nordpol : 8.05 — Ich muss eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen sein. Stand vor dem Schreibtisch, hatte meinen rechten Arm senkrecht in die Luft gestreckt, übte mit dem Zeigefinger die kreisende Bewegung eines Propellers. Beobachtete das subkutane Spiel der Muskeln, bemerkte weitere Bewegung unter dem Hemd, krempelte das Hemd bis zum Ellenbogen hoch. stop. Die kleine uralte Narbe am Daumen. stop. Spur einer großen Geschichte. stop. Der Geschmack von Honig im Mund. Das Summen der Bienen. Die nackten Beine eines Mädchens. Ihre heiße Hand, die meinen schwellenden Daumen untersucht. Atem, der kühl ist. Eine helle Stimme, so viele Jahre alt. Sommerblumen. Wolken. Schlaf. Das schmelzende Eis auf meiner Stirn. — stop
Aus der Wörtersammlung: geschichte
glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller
~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER
Lieber Mr. Nabokov, gestern Abend, nach einem langen Spaziergang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halbwegs betrunkene Freunde saßen, hab’ ich mich an ihre Vorlesung über Franz Kafkas Verwandlung erinnert, an Ihre liebevolle und akribisch genaue Untersuchung des Textes, an ihre Käferzeichnungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstellung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa eingeschlossen worden war. Ja, die Genauigkeit, mit der man sich erfindend einem Gegenstand nähert oder die Genauigkeit, mit der man einen erfundenen Gegenstand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Untersuchungen, Ihrer Methode. Vorgestern hatte ich bei einer ersten Annäherung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propellerflügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Organismen nur sehr schwer zu verwirklichen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Organismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstellung der Propellerflügel nicht so ohne Weiteres aufzugeben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus organischen Materialien bestehen wird, vielleicht auf atomarer Ebene einem flugfähigen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Moleküle, die im Moment einer Flugbewegung, den Rotor von Haut und Knochen einerseits anzutreiben in der Lage sind und andererseits je für einen kurzen Moment in die Freiheit entlassen. Und jetzt bin ich glücklich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – mit allerbesten Grüßen, Ihr Louis
animals : eine luftgeschichte
delta : 7.45 — Im Wesentlichen existieren drei Arten von Geschichten. Fertig anwesende, erlebte Geschichten. Rein aus der Luft gefangene, das heißt, erfundene Geschichten. Recherchierte Geschichten. stop. Animals, zum Beispiel, die Geschichte der Entdeckung lebender Papiere. stop. Eine Luftgeschichte. stop. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. stop. Was brauche ich? stop. Zwei Kühlschränke, fünf U‑Bahnwaggons, drei Kaffeehäuser, eine Handvoll Abendsegler, Stadtmenschen, ein Radiogerät. stop. Und Papiertiere stop. Sehr kleine Herzen, ebenso kleine Gehirne, Münder und Verdauungstrakte. stop. Auch Propellerflügel. stop. Feinste Ware. stop. Was brauche ich noch? stop. Räume der Zeit und einen ersten Satz. stop. Geduld. stop. Das Geräusch meines Bleistifts auf grobem Papier.
geraldine : ein wunder geschieht
~ : geraldine
to : louis
subject : EIN WUNDER GESCHIEHT
Als es noch dunkel war, bin ich wach geworden, weil das Schiff unter mir schlingerte. Wasser schlug gegen das Bullauge über meinem Bett. Ich setzte mich auf und spürte, dass ich an diesem Tag Kraft haben würde. Ich hatte so viel Kraft, dass ich mühelos meinen Bademantel und meine Jacke anziehen konnte. Nur als ich mir die Schuhe binden wollte, wurde mir schwindelig und ich wäre um ein Haar umgefallen. Wissen Sie, Mr. Louis, dass ich plante, ganz allein für mich das Hauptdeck zu erklimmen. Verrückt, finden Sie nicht auch? Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, weil der Seegang mich schaukelte, aber ich schaffte eine Treppe und noch eine Zweite, dann ging ich in die Knie. Ein älterer Herr weckte mich, seine Haut war schwarz und sein Haar schlohweiß. Er half mir aufzustehen, und ich sagte ihm, dass ich das Hauptdeck erreichen wollte, aber anstatt mich vor das Meer zu setzen, setzte er mich in ein Café und hörte mir zu und wunderte sich, dass ich so blass war. Ich habe ihm nichts von meinen schweren Gedanken erzählt, aber davon, dass ich Seepostbriefe an meine Schwester Yanuk schreibe, die ich sehr liebe, meine Zwillingsschwester, die ein Kind erwartet, ein Kind, das vielleicht einmal wie seine Mutter Yanuk heißen wird. Ich glaube, er freute sich, und dann erzählte er eine feine Geschichte. Er sagte, dass er vor vielen Jahren sehr verliebt gewesen sei. Die Frau, die er liebte, war eine weiße Frau gewesen, die in einer der besseren Gegenden der Stadt wohnte, während er selbst in einem ärmlichen Viertel in einem Backsteinhaus lebte. Anfangs schrieb sie ihm Briefe, sagte der Mann, aber er hatte diese Briefe zunächst nicht erhalten, weil der Briefkasten seines Hauses verschwunden war. Sie besuchte ihn und fragte, warum er ihr nicht antworten würde, und er erzählte, dass nicht nur der Briefkasten verloren gegangen sei, sondern das ganze Haus sich in Auflösung befinden würde. Dann geschah ein Wunder. Am übernächsten Tag kam ein Postauto mit einem Postmann, der einen feuerroten Briefkasten an das Haus schraubte, während der alte Mann, der damals noch jung gewesen war, zugesehen hatte. Auf den Briefkasten war die Adresse seines Hauses und sein Name geschrieben und er war mit einem Dutzend großartiger Briefmarken beklebt. Natürlich hatte sich der alte Mann sehr gefreut. Und als er am nächsten Tag wieder zum Briefkasten ging, lag ein Brief für ihn darin. Ich musste weinen, Mr. Louis, als ich diese Geschichte hörte. Dann trug mich der alte Mann mit einem Steward in meine Kajüte, und da sitze ich nun auf meinem Bett und schreibe an Sie, während die Gischt über meinem Bett mit meinem Bullaugenfenster spricht. — Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 03.12.2008
22.08 MEZ
walfischspaziergang
himalaya : 8.05 — Wie ich morgens erwache und anstatt in einem Zimmer zu liegen, mich unter einem schönen freien Himmel wiederfinde. Das ist eigentlich noch keine große Sache. Ich würde zunächst die Augen schließen und denken, das kenne ich doch, wie oft schon bin ich von einem Traum in den nächsten gewandert. Ganz still würde ich warten, um kurz darauf meine Augen erneut zu öffnen, und schon wieder oder noch immer wäre dieser schöne Himmel über mir, ein leichter Wind würde wehen und die Luft duften nach Salz und Tang. Wie ich mich aufsetze und schaue, hurra, Wasser in allen Richtungen, Wasser hin bis zum Horizont. Was für ein seltener Anblick, was für eine merkwürdige Erfahrung! So plötzlich auf hoher See, und der Boden, auf dem ich sitze, zittert, nein bebt, nein pulst, und ich würde denken, wie kostbar dieses Leben doch ist und dass ich mich nicht erinnern kann, wie ich hierher auf den Rücken eines Wales gekommen bin. – Es ist jetzt zwei Stunden nach Mitternacht, die Luft riecht nach Schnee und die Welt ist still. Alles schläft. Auch Sie werden schlafen, während ich diesen Text notiere. Aber nun ist etwas Zeit vergangen, und da Sie wach geworden sind, werden Sie vielleicht fragen, wie ich zu dieser Überlegung einer nächtlichen Meereslandung gekommen bin. Nun, das ist ganz einfach. Vor wenigen Tagen hörte ich, eine Frau habe sich gewünscht, einmal in ihrem Leben auf dem Rücken eines Wales zu stehen. Sie würde sich, sagte man, ihrer Schuhe entledigen und auf dem Rücken des Wales spazieren wie auf einem Unterseeboot. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn dieser Wal, von dem hier tatsächlich die Rede ist, sich nicht in der Nähe einer Küste, sondern auf dem offenen Meer, auf hoher See, befinden würde. Ja, und was würde geschehen, wenn der Wal zu tauchen wünschte, vielleicht weil er hungrig geworden ist, obwohl er doch die Schritte einer Menschenfrau auf seinem Rücken spürte. Stellen Sie sich vor, ich weiß, wie er das macht. Der Wal wird langsam und geräuschlos sinken, jawohl. Aber noch ehe vollständig in die Tiefe abgetaucht werden wird, wird er noch einmal zurückkehren und ruhig neben der schwimmenden Frau im Wasser liegen, wird etwas Luftschaum blasen und ihr sein Auge zeigen. Ja, so genau wird der Wal das machen, und dann wird er in der Tiefe verschwunden sein, und vielleicht, nein, sehr sicher, wird die schwimmende Frau einen feinen Gesang aus der Tiefe vernehmen, die Geschichte einer Begegnung von einem Wal den Walen erzählt, eine Kurzgeschichte, mehr Zeit ist nicht. — stop
