tels Funk­wel­len eine erneu­er­te Fas­sung sei­nes Wer­kes in die Zim­mer der Welt ent­sen­det. Ich muss dar­über nach­den­ken, was die Mög­lich­keit oder die Exis­tenz der Funk­bü­cher bedeu­ten wür­de für das Schrei­ben, für das Auf­hö­ren kön­nen, für Anfang und Ende einer Geschich­te. Und wenn nun Jean Pauls Komet in mei­nem Zim­mer rascheln wür­de, oder Dan­tons Tod, Georg Büch­ner? – Noch zu tun: Regen­wör­ter erfin­den. — stop

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