india : 5.08 — In einer experimentellen Abteilung der Akademie bildender Künste zu Manaus wurde gestern Abend gegen 18 Uhr eine Hautzwergtulpe auf die linke Schulter einer jungen Künstlerin verpflanzt. Dorthin wurden bereits am Sonntag während einer mehrstündigen Operation weitere Hautgewächse transportiert, ein Leberblümchen, eine Nachtschatteniris, sowie zwei Silberdisteln, die unverzüglich blühten. Ein Wunder, möchte man meinen. — stop
Aus der Wörtersammlung: geste
k.a.i.r.o.
MELDUNG. Fünf mit Handfeuer bewaffnete Beamte [ Soko K.a.i.r.o ] haben zu Arles zwei Ägypter sichergestellt, filigrane Meißel weiterhin [ 0.3 Zoll Kantenlänge ], sowie zwei Handtäschchen [ türkise ]. Folgende kryptische Signatur war dem Sockelgestein des Amphitheaters [ innere Nordseite ] beigebracht : 6MUG5DRS8. Auch diese Ägypter [ Ägypter No 17 und 18 des laufenden Jahres ], je 178 cm hoch, mittleres Alter, verweigern freundlich jede Aussage. – stop
auf stelzen
delta : 5.15 — Ein merkwürdiger Tag, die halbe Stadt steht im Wasser wie auf Stelzen. Man hört das Wasser nicht, aber es ist anwesend, in den Kellern, in den Stimmen in den Telefonen, den Unterführungen, den tiefer gelegenen Straßen. Spät, hoch auf einem Stelzhaus, sagte Marguerite Duras in einem Gespräch mit dem französischen Regisseur Benoît Jacquot gestern auf einem Fernsehbildschirm berührende Sätze über das wilde Schreiben, über die Verbindung von Zweifel und Einsamkeit. Ein Schriftsteller sei stumm. Unmöglich, über ein Buch zu sprechen, das gerade im Entstehen begriffen ist. Ein Buch sei Nacht. — stop
zebraaffen
whiskey : 0.01 — Ich sollte einen Brief schreiben. Der Inhalt des Briefes wäre bedeutungslos, weswegen ich auf ein Schriftstück im Umschlag verzichten könnte. Ich werde per E‑Mail Folgendes notieren: Lieber L., in wenigen Tagen, wenn alles gut gegangen sein wird, wirst Du einen Brief erhalten. Sollte Dich der Brief tatsächlich erreichen, musst Du ihn nicht öffnen, das Kuvert ist leer. Würdest Du mir bitte den Empfang des Briefes bestätigen. Ich wäre Dir dankbar, es ist ein Versuch. Ja, so werde ich notieren, den Brief sorgfältig adressieren, auch mein Absender wird nicht fehlen. Ich stelle mir vor, einen größeren Briefumschlag zu verwenden, ich werde 1 gültiges Postwertzeichen befeuchten und auf dem Brief befestigen. Von diesem gültigen Postwertzeichen abgesehen, werden 25 weitere Postwertzeichen auf dem Umschlag zu finden sein, sagen wir Briefmarken, die Giraffen und Fische zeigen, Schmetterlinge, Zebraaffen, Vögel, Insekten. Diese Briefmarken ferner Länder, die ich von weiteren Briefen löste, werden natürlich bereits gestempelt sein, man könnte sagen, dieser Brief wird geschrieben werden, um die Sorgfalt der Behörden zu probieren. — stop
leon grog abends
echo : 2.55 — Am Flughafen, in einem Wartesaal unter dem Terminal 1, hockte ein älterer Mann am späten Abend auf einer Bank. Neben ihm stand eine Flasche Milch auf dem Boden, sowie eine kleine, arg ramponierte Ledertasche, die man früher vielleicht einmal über die Schulter hängen konnte, aber der Riemen der Tasche war vom langen Tragen zerschlissen, baumelte zu Teilen von den Seiten der Tasche, die leicht geöffnet war, sodass ein Blick möglich wurde auf einen Stapel von Luftpostbriefen, die sich in die Tasche fügten, als wären sie genau für diese Tasche gefertigt oder aber die Tasche für genau diese Sammlung scheinbar weit gereister Briefe. Sie waren vielfach geöffnet worden, vielleicht gelesen, das war deutlich zu erkennen. Einen der Briefe hielt der Mann gerade in dem Moment, da ich ihn auf der Bank bemerkte, an sein Ohr, er schien zu lauschen. Seine Augen hatte er geschlossen, er wirkte konzentriert, ja andächtig. Als ich von dem alten