nordpol : 0.08 — Ich stelle mir eine Stadt ohne Treppen vor, eine Stadt ohne Keller, ohne Aufzüge, eine Stadt ohne Leitern, eine vollständig ebene Stadt. Die Dächer der Stadt sind von durchsichtigen Stoffen gewirkt, Licht fällt zu jeder Tageszeit in jedes ihrer Zimmer. Kaum Bäume, keine größeren Straßen, keine Automobile. In dieser Stadt wohnen 8 oder 10 oder 12 Millionen Menschen. Würde man auf einen der seltenen Bäume klettern, wäre kein Ende, kein Land jenseits der Stadt zu erkennen. Es existieren keine Pläne der Gassen, der Plätze, der Winkel, nach welchen man sich richten könnte. Alle Wege sind schmal, sind verwinkelt, sind ohne Namen. Um sich zu orientieren, wenn sie ihre vertraute Umgebung verlassen, markieren die Bewohner der Stadt ihre Wege an Wänden, die sie passieren, deshalb sind die Häuser der ebenen Stadt über und über von Zeichen bedeckt, diese nachtwärts vorgestellte Stadt ist eine beschriftete Stadt. Man richtet sich wandernd auch nach der Sonne, nach den Sternen, wer sich verläuft, ist verloren, jeder Abschied könnte der letzte sein, die Liebenden gehen immer zu zweit, es ist eine Stadt zum Verschwinden schön, die Häuser sind hell, sind von der Farbe der Kamele, das beständige Rauschen der Stimmen macht einen weichen Himmel. – Es ist drei Uhr. Ich habe wundervolles Chaos zu Gast. Charles Mingus At Carnegie Hall : C Jam Blues — stop
Aus der Wörtersammlung: licht
lenox hill : vertikal
zoulou : 20.25 — Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann stehe ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. — stop
broadway : verschwinden
nordpol : 20.18 — Manchmal, während ich spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Ampeln, Taxis, Türsteher, Zebrastreifen, die Gesichter wartender Menschen, Auslagen teurer oder billiger Läden, Nepp, Perücken, die Nahrung in den Händen der Gehenden, Wörter aus dem Gewirr der Stimmen, Gespräche, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, fünf Blocks den Broadway nordwärts, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
chelsea : ein stunde
echo : 0.28 — In der 22. Straße West existiert ein kleiner Laden für Lampions und andere papierene Lichtbehälter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lampion zu befinden, weil Wände, wie sie in Häusern üblich sind, dort nicht zu existieren scheinen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenklichen Formen. Ein Ort von Stille, die Luft duftet feinst nach der Wärme tausender Lampen, die im Inneren der Lampions stationieren. Menschen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Menschen, die zum Laden gehören, weder bewegen noch sich über Sprache äußern, vielleicht deshalb, weil sie in den Laden eintretende Menschen nicht stören wollen im Bestaunen leuchtender Krokodile, Schwertfische, Zeppeline. Es ist nun tatsächlich möglich, diese verborgenen Personen in Bewegung zu versetzen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in diesem Moment einer Berührung treten sie aus dem Licht heraus in den Raum, eine zierliche Frau und ein zierlicher Mann, sie werden vermutlich schon sehr lange Zeit verheiratet sein, so wie sie sich benehmen, glückliche, freundliche Menschen. Alle ihre Waren im Übrigen beschriften sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dollar 48 Cent. Im Schaufenster findet sich folgendes Schild: Täglich von Montag bis Sonntag 25 Stunden geöffnet. — stop
upper west side : broadway
delta : 8.05 — Das Haus am Riverside Drive, in dem Uwe Johnson lebte und arbeitete. Pfade, die Uwe Johnson spaziert haben könnte. Eine Subway Station, 96. Straße, uralte, dunkle Bäume. Das Regenlicht über dem Hudson. Wassertanks, die auf Dächern wachsen. Auf dem Broadway torkelt eine Ampel. Kleine, schwarze, schweigsame Männer in grünen Uniformen der Freiheitsstatue verteilen Einladungen zur Schifffahrt. Eine Kutsche weißer Pferde, dampfende Nüstern, klappert in Richtung Central Park. Es ist Montag, oder Dienstag oder Sonntag. Eine Frau, sie telefoniert in einer Sprache, die ich noch nie zuvor hörte. Ein Mann mit Kühlschrank wartet am Straßenrand. Schnelle, scheue Blicke. — stop
