Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 15, Luftfahrt — 8, Automobile — 33 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 55, 19. Jahrhundert – 16, 20. Jahrhundert – 423, 21. Jahrhundert — 6506 ], Trolleykoffer [ blau : 2, rot : 88, gelb : 53, schwarz : 702 ], Seenotrettungswesten [ 1409 ], physical memories [ bespielt — 453, gelöscht : 876 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 1256 ], 5 hölzerne Damenhandtaschen [ Baujahr 1968 ], Brummkreisel : 1, Öle [ 0.65 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 5, Kniegelenke – 3, Hüftkugeln – 16, Brillen – 432 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 11, Größen 38 — 45 : 88 ], Plastiksandalen [ 1453 ], Reisedokumente [ 22 ], Kühlschränke [ 3 ], Telefone [ 88 ], Stethoskope [ 18 ], Puppenköpfe [ 18 ] Masken [ 358 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 16 ], Engelszungen [ 1758 ] | stop |
Aus der Wörtersammlung: luft
flugstaub
alpha : 5.28 UTC — Wie ich im Park unter Kastanienbäumen spazierte, Mund- und Nasenbedeckung vor oder auf dem Gesicht, ein schrecklicher Gedanke, Bäume würden demzufolge bald einmal zu infektiösen Bäumen werden, welche, die uns zur Zeit des Pollenfluges mittels Viren attackierten. Dieser feine Goldstaub in der Luft und auf den Seen, dort eine feine Haut, die Schwimmwege der Vögel verzeichnet, in uns aber das Fieber ruft, die Atemnot. Ich dachte, davon darfst Du nicht erzählen, von diesen seltsamen Gedanken, deren Konsequenz uns in Astronautenanzüge zwingen würde. — stop
im spielfilm
echo : 22.12 — Nervöses Spazieren, sondierende Blicke. Das Distanzieren brennt sich in den Kopf. In den ersten Tagen der Verordnung zu Abstand war noch Ernst gewesen, jetzt da und dort immer wieder ein Lächeln, ein leises Dankeschön, wenn man stillsteht, um Raum zu spenden. In einer zweifach um Ecken gefalteten Schlange stehen Menschen, sie warten in ein Postamt eintreten zu können. Wann habe ich in meinem Leben je so verharrt, geduldig, demütig, entspannt? Rotkopfschildkröten hocken an Stränden der Parkseen, ihre verwitterten Körper sind vollständig aus dem Wasser gekommen, als würden sie nach Menschen jenseits der Zäune luren. Ein wunderbarer Frühling. Goldfarbene Stäube schweben durch die Luft, die so klar ist wie noch nie, seit ich denken kann, auch Spinnen an ihrer Seide, und all das Unsichtbare, das ich ein und wieder ausatme. An das Unsichtbare denken, das ist neu, dass das Nichtsichtbare Gedanken beherrscht, auch die Träume. Litfaßsäulen meiner Straße sind weiß wie leer. Eine Fotografie auf einer Zeitung vor dem Kiosk zeigt Menschen, die von Apparaturen umgeben unbekleidet auf dem Bauch liegen. Im Spielfilm abends hocken Menschen im Kaffeehaus Seite an Seite und gegenüber, stecken ihre Köpfe zusammen und debattieren, sehr seltsam, sehr gefährlich, ich wollte etwas sagen. — stop
pijao
MELDUNG. Finca la Esmaralda nahe Pijao, Kolumbien, steinernes Luftzimmer : Kirsche No 112 [ Marmor, Carrara : 2.01 Gramm ] vollendet. — stop
zwei wale
