himalaya : 6.05 — Vielleicht kann ich sagen, dass ich dann leidenschaftlich an einem Gegenstand, an seiner Verwandlung in Zeichen, in Sprache arbeite, wenn ich immer und immer wieder zu einzelnen Wörtern zurückkehre, weil sie bisher nicht die richtigen Wörter sind für dies oder das, oder weil überhaupt noch kein geeignetes Wort bekannt geworden ist, um einen bestimmten Ort, eine seltene Stimmung, eine besondere Farbe, ein atemloses Geräusch wiedergeben zu können. Mein Präpariersaal beispielsweise, fast vollständig schon in Zeilen übersetzt, da und dort aber noch die weiße Stille des Papiers, eine Morgenstille, sagen wir, wie ich allein dort im Saal unter Toten sitze. Sie sind noch bedeckt von feuchtem Tuch, und so schließe ich die Augen und notierte, was ich hören kann. Das knisternde, sausende Geräusch einer Ventilatormaschine. Eine Ambulanz von der Straße her. Das Ticken der Saaluhr minutenweise. Die Körper aber, einhundert Körper, sind still. Und doch sind sie nicht ohne Laut, weil ich ihre Stille zu hören meine. Auch in dieser Nacht wieder vergeblich nach dem einen möglichen Geräuschwort ihrer Abwesenheit gesucht. — stop
Aus der Wörtersammlung: hotel
feuerkäfer
himalaya : 15.01 — Mit Freude an der Entdeckung, an der Erfindung leuchtender Wörter : Piniensynapse Bobolino Lamelleniris Timbuktu Posaune Patagonien metropolitan Kirschwasser Kolonialwarenladen Unterwasserpanther Kamel Karawane Zündholz Lumumba Gottesanbeterin Kakteenorchester Flaneur Neufundland Penelope Stamperia Ohrfeige Schirokko Himmelsleiter Hibiskus Sandsturm Ohrenkuss Papierlicht Nashornvogel Pingpong luxieren Salamander Depesche Engelszunge Pyramidenbahn Glühbirne Sumatra Madras Semaphoring Centralstation Feuerkäfer Labyrinth Nachthaus Ölträne Schneespinne Holololunder : silenzio. — Sonntag. Leichter Regen. Wie verdammt gut die Luft heut riecht. — stop
tian’anmen
olimambo : 23.32 — Das Gespräch am späten Abend mit Din. Ihre leise, singende Stimme. Sie sei, als die Panzer kamen, in eine Seitenstraße geflüchtet. Wie sie ihre Augen schließt, wie sie sagt, sie habe keine Menschen mehr gesehen nach kurzer Zeit, einige Freunde nur, die sich an die Wände der Häuser drückten. Die Hand ihrer großen Schwester. Die Luft, die auf ihrem kleinen Körper bebte. Aber Menschenstille. Wie sie nach Wörtern sucht, nach Wörtern in deutscher Sprache, die geeignet wären, zu beschreiben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fortsetzung ihrer Erzählung warte, hört in ihrem Kopf. Das feine, das seltsame Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Ausdruck meiner Augen bemerkt, dass ich wahrgenommen haben könnte, dass die Bilder, die ich wusste, tatsächlich geschehen waren, das Massaker auf dem großen Platz, stolpernde Menschen, Menschen auf Bahren, zermalmte Fahrräder, der Mann mit Einkaufstüten in seinen Händen auf der Paradestraße vor einem Panzer stehend. Dann die Flucht ins häusliche Leben zurück wie in ein Versteck, das stumme Verschwinden junger Leben für immer. Staub. Du solltest mit Stäbchen essen, sagt Din, das machst Du so, schau! — stop
hibiscilli
himalaya : 22.02 — Stellte mir vor, ich arbeitete im Weltraum. stop. Wort für Wort, unbefestigt. stop. Denkbar, dass ich eine Erfindung bin. stop. Grandiose Idee. stop. t w o b l u e f i s h e s k i s s i n g m y w i n d o w
=
am viktoriasee
himalaya : 0.01 — Bilder. Bildschirmbilder, die ich wahrnehme, die mich berühren, weil meine Augen, mein Gehirn sie wahrnehmen, flüchtig, im Vorübergehen, im Nebenbeisehen. Ein Fischerboot auf dem Victoriasee. Wie lebende dunkelhäutige Männer in Shorts (sie stehen balancierend in ihrer hölzernen Schale) dunkelhäutige leblose Körper ohne Shorts in ihren Netzen aus dem Wasser ziehen. Das leuchtende, hellblaue Fleisch der Toten, die in Ruanda gewaltsam ihr Leben verloren, Nilbarschspeisefische haben von ihren Körpern gefressen. Zwei Tage lang ein Loop (CNN) vom Leichenfang, dann verschwanden die Bilder aus der Übertragungswirklichkeit.- stop
one man band
himalaya : 2.10 — Einmal, im Alter von fünf oder sechs Jahren, beobachtete ich einen Mann, von dem nichts zu sehen gewesen war, als die Spitzen seiner Schuhe, eine ramponierte Hose, ein rußiges Hemd und ein Hut mit Feder, weil der Mann von Musikinstrumenten geradezu überfallen gewesen zu sein schien. Ich hatte den Eindruck, dass nicht der Mann auf seinen Instrumenten spielte, sondern die Instrumente auf einem Gefangenen. An diese Geschichte, von meinem damals jungen Gehirn vor einem wirklichen Bild entworfen, erinnerte ich mich gestern Abend, während ich an der Konstruktion eines Rasselkäfers arbeitete. Bald geisterte die Gestalt eines weiteren Mannes durch meinen Kopf, auf dessen Körper hunderte knatternde Käferwesen Platz genommen hatten. Nein, sie hatten sich nicht eigentlich niedergelassen, sie waren fest mit ihm verbunden, sie waren Teil, sie waren ihm aus der Haut gefahren und knisterten und klapperten ohne eine Pausenzeit einzulegen, weswegen es sich bei jenem von mir eroberten Menschenwesen, um eine Person ohne Gehör handeln musste. Könnte dieser Mann glücklich sein? Ich wüsste gerne, was nun zu unternehmen ist! Schluss jetzt. Fangen wir noch einmal von vorne an. Heute ist Dienstag, Frühling und Winter. — stop
