Aus der Wörtersammlung: eiche

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ai : VENEZUELA

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 19. Febru­ar 2024 wur­de Juan Car­los Mar­rufo ohne Vor­ankün­di­gung in das Gefäng­nis Rodeo I im vene­zo­la­ni­schen Bun­des­staat Miran­da ver­legt, fast drei Jah­re nach sei­ner poli­tisch moti­vier­ten will­kür­li­chen Inhaf­tie­rung. Obwohl sich sein Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­tert, ver­wei­gern ihm die Behör­den nach wie vor Unter­su­chun­gen und Behand­lun­gen. María Auxi­lia­do­ra Del­ga­do, die mit Juan Car­los ver­hei­ra­tet ist und eben­falls seit dem 19. März 2019 will­kür­lich fest­ge­hal­ten wird, benö­tigt sofor­ti­ge medi­zi­ni­sche Unter­su­chun­gen. Emir­len­dris Beni­tez, die im August 2018 will­kür­lich fest­ge­nom­men wur­de, lei­det an Beschwer­den, die auf die Fol­ter zurück­zu­füh­ren sind, der sie aus­ge­setzt war. Sie benö­tigt eine sofor­ti­ge Ope­ra­ti­on.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent actions

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gambia

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sier­ra : 14.28 UTC — Es ist Sams­tag, Febru­ar, kurz nach Mit­tags­zeit. Das Tele­fon klin­gelt. Selt­sa­me Num­mer. Eine Stim­me mel­det sich, ein Stimm­chen, glo­cken­hell. Sagt: Hel­lo, hel­lo! Stim­me völ­lig unbe­kannt. Ich fra­ge: Wer ist da, wer spricht? Es knis­tert im Hörer, Stimm­chen sagt: Here is Afri­ca! — Ich lege auf. Ich gehe spa­zie­ren. Schau aus dem Fens­ter. Auf der Stra­ßen­la­ter­ne tief unter mir sit­zen zwei Tau­ben. Schau­en hin­auf. Lid­schirm­chen schlie­ßen sich. Die Tau­ben ken­nen mich, ich ken­ne sie. Erneut klin­gelt das Tele­fon, selt­sa­me Num­mer. Eine Stim­me mel­det sich, ein Stimm­chen, glo­cken­hell. Sagt: You ass­ho­le! — Und legt auf. — stop

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von handvögeln

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romeo : 14.25 UTC — Die New York Times berich­te­te nach mona­te­lan­gen Recher­chen über Ver­bre­chen rus­si­scher Streit­kräf­te in der Stadt Bucha. Über­all dort in den Stra­ßen, so wur­de bald sicht­bar, waren Vögel unter­wegs gewe­sen. Sie flo­gen in Schwär­men über die Stadt, sie hock­ten hin­ter Vor­hän­gen und in den Man­tel­ta­schen der Spa­zier­gän­ger, auch in den Hän­den der Getö­te­ten. Sie sam­mel­ten das Licht, das durch ihre Augen fiel, auf Spei­cher­kar­ten. Sie ver­zeich­ne­ten, was die Mör­der ihren Frau­en erzähl­ten. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreib­zim­mer
Mittags
15 Uhr

 

 