marimba : 12.01 UTC — An einem nebligen Abend fuhr ich mit einem Fährschiff nach Staten Island. Ich ging eine Stunde spazieren, kaufte etwas Brot und Käse, dann wartete ich in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Einige Kinder spielten vor einem mächtigen Aquarium, sie tollten um den Glasbehälter herum. Plötzlich blieb eines der Kinder stehen, aufgeregt deutete es zum Aquarium hin. Weitere Kinder näherten sich. Sie schienen begeistert zu sein. Ich schlenderte zu ihnen hinüber, stellte mich neben sie. Da war etwas Erstaunliches zu sehen, da waren nämlich Elefanten im glasklaren Wasser, sie wanderten auf dem sandigen Boden des Aquariums in einer Reihe von Westen nach Osten. Ihre meterlangen Rüssel hatten sie zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das handwarme Glas des Wassergeheges legte. Auch Geräusche, wie ich sie von Mikrofonen kenne, die Walgesänge nahe Grönland aufgezeichnet hatten. Wie ich zur Oberfläche des Wassers hin blickte, entdeckte ich zwei Wale, die durch das Wasser schwebten, sie waren je groß wie eine Faust und stießen etwas Luft aus von Zeit zu Zeit, wie man das von wilden Walen kennt, die so groß sind, dass wir über sie staunen. Manchmal tauchten die kleinen Wale zu den Elefantentieren hin, behutsam näherten sie und schauten sich interessiert unter den Wandernden um, man schien sich natürlich zu kennen. — Ich konnte nicht schlafen. Noch in derselben Nacht fuhr ich nach Manhattan zurück. Ich machte einen Textentwurf für eine Zeitung, obwohl ich noch keine wirkliche Ahnung hatte, wie von den Zwergwalen zu erzählen sei. Ich notierte: Man möchte vielleicht meinen, bei der Gattung der Zwergwale handele es sich um Wale, die dem Wortlaut nach kleiner sind, als ihre doch großen Verwandten, Pottwale oder Grönlandwale, sagen wir, oder Blauwale. Nun sind sie bei genauerer Betrachtung wirklich winzig, nur 8 cm in der Länge. Als man sie in einer künstlich erzeugten Gebärmutter, ebenfalls winzig, heranwachsen ließ, glaubte im Grunde niemand, dass sie lebend zur Welt kommen würden. Plötzlich waren sie da, und verschwanden zunächst in einem Aquarium, das für sehr viel größere Fischwesen angelegt worden war. Nun waren die Wale zu klein, sie verloren sich in den Weiten des Beckens. Man legte zierliche Behälter an, versorgte sie mit Meereswasser, kühlte die Gewässer, sorgte für Wind und Wellen, selbst an Eisberge wurde gedacht, Eis von der Höhe eines menschlichen Fingers, die dort in der künstlichen Naturumgebung einfach so vom Himmel fielen. Jetzt konnte man sie gut sehen, aus der Nähe betrachten. Es waren zunächst drei Wale, sie existierten zwei Jahre, ehe man über eine Ausstellung, demzufolge über ihre Veröffentlichung diskutierte. Bislang hatte man gesagt: Wir dementieren und wir bestätigen nicht. So viel sei bemerkt: Diese winzigen Wale ernähren sich von Plankton, sie lieben Meereswalnüsse, sie tauchen oft stundenlang. Auch wurden Sprünge beobachtet, aber nur selten und nur bei Nachtlicht. Derzeit leben noch zwei kleinen Wale, der Dritte wurde zwecks Erforschung geöffnet.
