6.08 — Ich besitze eine kleine Fernsehmaschine. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rollen befinden, sodass sich das empfangene Lichtbild im Raum herumfahren lässt. Gestern Abend, ich saß auf dem Sofa und schaute in das Licht dieser kleinen Fernsehmaschine, kam eine junge Frau ins Bild, das heißt, genauer, die Kameramaschinen, die das Licht für meine Fernsehmaschine einzufangen, beauftragt waren, hatten sich weit weg in China auf die Gestalt dieser jungen Frau ausgerichtet und für einen kurzen Zeitraum ihres Lebens hielten sie an ihr fest, an ihrem jungen Gesicht, das voller Trauer gewesen war. — Was habe ich gesehen, was habe ich gehört? — Da war eine junge Frau, eine sehr blasse junge Frau, die in der chinesischen Sprache sprechend davon erzählte, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volksgericht zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt worden war, weil er sein Menschenrecht auf freie Rede ausübend gesagt und geschrieben hatte, die Olympischen Spiele des Jahres 2008 seien für die Menschenrechte in seinem Heimatland eine Katastrophe. Die junge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säugling. Während sie sprach, bewegten sich ihre Hände in einer seltsamen Art und Weise vor Mund und Nase, Gesten von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, Gesten, die ihr Gesicht vielleicht vor den Lichtmaschinen schützen sollten. Ich habe gesehen, dass ihre Hände bebten. Dann war sie wieder weg und auch ihr Kind. – Fünfzehn Uhr sieben in Lhasa, Tibet. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
lumumba
2.27 – Das Geräusch eines Bleistifts auf Papier. Seit ich vor einigen Tagen bemerkte, dass ich nach und nach die Fertigkeit des Schreibens mit der Hand verliere, notiere ich wieder mit dem Bleistift in einem Heft. – Folgendes, sagen wir. Sobald ich ein Wort Zeichen für Zeichen lese, sobald ich das Wort in ein Geräusch verwandelt habe, verliere ich seine Bedeutung. Das Wort LUMUMBA zum Beispiel, warm, tief, wohlklingend, leer. Alle Wörter, die ich nach diesem Wort LUMUMBA erfinde, tragen ein – u — in sich. Zu diesem Zeitpunkt kann ich sagen, dass ich gegen das intensiv wirkende — u — in dem Wort LUMUMBA am Besten mit einem — i — ankommen kann. — HIBISCILLI. — Das — i -, weiß der Himmel warum, hat in meinem Kopf mit Freude, mit Glück zu tun. Also weiter mit der Musik : begaioku : lidabobi : basijebu : pomebebu : bodibabe : mitusubu : cawariba : babunabe : nufumetu. — stop
louis armstrong
5.15 — Gestern, in den frühen Abendstunden, eine zauberhafte Textpassage erinnert, die ich vor langer Zeit einmal gelesen habe. Sie erzählte etwas von der Liebe zu Honigbroten und von der Ruhe eines Morgens vor einem leeren Schreibtisch und von Louis Armstrongs knurrender und schnarrender Stimme, und weil ich gerade in einem Supermarkt unterwegs gewesen war, habe ich mir ein Glas Honig gekauft. Ich wollte der Kassiererin erzählen, weshalb ich mir Honig kaufe und dass dieses Glas das erste Glas Honig sei, das ich seit Jahren mit mir nach Hause nehmen würde, und dass man, wenn es regnet, zu Hause herumsitzen könne und George Gershwins Summertime hören in 20 Variationen. Dann wahrgenommen, wie müde, wie erschöpft die Frau gewesen ist. Anstatt zu sprechen, etwas Schokolade angeboten. Ihr seltsamer Blick ins rote Licht des Scanners. — Wenn man jahrelang Bomben unter Menschen wirft, genügt die Behauptung einer Bombe, um eine Menschenmenge in eine tödlich wirkende Panik zu versetzen. — stop
flaubert
20.25 — Georges Perec zitiert Gustave Flaubert: Paris wird ein Wintergarten werden / Spaliere mit Früchten auf den Boulevards; die Seine filtriert und warm / Überfluss an künstlichen Edelsteinen – überreiche Vergoldung. Beleuchtung der Häuser – das Licht wird gespeichert werden, denn es gibt Körper, die diese Eigenschaft besitzen, wie etwa der Zucker oder das Fleisch gewisser Mollusken und der Phosphor aus Bologna. Die Häuserfassaden werden mit dieser phosphoreszierenden Substanz übertüncht werden müssen und ihre Ausstrahlung wird die Straßen hell erleuchten. | stop | Pléiade, II | stop | Endplan. | stop | Regen.