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stimmen

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india : 20.12 UTC — Ges­tern hat­te ich mich plötz­lich an Vaters Stim­me erin­nert. Die Stim­me sag­te: Aber das ist doch Koko­lo­res. Dann lach­te die Stim­me. Und ich dach­te noch dar­an, wie ich vor Jah­ren ein­mal bemerk­te, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stim­me mei­nes Vaters erin­nern konn­te. Wie ich auch such­te, ich fand sie nicht. Ich war natür­lich sehr erschro­cken gewe­sen. Anstatt der Stim­me mei­nes Vaters, hör­te ich die Stim­me des gro­ßen Erzäh­lers Isaak B. Sin­ger, eine hel­le und zugleich raue Stim­me, die der Stim­me mei­nes Vaters sicher ähnel­te. Ich hat­te vor ein oder zwei Jah­ren Sin­gers Stim­me in einem Film­in­ter­view gehört. Foto­gra­fien zei­gen den alten Mann spa­zie­rend am Atlan­tik. Auch mein Vater war mehr­fach in Brigh­ton Beach gewe­sen, wenn ich nicht irre. Plötz­lich kehr­te die Erin­ne­rung an die Stim­me mei­nes Vaters zurück. Isaac B. Sin­gers Geschich­te im Übri­gen geht so: Kurz nach mei­ner Ankunft (in Ame­ri­ka) betrat ich zum ers­ten Mal eine Cafe­te­ria, ohne zu wis­sen, was das ist. Ich hielt es für ein Restau­rant. Ich sah lau­ter Leu­te mit Tabletts und frag­te mich, war­um man in so einem klei­nen Restau­rant so vie­le Kell­ner brauch­te. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vor­bei­kam, ein Zei­chen. Ich hielt sie alle für Kell­ner und woll­te etwas bestel­len. Aber sie igno­rier­ten mich, man­che lächel­ten auch. Und ich dach­te, was für ein unwirk­li­cher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein klei­nes Café mit so vie­len Kell­nern, und nie­mand beach­tet mich! Irgend­wann begriff ich dann, was eine Cafe­te­ria ist. Sie wur­de mein zwei­tes Zuhau­se. Die Cafe­te­ri­en wur­den eine Art Zuhau­se für Flücht­lin­ge aus Polen, Russ­land und ande­ren Län­dern. Vie­le mei­ner Geschich­ten spie­len in Cafe­te­ri­en, wo all die­se Men­schen auf­ein­an­der­tra­fen: die Nor­ma­len, die weni­ger Nor­ma­len und die Ver­rück­ten. Das ist also der Hin­ter­grund mei­ner Geschich­ten, die in Cafe­te­ri­en spie­len. – stop

 

 

 

 

 

 

 

 

Spu­ren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte 

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ein kind

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nord­pol : 0.58 — Ich stell­te mir Nach­rich­ten vor, die dazu geeig­net sind, Tele­fo­ne der Nach­rich­ten­emp­fän­ger unver­züg­lich in Brand zu set­zen. Was könn­te das für Nach­richt sein? Viel­leicht fol­gen­de Nach­richt, dass eine Geschich­te wie die­se Geschich­te hier mög­lich ist, eine Geschich­te, die von einem Kind erzählt, das in Groß­bri­tan­ni­en lebt. Das Kind, so wird erzählt, öff­ne­te zur Weih­nachts­zeit einen Geschenk­kar­ton, wel­cher in Chi­na erzeugt wor­den sein soll. In die­sem Geschenk fand das Kind einen Zet­tel sorg­fäl­tig ver­steckt, der von Hand beschrif­tet wor­den war. Auf dem gefal­te­ten Zet­tel war Fol­gen­des zu lesen: S O S! Neu­gie­rig gewor­den öff­ne­te das Kind das akku­rat gefal­te­te Päck­chen Papier. Das Kind ent­deck­te Zei­chen, die mit­tels eines Kugel­schrei­bers in blau­er Far­be auf das Papier gesetzt wor­den waren. Und weil das Kind unbe­dingt her­aus­fin­den woll­te, was dort hand­schrift­lich notiert wor­den war, wur­de die Zei­chen­fol­ge über­setzt. Von einem Ort in Chi­na war die Rede, von einem Gefäng­nis nahe einer gro­ßen Stadt im Nor­den des Lan­des, von der furcht­ba­re Not eines mensch­li­chen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeit­ort. Bald drei Jah­re war der Brief auf Rei­sen gewe­sen, ehe das Kind auf­merk­sam gewor­den war. — stop