to mr. melville : callas box
~ : louis
to : Mr. melville
subject : CALLAS BOX
Lieber Mr. Melville, Hotel Echo Lima Lima Oscar! Wie geht es Ihnen? Ich hatte, während ich in den vergangenen Wochen an einer Walgeschichte arbeitete, immer wieder einmal an Sie gedacht, an Ihren weißen Wal Moby Dick in Worten und an seinen Schatten in der Wirklichkeit, an Mocha Dick. Wie sehr ich mir doch wünsche, Sie würden bald einmal zu meinen Walen Kontakt aufnehmen und mir dann rasch eine Nachricht übermitteln, ob meine speziellen Freunde wohl auch Ihnen Furcht einflössen könnten. Vielleicht werden Sie, wo auch immer Sie sich aufhalten mögen, etwas Zeit finden und lesen. Ist Ihnen bekannt, dass die Gesänge der Buckelwale über Strukturen verfügen sollen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist? Stunden habe ich demzufolge damit zugebracht, nach Botschaften zu suchen, nach Geräuschen, die mir etwas sagen, die meinem Gehirn Entdeckung, ja Nachricht sein könnten. Ich bin bisher nicht sehr weit gekommen, das ist richtig, aber ich werde nicht nachlassen, ich werde so lange den Gesängen der Wale lauschen, bis mir verständlich sein wird, was sie da singen oder sprechen. Meinen Namen loooouuuiiiiii meine ich jedenfalls schon aufgespürt zu haben. Das ist ein Anfang und ich bin zuversichtlich in den kommenden Wochen gut voranzukommen. Was, mein lieber Mr. Melville, ist unter einer einfachen menschlichen Sprache zu verstehen? – Ahoi! Ihr Louis.
eisenbahn
nordpol : 15.02 — Als ich gestern Nachmittag mit einer Suchmaschine in Sammelordnern des Jahres 2003 nach Notiztexten forschte, die ich in den Tagen des Irakkrieges notiert haben könnte, entdeckte ich eine Passage, die von einem Loch in meinem Perserteppich erzählt. Ich konnte das Loch damals von meiner Position aus als Beobachter auf dem Sofa vor dem Fernsehbildschirm gut erkennen. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, dieses Loch nun plötzlich zu betrachten, obwohl ich viele Jahre die Verletzung des Teppichs, eine Scharte von der Breite einer Hand, nicht wahrgenommen hatte. Ich glaube, ich hatte die Geschichte, die davon erzählt, wie das Loch in den Teppich gekommen war, ganz einfach vergessen. Aber dann war sie plötzlich gegenwärtig, weil ein amerikanischer Panzer während einer Liveaufnahme in Bagdad ein Hotel beschossen hatte, in dem sich Journalisten befanden. Die Granate des Panzers traf einen Balkon und auf diesem Balkon einen Kameramann, dessen Körper, der noch heftig blutete, mit dem Aufzug ins Foyer gefahren wurde. Eine Stimme auf dem Bildschirm kommentierte das Geschehen mit dem Satz, der Journalist habe sich im falschen Moment am falschen Ort befunden. Und da war nun jene Geschichte von einer Sekunde zur anderen Sekunde wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt, die Geschichte, die vom Loch in meinem Perserteppich erzählte. Ich saß auf dem Sofa und notierte, dass ich mich wundere, und ich betrachtete den Teppich und das Loch, das von dem Splitter einer britischen Granate im Jahr 1942 in das Gewebe gerissen worden war, und für einen Augenblick sah ich meinen Vater, ein Kind, wie er auf diesem Teppich, der sein Teppich gewesen war, spielte, vielleicht mit einer Eisenbahn aus Buntmetall, die er gerade noch rechtzeitig aufgehoben haben könnte und mitgenommen in den Luftschutzkeller. — stop
taucher
himalaya : 0.12 — Menschen, die telefonierend in U‑Bahnen sitzen, machen Geräusche, als funkten sie aus einer anderen Zeit herüber, als wären sie Konserve, als würde eine uralte Schallplatte abgespielt, als würden sie in einem U‑Boot langsam sinken, kreischende, knisternde, krachende Töne aus tonnenschwerer Tiefe, aus dem Inferno spielender Kraken Stimmen, die Fragmente flüstern, sodass man nur noch verdammte letzte Dinge antworten kann. Dann aber Stille. Ein weiteres Ende. Man steht herum, man weiß nichts zu tun, man öffnet die Tür, Salz stürzt die Treppe herauf, und Luft, eine Welle feuchter Luft, vom Wasser gehetzt, das bereits um die Ecke donnert. Kaum hat man einen Gedanken gefasst, ist alles geflutet, der Flur, das Bad, die Lunge. Jetzt treiben sie herein, schweben in der Küche herum, machen Zeichen und Sätze, berichten von kleinen Schreibtischkriegen, Kommandanten der Tage. — stop