Mann in dieser Haltung eine Fotografie mit meinem Telefonapparat machen wollte, sah er mich plötzlich an und hob in einer reflexartigen Bewegung den Brief in die Höhe, sodass sein Gesicht nun beinahe ganz verdeckt war. Da ging ich weiter, um nicht zu stören, aber der Mann rief mir zu: Warten sie, setzen sie sich! Er überreichte mir den Brief, mit dem er kurz zuvor noch sein Gesicht maskiert hatte, und forderte mich auf, das Kuvert an mein Ohr zu halten. Der Brief knisterte, als ich ihn in meine Hände nahm. Auf der Anschriftseite des Briefes war mit feinen Zeichen folgender Schriftzug aufgetragen: Leon Grog, Av. Rovisco, 26, Lisboa. Der Mann lachte und deutete auf sich selbst: Das bin ich, sagte er, Leon. Er wies mit einer großzügigen Geste auf eine Briefmarke hin, die akkurat am rechten oberen Rand des Briefes befestigt wurde, ein Stück Himmel war zu erkennen von hellem Blau, und ein blitzendes Flugzeug, eine Caravelle, die soeben zu starten schien. Als ich selbst die Briefmarke an mein Ohr legte, hörte ich ein helles Rauschen, ich hörte die Motoren des Flugzeuges und schloss die Augen, wie der Herr zuvor seine Augen geschlossen hatte. Als ich sie wieder öffnete, bemerke ich einen weiteren Brief, der gleichfalls an Herrn Leon Grog adressiert worden war, wiederum nach Lissabon, während der erste Brief aus den Vereinigten Staaten gesendet worden war, kam dieser hier von Kolumbien her, eine Briefmarke zeigte etwas Regenwald und einen Nashornvogel von prächtigem Gefieder. — stop
von den katzenschnecken
alpha : 4.05 — Ich will, ehe es hell werden wird, noch schnell von einer besonderen Schneckengattung erzählen, von den Katzenschnecken nämlich. Ich gestehe, ich habe kein Tier dieser Art mit eigenen Augen gesehen, aber ich habe von ihnen gehört, man erzählte, nein, man versicherte, sie würden tatsächlich bereits wirklich existieren. Das Besondere an diesen Molluskentieren soll sein, dass sie menschlicher Schöpfung sind, jemand muss eine gewöhnliche Weinbergschnecke mittels eines speziellen genetischen Codes so veredelt haben, dass sie sich sehr schnell, in etwa so schnell und hektisch wie größere Ameisen bewegen. Aber warum, fragte ich mich, sollte man Schnecken, die doch von Natur aus eher gemütliche Persönlichkeiten sind, beschleunigen? Man erklärte, man habe überlegt, dass Schnecken, wenn man sie beschleunigen würde, für die Augen der gemeinen Landkatzen sichtbar werden würden und somit zur Beute. Katzen würden fortan allerhand Probleme lösen, die sich für Gartenbesitzer im Frühling nach und nach entfalten. Ist das nicht wunderbar, rasende Schecken, ein paar Hundert von Ihnen sollen sich bereits in den Bergen auf einer streng behüteten Wiese tummeln? Von den Katzen, die man vor drei Tagen ins Schneckenfreiluftgehege warf, soll noch keine einzige zurückgekehrt sein. — stop
fritz stern
tango : 22.22 — Fritz Stern ist in New York gestorben. In einem Interview mit Kulturzeit erklärte er noch im Februar: Beschäftigt Euch mit der Vergangenheit, um sich an den menschlichen Schicksalen aus der Vergangenheit zu orientieren, sich zu erinnern, und das nicht einfach hinzunehmen und zu glauben, dass die Errungenschaften der Zeit zwischen 1945 und — sagen wir mal — 1970, dass man das nicht einfach als gegeben hinnehmen kann. Und zu glauben, das ist so, das bleibt so. Es bleibt nur so, wenn man es verteidigt. Dieser Appell sollte gerade an die Jugend gestellt werden. Ich weiß nicht, wie weit das im Augenblick geschieht. Ich glaube, nicht genug. — stop
vor neufundland 03.15.06 : YOKO oder die liebe
