echo : 17.12 — Eine alte Frau, zarte, gebeugte Erscheinung, die sich in der Nähe eines Geldautomaten in deutscher Sprache bei mir meldet. Sie will wissen, wie es mir geht, erzählt, dass ihr das Gehen schwerfalle, dass sie ihr Leben lang eine Handtasche mit sich getragen habe. Nun aber der Stock, dieser verdammte Stock. Dann kommt sie zur Sache. Merkwürdig helle Augen. Sie fragt in englischer Sprache, ob ich vielleicht etwas Geld für sie in meiner Manteltasche finden könne. Ja, sie spricht diesen einen Satz in englischer Sprache, als würde nicht sie, sondern eine ganz andere Frau um etwas Unterstützung zum Weiterleben bitten. — stop
Aus der Wörtersammlung: finden
zenitschnecke
tango : 20.56 – Das Erfinden ist ganz sicher eine Übung des Lauschens. — stop
zivilisation
romeo : 5.51 — Ein schwergewichtiger Mann unlängst am Ende der Nacht während einer Straßenbahnfahrt. Drückt mich samt Schreibmaschine zur Seite. Ein harter, zunächst schweigender Körper, fahles Gesicht. Dann mit gepresster Stimme. Ich sei einer, der in der 1. Klasse reisen sollte. Unterdrückte, massive Gewaltbereitschaft, die bei leisester Provokation hemmungslos auszubrechen droht. Enormer Hass aus kleinen Augen. Ein Moment, da ich glaube, dem Bösen höchstpersönlich zu begegnen. Der massige Mann folgt mir an diesem Frühlingsmorgen klarer Luft über die Straße. Das Singen der Amseln in den Bäumen. Der glühende Wunsch in meinem Kopf, die Gestalt hinter mir mittels eines Skalpells sorgfältig in kleinste Teile zu zerlegen. Ein Hauch nur, so fein die Haut der Zivilisation, die mich im Innern schützt. — Erneut endende Nacht. Ein Reporter stand gerade noch vor mir auf einem Dach in Tokio. Er sagte, diese Situation, morgens zu erwachen und zu bemerken, dass wieder ein Kernreaktor explodiert ist, sei surreal. — Man müsste, denke ich, auf der Stelle Käferwesen erfinden, die sich rasch vermehren, Milliarden Käfer Stunde um Stunde, Wesen, die sich unverzüglich auf die Jagd nach kleinsten Teilchen in der Atmosphäre machen würden, um sie zu verspeisen, weil das ihre Bestimmung ist, ihre Leidenschaft, das Jagen, das Fangen und das Segeln auf strahlenden Flügeln weit aufs Meer hinaus. — stop
fernsehmaschine
tango : 22.08 — Bilder von der Fernsehmaschine, die einem Albtraum entkommen. Das Meer reißt menschliches Leben an sich, eine gewaltige, flüssige Faust, die auf schwankendes Land niedergeht. Atomare Höllenhitze in zerbrechlichen Gefäßen. Ein kleiner Junge steht unter Nadelbäumen, erhobene Hände, vor einer erwachsenen Person, die einen Schutzanzug trägt. Der Astronaut misst, ob das Kind gefährlich geworden ist. Uralte Menschen ruhen in der kalten Luft auf Bahren in Decken gewickelt dicht über dem Boden, Neugeborene in ihren letzten Lebenstagen, die mit wild gewordenen Augen den Himmel betasten. Von Stunde zu Stunde zählen Kommentatoren in den Sprachen dieser Welt Geisterzahlen, Tote, Vermisste, Verletzte. Da ist ein brausendes Geräusch, schwarzes Wasser, das Autos, Schiffe, Häuser durch enge Straßen landeinwärts drückt, Hupen, blechernes Krachen, keine menschlichen Stimmen. Am Strand dann aber ein Mann, der zu einer Kamera spricht. Er sagt, er glaube, sich in einem Horrorfilm zu befinden, er wisse nicht, ob er träume. Mit einem festen Griff reißt er an der Haut seines Gesichtes. Das Unsichtbare schon anwesend. Weit draußen auf dem offenen Pazifischen Ozean treibt ein weiterer Mann. Er steht auf dem Dach seines eigenen Hauses. — stop
an der nachtzeitküste
ginkgo : 6.00 – Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie, 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hatte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Charlie ist ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben. Hermann Burger — stop
von der hölle / von der hoffnung
marimba : 0.55 — Sie singen wieder! Vielleicht haben Sie nie aufgehört. Teheran bei Nacht. Auch Persiankiwi und Fereshteh Ghazi, die für lange Zeit verstummten, senden auf Position Twitter. Der Eindruck, ein Film, der im Sommer 2009 angehalten wurde mit extremen Mitteln staatlicher Gewalt, setze sich langsam erneut in Bewegung. stop. Das Schweigen. stop. Die Stille. stop. 18 Monate. stop. stop. / 26. juni 2009 : F. erzählt von Nächten, die er vor 30 Jahren in den Straßen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgend jemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? – Furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq – situation today is terrible – they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads – blood everywhere – pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th
