alpha : 0.02 — Zwei Stunden mit Anna Thomson, mit Sue in New York, mit einer Frau, die an Einsamkeit und Alkohol zugrunde geht. Wollt gern hinter die elektrische Haut meiner Filmmaschine springen, um der Geschichte eine glückliche Wendung zu geben. Einmal hielt ich die Geschichte einfach an, in dem ich ihr weiteren Strom verweigerte. Aber das ergab natürlich keinen Sinn, weil Geschichten, wie diese Geschichte, sich so lange fortsetzen im Kopf, bis sie zu Ende gekommen sind. Und an Marie habe ich gedacht, an Marie, jawohl. Wie sie verrückt geworden ist. Als ich Marie zuletzt gesehen habe, lag sie im Flur ihrer Wohnung auf dem Boden herum und sah Geckos an den Wänden sitzen und ihre Zähne klapperten und ich musste aus der Bar im Erdgeschoss eine Flasche Cognac holen und sie damit füttern, damit sie wieder so ruhig werden wollte, dass ich sie zu ihrem Bett führen konnte. Aber dort kamen ihr die Geckos sofort wieder und spazierten über die Decke und sie musste sie mit einem weiteren Glas aus dem Zimmer fegen und ihr Körper gab restlos nach und sie schämte sich, obwohl ich ihr flüsterte, dass das nicht so schlimm sei, dass ich ihr helfen würde, sich zu waschen, dass sie jetzt endlich aufhören müsse, diese verdammten Filme zu drehen, und dass sie den Schweizer zum Teufel jagen solle, der nicht ein Freund sei, sondern ein mieser, kleiner Kunde, der nur dann in ihrem Wohnzimmer über sie herfallen wolle, wenn sie so betrunken geworden sei, dass er sich vor ihr nicht mehr fürchten müsse. Aber Marie hörte mich nicht, sondern weinte und verlor schnell das Bewusstsein und ich holte den Notarzt und wir fuhren in ein Hospital, wo man sie schon kannte. Und wie ich das jetzt so schreibe, erinnere ich mich, dass Marie einmal über das Telefon eine uralte Geschichte erzählte. Sie habe zu sich gesagt, so die Geschichte, dass sie jetzt aufhören werde. Schluss mit dem ganzen Wahnsinn, Schluss mit Pornobangbang, Schluss mit der Trinkerei. Sie habe alte Schulfreundinnen eingeladen zu sich in die Wohnung. Sie habe zunächst einen Apfelstrudel gebacken und alles habe sehr schön nach Vanille geduftet. Sie habe noch die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt und nur ein ganz klein wenig getrunken und kaum sei sie fertig gewesen mit der Putzerei, seien die Freundinnen angekommen, so seien sie hereinspaziert, als würden sie einen zoologischen Garten besuchen. Sie haben, sagte Marie, Marie gefragt, ob Marie ihre Wohnung shampooniert habe. Die haben sich nicht mal gesetzt! Und so ist Marie also verrückt geworden. — Ich geh’ jetzt noch ein paar Schritte wandern im Schnee. — stop
Aus der Wörtersammlung: elektrisch
china / mexiko
tango : 0.00 — Ein Bildschirmsaal, groß wie eine Turnhalle. Vor dem Monitor No 561 sitzt ein Mann und tippt mit seinem rechten Zeigefinger Passagen aus Italo Calvino’s Bändchen Herr Palomar in eine E‑Mailbox: In diesem Spätherbst gibt es in Rom etwas Ungewöhnliches zu sehen, nämlich den Himmel voller Vögel. Zeichen um Zeichen arbeitet sich der Mann vorwärts. Zunächst wirft er einen Blick auf das mit linker Hand gebändigte Buch, dann einen Blick vorwärts ins Licht, darauf folgt ein weiteres elektrisches Zeichen, ein feines, vielleicht von einer Feder wiedergegebenes Geräusch unter dem Rauschen tausender Federn, tausender Fingerwerkzeuge, die Text erzeugen, Text versenden, flüchtiges wie Rauch. — Einmal dort für eine Minute die Zeit anhalten. Lesen, was geschrieben wurde, lesen, was auf den Bildschirmen gerade noch sichtbar ist. Vielleicht auch die Nachricht, dass der ehemalige Vorsitzende des chinesischen P. E. N., LIU XIABO, Mitunterzeichner der Charter 2008, im Dezember 2008 bereits verhaftet, noch immer verschwunden ist. Oder eine kurze Geschichte, die von der Journalistin LYDIA CACHO RIBEIRO erzählt, deren Leben akut bedroht wird, weil sie in Mexiko gegen Handel mit Frauen kämpft. — stop