gedankengeschichte
romeo : 16.25 — Mit einer jungen Ärztin im Gespräch über Menschen, die sich aus modischen Gründen von kleineren Teilen ihrer Wangen trennen, um sie durch edelste Hölzer zu ersetzen, je nach Teint, stellte ich mir vor, hellere oder etwas dunklere Materialien, die man polieren kann, die glühen wie die Substanzen feiner Pfeifenköpfe. Ich erzählte diese Gedankengeschichte bei einer Tasse Schokolade, rückte mit meiner Fantasie langsam vorwärts, weil ich erwartete, sie würde vielleicht aufspringen und sich entfernen wollen. Stattdessen stellte sie die Frage, ob man die Materialien des Waldes, über die ich nachgedacht hatte, als Schmuckware betrachten sollte, die im Fleisch des Körpers schwimmen würde, oder eher um Bojenkörper, welche mit einem der Gesichtsknochen verbunden sein müssten. Sie machte eine kleine Pause und noch ehe ich antworten konnte, stellte sie nüchtern fest: Die Ränder der Natürlichkeit sind ein Problem. stop. Kurz nach vier Uhr und fast schon dunkel. Seit einer Stunde Regen. Er kommt in einer Weise vom Himmel gefallen, dass ich ihn wieder hören kann. — stop
nehmen wir einmal an …
foxtrott : 7.28 — Nehmen wir einmal an, ich würde gefragt, ob ich vielleicht über ein weiteres Auge verfügen möchte, ein wirkliches drittes Auge, ein Auge für sich, ein Auge, mit dem ich in die Welt hinausschauen könnte, was wäre zu tun? – Ruhe bewahren! – Nachdenken! – Antworten! – Sehr bald antworten, jawohl ja, das wäre ein feines Geschenk, dieses Auge würde ich sehr gerne und sofort entgegennehmen. Natürlich würde das nicht so leicht sein, ich meine, die Übergabe eines weiteren Auges an meinen bereits existierenden Körper, wie man sich das vielleicht vorstellen mag, nein, nein, das wäre sicher eine außerordentlich komplizierte Geschichte. Ein geeigneter Ort würde zu finden sein, an dem das brandneue Sinnesorgan an meinem Körper oder in meinem Körper montiert werden könnte, und ich müsste mich vielleicht zunächst entscheiden, welcher Art das Auge sein sollte, ein großes, strahlendes Schmuckauge beispielsweise, oder ein eher kleines, kaum sichtbares Auge, ein geheimes Auge, sagen wir, um unbemerkt die Welt um mich herum untersuchen zu können. An diesem schönen Nebelmorgen nun, ich bin noch nicht ganz wach geworden, würde ich Folgendes fragen: Ist es eventuell möglich, das Auge rechter Hand in den mittleren Fingerknöchel nahe dem Handrücken einzusetzen? Wann könnten wir damit beginnen? Sind Sie noch bei Verstand, oder wie oder was? — Ja, so würde ich wohl sprechen, genau diese Bestellung würde ich aufgeben. Stellt sich nun die Frage, was würde ein Auge dieser Art mit meinem Gehirn unternehmen? Würde es wachsen? Und wohin würde es wachsen? — Ich muss das nicht heute entscheiden! — stop
nadja einzmann : zeit vergeht
tango : 8.25 — Ein warmer Wind wehte gestern Abend Laub von der Straße her ins Café. Lauschte einer angenehmen Stimme. Hörte eine Geschichte, die einmal meine Geschichte gewesen war und noch immer zu mir gehört und doch eine ausgewanderte, eine geschenkte Geschichte ist. Diese Geschichte schildert eine erste Wahrnehmung der Zeit. Als ich sie vor zwei oder drei Jahren an genau jenem Tisch erzählte, an dem sie nun aus einem Buch vorgelesen wurde, hatte ich nicht die Erwartung, sie einmal kunstvoll zwei Sätzen eingeschrieben und gedruckt zu sehen: Seine vielleicht erste Erinnerung, dass er unter dem Weihnachtsbaum liegt und sich in einer roten Weihnachtskugel spiegelt. Als er sich im folgenden Jahr wieder so gespiegelt vorfindet, denkt er zurück und weiß auf einmal, dass Zeit vergangen ist, dass Zeit vergeht. Nadja Einzmann
one minute filmzeit
echo : 8.25 — Die Beobachtung, dass man einen Minutenfilm entlang die Luft anhalten könnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren. — stop
callas box
alpha : 8.02 — Gestern Abend die Arbeiten an Callas Box 2.0 aufgenommen. Suchte zwei Stunden einen Zugang zur Struktur seltsamer Codes, die ich vor Jahren notierte. — Früher Morgen jetzt. Erste Straßenbahnen kreuzen vor dem Fenster. Vom Dach her, durch den Kamin getragen, das Gespräch der Tauben. Für einige Stunden habe ich die schwere Mechanik der Zeit vergessen. — stop