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im warenhaus

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nord­pol : 5.04 UTC — Denk­bar wie­der­um, dass irgend­wann ein­mal Waren­häu­ser exis­tie­ren wer­den für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kop­fes Zube­hör. Auch Geschäf­te für Nie­ren, Kno­chen, Seh­nen, Haut und wei­te­re Mate­ria­li­en eines mensch­li­chen Kör­pers sind wahr­schein­lich gewor­den. Man wird, sofern man über aus­rei­chend finan­zi­el­le Mit­tel ver­fügt, wesent­li­che ana­to­mi­sche Sub­stan­zen der eige­nen Exis­tenz in zen­tra­len Maga­zi­nen voll aus­ge­wach­sen vor­rä­tig hal­ten, um in der Not ohne Ver­zö­ge­rung han­deln zu kön­nen. Fern­rei­sen­de füh­ren dann Behäl­ter mit sich, in wel­chen sich tief­ge­kühl­te Lun­gen und Her­zen befin­den. Ein ana­to­mi­scher Eis­schat­ten könn­te unse­re Lebens­zeit beglei­ten, solan­ge man nicht in der Lage ist, eine kom­plet­te, eine durch­blu­te­te, wil­len­lo­se Gestalt, eine Kopie der eige­nen Per­son in nächs­ter Nähe in Bereit­schaft zu hal­ten. Die­se Per­son könn­te über Rei­se­pa­pie­re ver­fü­gen, über per­sön­li­che Klei­dung, über einen Schrank­kof­fer zum Schla­fen, über einen Stuhl zum Sit­zen, über etwas Per­so­nal, wel­ches das dop­pel­te Wesen füt­tern und baden und spa­zie­ren füh­ren, wird im Gar­ten. Jedes fünf­te Jahr wür­de das Wesen erneu­ert wer­den. In den Papie­ren mei­nes Schat­tens könn­te fol­gen­de Signa­tur zu ent­de­cken sein: Lou­is / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
polaroidbus

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zerzaust

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zou­lou : 12.28 UTC — L. erzäh­le vor lan­ger Zeit, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein wenig wild aus­ge­se­hen haben, irgend­wie zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — Das Radio erzählt von einer Repor­te­rin der Besat­zungs­ar­mee, sie habe Men­schen, wel­che vor Last­kraft­wa­gen war­te­ten, um Brot zu erhal­ten, gera­ten, dank­bar zu sein. — stop

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dunkelkammer

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india : 0.45 UTC — Ein­mal vor lan­ger Zeit ste­he ich vor einer Tür. Ich bin groß genug gewor­den, um die Klin­ke der Tür mit einer Hand zu errei­chen. Ich ver­su­che die Tür zu öff­nen, da ruft Mut­ter, nicht Lou­is, Papi arbei­tet. Aber das war selt­sam, weil das Zim­mer hin­ter der Tür das Bade­zim­mer gewe­sen war, nicht das Arbeits­zim­mer, das gab es auch. Mut­ter sag­te: Dein Vater ent­wi­ckelt Bil­der, es muss dun­kel, stock­dun­kel sein im Zim­mer, Du musst etwas war­ten, mein Schatz, Papi wird bald her­aus­kom­men. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich auf den Boden leg­te und unter der Tür zum Bade­zim­mer hin­durch späh­te. Ich konn­te Vaters Radio hören, und ich beob­ach­te rotes Licht, das im Bade­zim­mer leuch­te­te, sodass ich dach­te, das Radio wür­de viel­leicht rot leuch­ten. Es ist nicht dun­kel, sag­te ich, Mut­ter ant­wor­te, doch, doch, das ist Vaters Dun­kel­kam­mer. Ver­mut­lich weil ich erleb­te, was ich gera­de erzähl­te, bewirk­te, dass ich mit Radio­ap­pa­ra­ten noch Jah­re spä­ter rotes Licht in Ver­bin­dung brach­te. Dann, bald, wur­den Radi­os grün, wegen ihres leuch­ten­den Auges. Es waren Röh­ren­ge­rä­te. — Vor der Küs­te des Staa­tes Sene­gal, so erzählt das Fern­se­hen, sol­len 68 Men­schen auf dem Weg nach Euro­pa ertrun­ken sein. — stop