licht
india : 10.02 — Da war ein Buch vor langer Zeit, ein Buch, das Thomas Alva Edisons Leben erzählte. In diesem Buch, ich seh das noch genau vor mir, wurde das elektrische Licht erfunden. Zunächst machte man einen gläsernen Behälter, der glühte und flüssig war und heiß, denn die Männer, die an ihm arbeiteten, trugen kräftige Handschuhe, auch ihre Gesichter waren mit Tüchern verbunden. Man konnte das Glas, so flüssig war es unter dem Feuer geworden, wie heiße Schokolade von einer Tasse in eine andere gießen. Ich habe diese Zeichnung als Junge stundenlang betrachtet und erzählt, was dort für mich zu sehen war. Seither ist alles Licht, vor allem dann, wenn es warm, goldfarben, ja, wenn es sichtbar ist, flüssig und von Schokolade.
luftfische
tango : 0.01 — Eine Nacht konzentrierter Arbeit. stop. Beginne Callas Box 2.0 zu montieren. stop. Tausende Bewegungen meiner Hände. stop. Im Zeitraffer, die Bewegungen einer Nähmaschine. stop. Click tick tick tick. stop. Jeder Bewegung geht ein prüfender Blick voraus. stop. Jeder vollzogenen Bewegung folgt ein prüfender Blick. stop. Ich weiß, dass ein nicht sofort entdeckter Fehler im Code, Stunden der Suche bedeuten würde. stop. Heiße Schokolade. stop. Immer wieder einmal aufstehen und spazieren gehen. stop. Leichte elektrische Entladungen der Luft. stop. Als würden mich in der Luft schwebende Fische küssen. — stop
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.
doppelhelix
echo : 0.01 — Eine Fotografie, die James Watson und Francis Crick vor ihrem Modell einer DNA-Doppelhelix zeigt. Der Eindruck, Watson würde einen an der Zimmerdecke lungernden Trompetenkäfer betrachten, dessen Gattung zum Zeitpunkt der Aufnahme sich bereits abzuzeichnen beginnt.
Vielleicht sollte ich sagen, dass Trompetenkäfer rein pneumatische Arbeiter sind, während Posaunenkäfer sowohl pneumatische als auch mechanische Verfahren der Tonerzeugung in sich vereinigen. Drummer knallen elektrisch. Bassisten verfügen über einen Körper von ungewöhnlicher Länge, über ein Gehäuse, welches von feinsten Lamellenknochen ausgebildet sein wird. Gerade diese wohlklingenden Wesen werden eines Tages mit Zigarren leicht zu verwechseln sein. Das Erstaunliche an musizierenden Käferwesen ist, dass sie den Musiker sowohl als auch ein Instrument, das von Menschen erfunden wurde, mit sich führen, dass sie also symbiotische Wesen sind. — stop
real online kiss
15.14 — Wieder etwas Fénéon gelesen, feine Geschichten, die von schnellen Zügen, von rauchenden Pistolen, von liebestollen Mördern, von Bomben und anderen Unglücksmomenten erzählen. — Geschichte No 162 zum Beispiel : Kaum getraut, war das Ehepaar Boulch aus Lambézelle ( Finistère ) schon so betrunken, dass man es auf der Stelle einsperren musste. — Oder diese Geschichte No 373 : Auf dem Dachfirst des Bahnhofs von Enghien erhielt ein Maler einen elektrischen Schlag. Man hörte noch das Klappern seines Gebisses, dann fiel er auf die Markise. — Muss neue Sprache lernen. rok = real online kiss. — Nichts weiter.