shenyang
ginkgo : 19.55 UTC — Sie kommt gerade aus Shenyang, ist ziemlich müde, sitzt im Schnellzug Richtung City zwischen zwei schweren Metallkoffern, eine ältere Dame, sie sei eine der ältesten, die noch fliege, Cabin Chief, sie reise gern, wenn auch etwas ängstlicher, man habe schon den Eindruck, dass der Luftraum unsicherer geworden sei, aber die Welt insgesamt sei unsicher geworden, die Amerikaner sind es vor allem, das dürfe man aber nicht so laut sagen, früher hätten sie noch gewusst, wohin die Regierung im Notfall fliegen würde, das sei jetzt nicht mehr Angelegenheit der Lufthansa, das erledige die Luftwaffe, die wüssten jetzt Bescheid, auch dass bereits Anfang des letzten Jahrhunderts bekannt gegeben wurde, dass bald ein neuer großer Krieg kommen würde, Israel wüsste darüber Bescheid und eben die Amerikaner, aber das sagen wir lieber nicht so laut, sagt sie, aber sie fliege immer noch gern, komme viel in der Welt herum, sie könne verstehen, dass die Menschen flüchten, aber sie seien eigentlich keine richtigen Geflüchteten wie ihre Eltern noch, die wollte keiner haben, die flohen aus Schlesien, das waren noch richtige Flüchtlinge, die Chinesen fliehen ja auch nicht, irgendwie geht alles seltsame Wege, die Welt ist aus dem Gleichgewicht, aber sie dreht sich noch, aber nicht mehr lange. — Als der Zug steht, hört sie auf zu sprechen, steigt aus, ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwindet in der Menge, diese zierliche und ziemlich müde Person. — stop
ein schwebender löffel
nordpol : 22.01 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde soeben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht, und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich hervorragend kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. Sie schliefen einerseits, andere betrachteten mich interessiert, so wie man Vögel betrachtet oder Blumen. Es ist schon seltsam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzählen in der Hoffnung, die Geschichte würde jenseits der Stille vielleicht doch noch Gehör finden. Ich erzählte meiner Tante von einer Wanderung, die ich unlängst in den Bergen unternommen hatte, und dass ich auf einer Bank in eintausend Meter Höhe ein Telefonbuch der Stadt Chicago gefunden habe, das noch lesbar gewesen war und wie ich den Eindruck hatte, dass ich aus den Wäldern heraus beobachtet würde. Ich erzählte von Leberblümchen und vom glasklaren Wasser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knisterte. Dohlen waren in der Luft, wundervolle Wolkenmalerei am Himmel, Salamander schaukelten über den schmalen Fußweg, der aufwärts führte. So erzählte ich, und während ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schlafen oder zuzuhören, wie immer, wenn ich sie besuche. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen, wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegenüber wartete eine andere alte Frau, sie trug weißes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Vor ihr stand ein Teller mit Erbsen. Die alte Frau hielt einen Löffel in der Hand. Dieser Löffel schwebte während der langen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zentimeter hoch in der Luft über ihrem Teller. In dieser Haltung schlief die alte Frau oder lauschte. — stop
von der reisenden warenwelt
kilimandscharo : 22.02 UTC — Ich dachte heute, in der Schweiz würden vielleicht Menschen existieren, die ich als Uhrenträger bezeichnen könnte. Uhrenträger, weil sie je 50 Uhren an Armen und Beinen dicht an ihren Körpern tragen. So, in dieser Weise von Uhrwerken geschmückt, geht man als Uhrenträger leise tickend vorsichtig spazieren, wandert in der schönen Natur herum, ohne selbstverständlich auch nur eine der Uhren je abzulegen. Auch im Schlaf werden alle Uhrwerke getragen, weshalb es in der nächtlichen Stille in den Zimmern leise rauscht. Nach ein oder zwei Wochen kehren Uhrenträger dann aus dem Leben in ihre Uhrenfabrik zurück. Dort sind sie nämlich angestellt, um vollständig neue Uhrgeschöpfe in bereits gebrauchte Ware zu verwandeln, warum? — stop
vom spinnen
sierra : 15.42 UTC — Noch 3927 Wörter und ich werde an dieser Stelle eine halbe Million Wörter notiert haben. Das Zählen der Wörter wurde meiner Schreibmaschine überantwortet. Ich selbst zähle Herzschläge, Eichhörnchen, Hitzewellen, Zeiträume, Schritte, Briefmarken, Stunden und Tage, Lesezeiten, auch Springspinnen, die meinen Schreibtisch bewohnen. Springspinnen gebieten über 8 Augen. Sobald sie springen, ziehen sie einen kaum sichtbaren Faden durch die Luft. Ich selbst spinne Fäden von Gedanken. Auch Sätze sind möglicherweise als Fäden zu betrachten. Wenn ich erzähle, gehe ich auf die Jagd. Das ist denkbar. Heute ist Montag. — stop
reisende pinguine
nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkolas Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht (Aurora borealis) studieren. — stop