lou reed
0.15 – Stimmung fiebriger Heiterkeit. Der Eindruck, dass ich mich auf einem Dampfschiff befinde. Leise wummerndes Stampfen der Maschinen. Vorhin hat mir ein freundlicher Schiffsdoktor kühlende Salben gebracht für die Brust, einen Saft, der die Temperatur senken soll, in einer merkwürdig blauen Farbe, und Tropfen für die Nase, die doch noch völlig in Ordnung ist. Eine Armlänge entfernt auf dem Boden steht eine leise pfeifende Kanne Tee. Das hört sich ein wenig so an, als würde die Kanne zu mir sprechen, weil ich heute selbst meine bewegten Bilder von Tag und Nacht durcheinander spiele. Da ist John Lurie. Er lagert in Brooklyn vor einem Tabakwarenladen und spielt sein Saxofon. Und da ist Lou Reed. Er raucht wie der Teufel, während er erzählt, dass er sich vor den Schweden fürchte. Und da sind Geckos, fingerlange Geckos, hellblau, ein Rudel. Sie jagen über die Decke meines hölzernen Zimmers dahin. — stop
ludwig wittgenstein
5.27 — Bemerke immer wieder, dass ich nicht spüren kann, wo genau im Kopf ich denke. Da sind durch Worte gehemmte [ Ludwig Wittgenstein ] Gedanken, präzise vernehmbare Geräusche, die in blauen, in roten, in gelben Farbtönen erscheinen. – Einmal CNN. | stop | Nachtfernsehen. | stop | New Orleans. | stop | Alte Menschen, die aus Fenstern, von Balkonen ihrer Wohnungen her in Boote steigen. | stop | Junge Männer in Uniformen der Nationalgarde, die ihnen die Hände reichen. | stop | Gesten, als wären sie Gondoliere. | stop | Das Gesicht eines Mannes, — erschöpft, leer, ausgezehrt, geschlossen. | stop | Ja, ein geschlossenes, lichtloses Gesicht. | stop | Nichts mehr darf hinein. | stop | Nichts kann heraus. | stop | Vielleicht die Ahnung, dass er nicht wieder zurückkehren wird? | stop | Vielleicht reicht mein Blick, mein Kamerablick, nicht ausreichend tief in die Wohnung? | stop | Ich könnte ein Ohr fest auf den Boden legen und dem Meer lauschen, wie es in der Wohnung unter meiner Wohnung mit den Möbeln spielt. | stop | In Schiffen, in Städten, auf Bäumen wohnen arme Menschen tief oder an steilen Erdsegelhängen. | stop |
luftgeräuschworte
2.15 — Gestern Abend gegen zehn Uhr wusste ich in einem Text nicht weiter, weil ich mich nicht erinnern konnte, welche Geräusche die Flügel einer Eintagsfliege in der Luft erzeugen. Ich hatte ein helles Propellergeräusch im Ohr, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere summieren wollte, der Verdacht, mit meiner Erinnerung könnte etwas nicht ganz in Ordnung sein. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera ist in der Luft kaum zu vernehmen. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen beobachtet, sie sind lautlos, wirbelnder Schnee. Und doch war da ein Ton, sobald eine Fliege dicht an meinem Ohr vorüber gekommen oder in nächster Nähe auf mir gelandet ist. — Ein zartes Klappern vielleicht? — Luftgeräuschworte erfinden. — stop
kolibri
3.01 — Ich wurde, noch nicht lang her, gefragt, worin denn die Vorzüge eines Lebens auf Bäumen zu sehen seien. Hört zu, habe ich geantwortet, keine Zeitung, kein TV. Ruhe. Fast Stille. Etwas Pfeifen, etwas Schnattern. Käfer. Ameisentiere. Und Affen, größere Gruppen frecher Affen. Tamarine. Die Kerle drohen mit längst vergorenen Früchten, die sie für Geschenke halten. Moskitos. Fauchende Schaben. Kein Besteck, keine Waffen, keine Telefone. Abendsegler. Leichtere Fliegen. Fliegen in Blau, in Rot, in Schwarz. Schnelle Spinnen. Abwartende Spinnen. Regen. Warmes Wasser. Die Stämme der Bäume, die so hoch aufragen, dass man ihre Kronen nicht mit Blicken erreichen kann, auf und ab, auf und ab, Schiffsmasten im Hafen vor Sturm. Deshalb Seekrankheit, deshalb Höhenangst. Aber Vögel, sehr kleine Vögel. Flügel. Unschärfen der Luft. Öffnet man vorsichtig den Mund, wird man für eine Blüte gehalten. — stop
salznamen
2.01 — Dass die Fische eines Schwarms keine Namen tragen. Auch die Sommerfäden eines Augusthimmels oder die Moleküle eines Wassertropfens sind kaum je beschriftet, wie der Sand einer Wüste ohne jede Bezeichnung ist, sodass man eine Handvoll Sand nicht auf einen Tisch werfen könnte und sagen, dieser kleine Stein hier, das ist S‑sahara-No 537675258386. Ich sehe Dich, aber ich gebe Dir keinen Namen. Stattdessen versuchen wir den Himmel. Wir sagen: Das ist Galaxie M‑23. Und dieser blaue Nebel hier verdunkelt die Galaxie M‑C58. Unsere elektronischen Augen sind empfindlich. Wir könnten mit diesen Augen vielleicht einen Golfball auf dem Mond erkennen oder eine Telefonzelle auf dem Mars, nicht aber einen Stern hinter einem Stern in einer 7 Millionen Lichtjahre entfernten Spiralgalaxie. Vielleicht sollte ich, wenn ich wieder einmal aufgeregt sein werde, weil mir der Himmel auf den Kopf zu fallen droht, einen Teelöffel Salz auf meinen Schreibtisch schütten und eine Zählung und Bezeichnung der Kristalle vornehmen. Wie lange Zeit würde ich zählen? Könnte ich je wieder aufhören? — stop
julio cortazar
20.15 — Kurze Anleitung zum Glücklichsein, sagen wir so: Man verlasse das Haus. Aufmerksam jede Bewegung des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man: Cortazar, Julio — Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man weiter spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Dort nehme man Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works! — stop