ulysses : 3.55 — Gestern sendete Noe eine Frage. Er wollte wissen, in welchem Monat wir leben. Eine größere Gruppe weißer Wale habe ihn nordwärts passiert. Er habe den Verdacht, es werde Frühling, er wünschte, bald wieder einmal Besuch zu erhalten. Kurz darauf eine weitere Meldung Noes aus 805 Fuß Meerstiefe vor Neufundland > ANFANG 03.15.06 | | | > großartige aussicht wieder. s t o p langsam aufsteigender wal. s t o p muschelrücken. s t o p kraterhaut. s t o p als würde der mond an mir vorüberziehen. b i g y e l l o w f i s h s o u t h w e s t. s t o p träumte von yoko. s t o p träumte ihren mund ihre stimme ihre brüste. s t o p spürte ihren atem an hals an brust an nase. s t o p wird man vielleicht seltsam mit der zeit mit dem meer? s t o p lange zeiten der stille der erinnerung. s t o p schluss jetzt. s t o p fangen wir noch einmal von vorn an. b l u e b o x f r o m a b o v e . ich spreche mit mir selbst. s t o p denkbar dass ich eine tonspur hinterlasse. s t o p vielleicht bin ich im radio zu hören. s t o p ob yoko mich hören kann? s t o p kein komma zu finden nicht eine taste s t o p habe den verdacht jünger zu werden. s t o p die liebe. s t o p. erstaunlich. s t o p | | | ENDE 03.16.25 – stop
sekundenseide
sierra : 3.15 — Geschichten, die in Sekundenschnelle als Möglichkeit erscheinen, ihr Ursprung, ihre Entdeckung, in dem Moment, da ich meine Augen schließe, so plötzlich, dass ich ihre Anreise nicht bemerke, die Geschichte von den Papieren und ihren Geräuschen in einem U‑Bahnwagon beispielsweise, eine Summe von Wahrnehmung, von Erfahrung, von neuronalen, unbewussten Aufnahmen, das murmelnde Gespräch der Menschen unter dem Schepperschirm einer Blechkiste, die von Coney Island aus nordwärts fährt, der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Ein oder zwei Minuten von Ruhe, dann, plötzlich, blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine Sekunde, die nicht vergisst. — stop
ai : TSCHAD
MENSCHEN IN GEFAHR: „Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji werden vor Gericht gestellt, weil sie friedliche Demonstrationen gegen eine erneute Kandidatur von Präsident Idriss Déby geplant hatten. Die drei Männer und eine Frau befinden sich gegenwärtig im Amsinene-Gefängnis in N’Djamena. Ihnen drohen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Mahamat Nour Ibedou und Younous Mahadjir, zwei Sprecher von Ça suffit (Es reicht), einer Plattform für zivilgesellschaftliche Organisationen, wurden am 21. bzw. 22. März festgenommen. Nadjo Kaina Palmer, Koordinator der Jugendbewegung Iynia (Wir sind’s leid), ist ebenfalls am 22. März festgenommen worden. Celine Narmadji, die Sprecherin der zivilgesellschaftlichen Organisation Trop c’est trop (Genug ist genug), befindet sich seit dem 23. März in Haft. Alle vier Festnahmen erfolgten, nachdem die Aktivist_innen auf Anordnung des Staatsanwalts Alghassim Khamis zum Verhör in der Zentrale der Polizei erschienen waren. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji wurden zunächst in der Polizeizentrale von N’Djamena festgehalten und am 24. März gegen 13 Uhr ins Gefängnis Amsinene verlegt. Die vier Aktivist_innen hatten im Rahmen ihrer Tätigkeit für ihre Organisationen friedliche Demonstrationen für den 22. und 29. März geplant. Dabei sollte gegen den Plan des jetzigen Präsidenten Idriss Déby, für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren, protestiert werden. Mahamat Nour Ibedou, Younous Mahadjir, Nadjo Kaina Palmer und Celine Narmadji stehen wegen “Anstiftung zu einer unbewaffneten Versammlung”, “Störung der öffentlichen Ordnung” und “Missachtung einer gesetzlichen Anordnung” unter Anklage. Das Gerichtsverfahren ist für den 31. März angesetzt. Sollten die Aktivist_innen für schuldig befunden werden, drohen ihnen Haftstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 11. Mai 2016 hinaus, unter > ai : urgent action