manhattan : canal street
tango : 10.15 — Ich habe einen merkwürdigen Kondukteur der Subway mit Taucherbrille beobachtet. Der Mann war auf der N‑Linie von Brooklyn her kommend in die Canal Street eingefahren. Ein seltener Anblick. Sein schmaler Kopf, der aus einem der mittleren Waggons des Zuges ragte, im Fahrtwind wehendes, schlohweißes Haar, und eben seine Brille, deren Scheibe Augen und Nase unwirklich vergrößerte. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, die Taucherbrille des Mannes sei mit Wasser gefüllt. Ich wollte den Mann fotografieren, aber das Licht der Station war spärlich und der Mann schaukelte ohne Pause seinen Kopf hin und her wie ein alter, müder Elefant, vermutlich weil er sich um einen umfassenden Blick der Ereignisse auf dem Bahnsteig bemühte. Es ist nun denkbar, dass ich eine Person beobachtet habe, die fest mit dem Führerhaus des Zuges verwachsen war, denn der Mann fügte sich harmonisch in das Bild, das ich mir seit jeher von wirklichen Zugführern mache, Menschen, die auf Zugständen geboren werden, Menschen, die auf Zügen fahrend ihre Kindheit verbringen, Menschen, die letztlich ihren persönlichen Zug zur Lebzeit niemals verlassen. — stop
manhattan : subwayaugen
tango : 0.02 — Ich fahre in der Subway, ein Buch in Händen, in oder über der Stadt unter Menschen sitzend dahin und bändige meinen Blick. Ich kann nun tatsächlich lesen, also abwesend sein. Oder ich kann vorgeben, als ob ich lesen würde. In diesem Fall betrachte ich Buchstaben oder die Seite eines Buches und ihre Zeichen oder das Buch insgesamt. Andere, die in meiner Nähe reisen, betrachten ihre Hände oder ihr Telefon oder eine Zeitung. Wieder andere lesen in der Zeitung, sind demzufolge tatsächlich nicht anwesend oder nur zum Teil anwesend, während ein Auge den Zeilen folgt, trachtet das andere Auge nach innen gerichtet in den kommenden Abend oder auf den vergangenen Morgen zurück. Gestern, auf der Fahrt mit der Linie D von der 96. Straße West nach Coney Island, habe ich ein schönes Buch beobachtet. E.B.Whites Essay Here is New York. stop. Regen. stop. Es ist warm geworden. Manche New Yorker tragen Sommerkleidung für einen Tag, andere Handschuhe. In der Dämmerung in den Pfützen der Straßen wieder blinkende, dampfende Hunde, künstliche Lichtnaturen. Gespenster. — stop
brighton beach : mr. singer
delta : 0.03 — Nach Coney Island eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung. Der Himmel hell über dem Meer, heftige Sandwellenwinde. Es lässt sich gut gehen auf diesem Boden, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden, als wären sie versteinert, als wären sie tausende Jahre her. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen, wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop
brooklyn : ausgebeulte Stimmen
foxtrott : 2.32 — Wenn ich aus dem Fenster sehe, wenn tiefe Nacht ist, dann scheinen die Menschen alle gleichwohl noch immer zu arbeiten oder sie verfügen über keinerlei Lichtschalter in New York. Ja, die Menschen arbeiten und arbeiten und arbeiten und dann sitzen sie eine halbe oder eine ganze Stunde Fahrt in der Subway und schlafen. Das Seltsame ist, dass sie zur rechten Zeit aufwachen, jawohl, sie scheinen mit ihrem Gehör an einer Geräuschspur zu hängen, wie Straßenbahnen in Europa an einer Oberleitung. Einerseits schlafen sie, andererseits warten sie darauf, von einem vertrauten Signal geweckt zu werden. Vielleicht ist da ein besonderes Kreischen oder Rütteln, das nur an einer bestimmten Stelle ihrer Strecke heimwärts zu vernehmen ist, die ausgebeulte Stimme einer Maschineninformation. Kurz darauf stehen sie auf, so als wär kein Schlaf gewesen und spazieren aus dem Zug, erstaunlich! — Samstag. Später Abend. Es heult wieder herum, da unten auf Höhe der Straße, ein Unglück irgendwo vielleicht. Wenn man den Feuerwehrautos so zuhört den Tag entlang, dann möchte man bald meinen, die Stadt insgesamt würde in Flammen stehen. – stop