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im warenhaus

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gink­go : 0.02 UTC — An einem Abend im Waren­haus vor lan­ger Zeit beob­ach­te­te ich einen klei­nen Jun­gen. Er sprang in einer War­te­schlan­ge vor einer Kas­se her­um und lach­te und ver­dreh­te die Augen. Weil sich auf dem För­der­band vor der Kas­se Milch­fla­schen, Corn­flakes, Reistü­ten sowie zwei Honig­me­lo­nen befan­den, konn­te der Jun­ge den Mann, der an der Kas­se sei­ne Arbeit ver­rich­te­te, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann han­del­te es sich um Javuz Aylin, er war mit­tels eines Namens­schild­chens, das in der Nähe sei­nes Her­zens ange­bracht wor­den war, zu iden­ti­fi­zie­ren. In die­sem Moment der Geschich­te erhob sich Herr Aylin ein wenig von sei­nem Stuhl, um neu­gie­rig über die Waren hin­weg zu spä­hen, ver­mut­lich des­halb, weil der Haar­schopf des Jun­gen mehr­fach in sein Blick­feld hüpf­te. Da war noch ein zwei­ter Haar­schopf an die­sem Abend im Waren­haus in nächs­ter Nähe, schwar­zes, locki­ges Haar, der jün­ge­re Bru­der des Jun­gen, der in weni­gen Sekun­den zu dem Kas­sie­rer spre­chen wür­de, bei­de Kin­der sind sich so ähn­lich, als sei­en sie Zwil­lin­ge, ein gro­ßer und ein klei­ner Zwil­ling. Gleich hin­ter den Buben war­te­te die Mut­ter, sie lächel­te, wie sie ihre Kin­der so fröh­lich her­um­tol­len sah. Die jun­ge Frau trug ein bun­tes Kopf­tuch, ich stell­te mir vor, sie könn­te in Marok­ko gebo­ren wor­den sein, kräf­tig geschmink­ter Mund, herr­li­che Augen. Plötz­lich waren die Waren auf dem För­der­band ver­schwun­den, der älte­re der bei­den Jungs betrach­te­te auf­merk­sam das Gesicht des Kas­sie­rers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jun­gen ein Päck­chen mit Sam­mel­bil­dern zur Euro­pa­meis­ter­schaft ent­ge­gen, außer­dem ein zwei­tes Päck­chen für den klei­ne­ren Bru­der, der immer noch hüpf­te, weil er gera­de eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hin­weg spä­hen zu kön­nen. Oh, dan­ke, sag­te der Jun­ge zu Herrn Aylin. Er schau­te kurz zur Mut­ter hin­auf, die nick­te. Ich habe schon fast alle Kar­ten, fuhr er fort, die deut­sche Mann­schaft ist kom­plett. Er mach­te eine kur­ze Pau­se. Ich bin näm­lich Deut­scher, sag­te der Jun­ge mit kräf­ti­ger Stim­me, auch mein Bru­der ist Deut­scher. Wie­der schau­te er zu Mut­ter hin, und wie­der nick­te die jun­ge Frau und lach­te. Bist Du auch Deut­scher, fragt der Jun­ge Herrn Aylin. Der schüt­tel­te den Kopf und schnitt eine freund­li­che Gri­mas­se. Der Jun­ge setz­te nach: Ach so! War­um nicht? Aber das war gewe­sen, ehe Herr Aylin ant­wor­ten konn­te, er war mit sei­nem klei­nen Bru­der und sei­nen Sam­mel­bil­dern bereits hin­ter der Kas­se ver­schwun­den, sodass sich ihre Mut­ter beei­len muss­te, um sie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. — Das Radio erzählt, man habe, indem man Men­schen neben Stra­ßen der Stadt Mariu­pol beer­dig­te, zur glei­chen Zeit ein Fläsch­chen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläsch­chen, wur­den auf einem Zet­tel ver­zeich­net der Name des ver­stor­be­nen Men­schen und der Tag sei­ner Geburt und der Tag sei­nes gewalt­sa­men Todes. — stop



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