they were waiting for us – they all have guns and riot uniforms – it was like a mouse trap – ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground – she had no defense nothing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting – from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed – nowhere to go – they follow ppls with helicopters – smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet – getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat – blood everywhere – like butcher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile – so many killed today – so many injured – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan – unbelevable – ppls murdered everywhere – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like factory – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move – Mousavi – Karroubi even rumour Khatami is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get internet – they take 1 of us, they will torture and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green – pls remember always our martyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the creator of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th
stehschläfer
sierra : 2.24 — Stehschläfer, wie man vielleicht meinen möchte, sind keine Vögel, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer sind Menschen, Menschen nämlich, die sich genau so verhalten, wie das Wort, das sie bezeichnet, sie schlafen im Stehen. Das ganz Besondere, das Seltsame ist, dass diese Art der Stehschläfer in meinem Leben bisher nicht vorgekommen ist, noch vor einer halben Stunde hatte ich nicht die leiseste Ahnung ihrer Existenz, aber dann war da plötzlich dieses Wort Stehschläfer in meinem Kopf, in dem ich nach Mitternacht durch die Hallen des Flughafens wanderte, müde vom Lesen, müde auch vom Denken. Dieser Frieden, der hier zu finden ist, die Ruhe der Liegenden, der Sitzenden, bald werden sie davonfliegen nach Übersee vielleicht, oder nach Moskau, wo man sterben kann in den Spuren eines versteckten Krieges, der bisweilen Menschenleben zerstörende Funken nordwärts schleudert. Dort, in diesem Frieden einer Flughafenhalle bei Nacht, muss jemand im Stehen geschlafen haben. Ich habe ihn vielleicht aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen, eine nicht bewusste Sekundenbetrachtung, die genügte, das Wort Stehschläfer hervorzurufen. Oder ich habe das Wort Stehschläfer gedacht, und kurz darauf einen Mann gesehen, der niemals existierte. — stop
salamander
echo : 16.22 — Das erfindende Schreiben scheint ein Vorgang des Wartens zu sein. Immer wieder fällt etwas zu mir herein, ohne dass ich sagen könnte, warum gerade dieses und warum gerade jetzt. Merkwürdige Verschiebungen der Sprache in der Nähe anatomischer Arbeit, indem ich, beispielsweise, von innerer Schönheit spreche. stop. Nachmittag. stop. Leichter Schneefall. — stop
herr auf bahnsteig
echo : 6.28 — Ein älterer Herr abends spät auf dem Bahnsteig einer Metrostation. Der Mann ist offensichtlich glücklich. Gerade noch, vor wenigen Minuten, passierte er mit einem Koffer in der linken Hand eine Bildschirmwand, las im langsamen Gehen einen Text, der eine halbe Minute zuvor dort erschien. Dieser Text, eine Meldung, berichtet von Forschungsergebnissen eines nordamerikanischen Institutes, man habe nämlich herausgefunden, dass die Intensität der Gefühle mit dem wachsenden Alter eines Menschen steigen würde, man könne sich mit 60 Jahren am besten in eine andere Person hineinversetzen, gleichwohl schwierigen Zeiten etwas Gutes abgewinnen. Wie er diesen Text nun liest, wird der alte Mann langsamer, hält schließlich an, wendet sich dem Licht des Bildschirmes zu, setzt den Koffer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vorne gebeugt steht er da, ein Schatten, eine Silhouette, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nachricht, die von der Natur, vom elektrischen Wesen des alten Mannes persönlich erzählt, verschwindet und stattdessen ein Wetterbericht (Eis und Schnee), eine Reiseempfehlung (Ägypten), sowie aktuelle Devisenkurse (Dollar steigend) erscheinen. Der alte Mann wartet, er wartet zwei oder drei Minuten, bis der Text, den er studierte, wiederkehrt. Weitere Minuten vergehen, dann nimmt der alte Mann seinen Koffer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz herum, sieht mich an, er lächelt und geht weiter. Eine Frau nähert sich in diesem Moment, da ich notiere, dem Luftraum vor dem Bildschirm. Sie trägt einen länglichen Pappkarton, in dem sich, einer Zeichnung folgend, ein Weihnachtsbaum (Tanne) befinden soll. Aber das ist schon eine ganz andere Geschichte. Guten Morgen! — stop
verschwinden
tango : 18.57 — Was hätte ich zu unternehmen, wenn ich wüsste, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen mit dem Gedanken spielte, mich so rasch wie möglich ums Leben zu bringen. Wie viele Spuren meines Aufenthaltsortes sind in dieser Textlinie zu finden, sodass man die Positionen, die ich bewohne, identifizieren könnte. Weiß man von meinen Freunden? Welche Verzeichnisse im Internet müsste ich von Hinweisen befreien, wen inständig bitten, kein Wort über mich zu verlieren? Wie also unsichtbar werden, nach und nach einer sein, der nie existierte? Ich könnte mich bewegen, reisen, bis ich ein armer Hund geworden bin. Könnte dann innehalten, könnte vorgeben, als habe ich geträumt, meine perforierte Seele, oder selbst noch zum Jäger werden. — stop