sames salter
~ : louis
to : Mr. james salter
subject : MARIT
Lieber James Salter, als ich heute Nacht am Schreibtisch saß und in Ihren wunderbaren Erzählungen las, habe ich eine kleine Spinne bemerkt, die mich beobachtete, jawohl, sie saß auf dem Feinsten der Blatthaare eines Elefantenfußbaumes, der neben meiner Computermaschine steht, und beobachtete mich aus mehreren winzigen schwarzen Augen. Ich habe überlegt, was dieses Wesen wohl in mir sieht. Für einen weiteren kurzen Moment habe ich darüber nachgedacht, ob Spinnen vielleicht hören, — ich lese oft laut vor mich hin, das sollten sie wissen -, und so wunderte ich mich, dass ich viele Jahre gelebt habe, ohne der Frage nachzugehen, ob Spinnen über Ohrenpaare oder doch wenigstens über einen zentralen Gehörgang, wo auch immer, verfügen. Ich saß also am Schreibtisch, ich las und die kleine getigerte Spinne, von der ich Ihnen erzähle, seilte sich zur Tastatur meiner Computermaschine ab. Ich hatte den Eindruck, dass ihr diese Luftnummer Freude machte, weil sie ihre Landung immer wieder hinauszögerte, indem sie den Faden, der aus ihr selbst herausgekommen war, verspeiste, demzufolge verkürzte. Vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich sie betrachtete, das ist denkbar, weil ich aufgehört hatte, laut zu lesen für einen Moment, um nachzudenken, vielleicht wollte sie, um sich mir darzustellen, auf meiner Augenhöhe bleiben. Das war genau in dem Moment als Marit nach ihrer letzten Nacht auf unsicheren Beinen die Treppe heruntergekommen war, Marit, die doch eigentlich seit Stunden schon tot gewesen sein musste. Marit setzte sich auf eine Treppe und begann zu weinen. Sicher werden Sie sich erinnern an Marit, wie sie auf der Treppe sitzt und weint, weil sie wusste, dass sie eine weitere letzte Nacht vor sich haben würde. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pause gemacht, weil ich erschüttert war, weil das Gift nicht gewirkt hatte. Ich saß vor meinem Schreibtisch und überlegte, ob auch sie, James Salter, erschüttert waren, als Marit so langsam, auf unsicheren Beinen die Treppe herunterkam. Und während ich an Sie und Ihre Schreibmaschine dachte, beobachtete ich die Spinne, die mit ihren sehr kleinen Beinen, den Faden, an dem sie hing, betastete. Ist das nicht ein Wunder, eine Spinne wie diese Spinne? Haben Sie schon einmal bemerkt, dass es nicht möglich ist mit einer elektrischen Schreibmaschine zwei Buchstaben zur gleichen Zeit, also übereinander, auf das Papier oder den Bildschirm zu schreiben? Immer ist einer vor, niemals unter dem anderen. Mit herzlichen Grüßen. Louis.
körperzeit
15.35 – Körperzeit kennt nur eine Richtung. Die elektrische Wahrnehmung der Wirklichkeit, der gegenwärtigen wie der vergangenen Wirklichkeit, scheint dagegen niemals linear zu sein. Vielleicht deshalb, weil sich die Substanzen der Erinnerung wie Flüssigkeiten verhalten. Eine Ordnung hineinzudenken fordert Arbeit, ein Vorher und Nachher zu identifizieren, Konsequenz. Nie kann ich sicher sein, ob ich meine vergangene Zeit gerade wiederfinde oder ob ich eine ganz andere, nie dagewesene Zeit erfinde. — Habe einen Katalog jener Erscheinungen erstellt, die ich in der Google Earth Pixelwelt aufsuchen werde, beispielsweise Kamelkolonnen auf einer Wüstenoberfläche oder die Spuren des Krieges in der Stadt Grosny, Ground Zero, Goldgräbersiedlungen am Amazonas, meine alten Spazierwege in Paris, Eisverkäufer im Central Park, die kleine Stadt Petuschki und ihre Eisenbahn, Elephantisland, Menschenkarawanen auf dem Chomolungma, Soveto, Lampedusa, Alcatraz. — Null Uhr siebzehn in Lhasa, Tibet. — stop
malcolm lowry
3.18 — Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinausgetragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notizgerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, Dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — stop