marimba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war, zum Beispiel, an einem Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war sehr bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung sehr heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von 1 Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. — stop
Aus der Wörtersammlung: luft
zwei schreckliche figuren
ginkgo : 7.03 UTC — Der Mann versteht nicht, warum ich ihm einen ängstlichen Blick schenke. Er steht am Rande der Leipzigerstraße und ruft: Himbeeren 1 Euro, Himbeeren 1 Euro. Er brüllt diese Formel Stunde um Stunde mit seinem Atemwind unter die passierende Leute, Passanten, und wenn man nun denkt, er könnte ein infizierter Sänger sein, dann wird man bemerken, dass es gefährlich sein könnte hier ohne Maske, ohne Brille über die Straßen zu spazieren. Und im Café diese nette lauthals telefonierende Person: Mein Gott, sagt sie zur Liesel, wenn das nur ein Weihnachten nicht wird mit einem Lockdown schon wieder! Wenn sie einmal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Winde, die alles das Unsichtbare sehr schön durch die Räume tragen, Luftbusse fahren herum, Zeppelinwolken. Es ist schon seltsam was man alles so sieht und hört neuerdings. — stop
lumineszenz
nordpol : 20.55 UTC — Vor Jahren einmal habe ich an dieser Stelle bereits über Winterkäfer nachgedacht, es war wohl Winter gewesen. Seltsamerweise ist mir damals ein ganz anderer Käfer eingefallen, ein Wesen, für das ich noch immer keinen Namen gefunden habe. Dieser namenlose Käfer sollte ohne Ausnahme paarweise erscheinen, weich sein wie eine Schnecke und von der Körpertemperatur der Menschen und genauso groß, dass er sich in die Augenhöhle eines Schlafenden einzuschmiegen vermag. Dort wird der noch namenlose Käfer sich nicht allein als Nachtschirm begnügen, stattdessen wird er ein wenig fließen und in dieser Weise in Bewegung, sehr entspannende Polarlichtspiele von milder, beruhigender Lumineszenz erzeugen auf den Augenlidern der schlafenden Menschen. — Ich habe diese kleine Geschichte gerade eben noch einmal erzählt, weil ich heute während des Spazierens überlegte, ob es nicht vorteilhaft wäre, Käferwesen zu entwerfen, die sich in schützender Weise auf meinen Mund und meine Nase legen würden, mich wärmen und die Luft zugleich filtrieren hinein und auch hinaus. Am späteren Abend werde ich eine Zeichnung versuchen. Käfer dieser Art sollten vielfarbig gestaltet sein. Nichts weiter. — stop
luftgang
echo : 15.12 UTC — Einmal, abends, beginne ich Nathalie Sarrautes Kindheit zum zweiten Male zu lesen. Das Buch begleitet mich seit Jahren. Wundervoll, wie sich ihre Geschichten Lebewesen gleich von den Seiten lösen. Das Mädchen, das so lange kaut, bis alles in ihrem Mund befindliche zu Suppe geworden ist. Wie dasselbe Mädchen die Luft anhält an einer Straßenkreuzung wartend, um dem Essiggeruch ihres Kindermädchens zu entgehen. Wie sie einen Telegrafenmast berührt, und glaubt zu sterben. Wie sie bemerkt, dass die Mutter sich nicht in sie hineinzusetzen vermochte. Wie sie der Mutter einen Löffel Staub reicht, um ein Geschwisterchen zu bekommen. — Auch ich habe heute mehrfach die Luft angehalten, um dem Atem passierender Menschen zu entgehen. — stop
metamorphosen
tango : 15.38 UTC — Eine Frau sitzt an einem Tisch, Sie notiert Ovids Metamorphosen auf eine Papierluftschlange. Wie behutsam sie vorgeht, um das Papier nicht zu zerreißen. Kaum ist sie mit der Beschriftung einer der papierenen Strecken zu Ende gekommen, verbindet sie mit einem Tröpfchen Klebstoff eine weitere noch unbeschriftete Schlange. Kurz darauf notiert sie weiter, sehr feiner Pinsel. Vor drei Jahren war ich dieser Frau zum ersten Mal begegnet. Heut ist sie noch immer frisch, eine Blüte, vielleicht deshalb, weil ihre Aufgabe, ihr Projekt, unendlich zu sein scheint. Victor Klemperers Tagebücher bereits seit Mai, dem 5. — stop
nachgang
himalaya : 23.07 UTC — So wenig wie möglich sprechen hinter der Maske hinterm Häubchen im Zelt vor Nase und Mund. Nur soviel sprechen, wie ich merken kann, dass ich abends sagen könnte, davon habe ich gesprochen, davon habe ich berichtet, dieses habe ich geantwortet, und davon habe ich nicht erzählt. Bemerken also auch, was nicht zur Sprache gebracht, aber gedacht wurde, still sein, Stille, obwohl Laute, Luft, Wind möglich gewesen wären im Zelt. — stop
von der wally nocheinmal
echo : 20.12 UTC — Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen von München aus zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelluft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnenseidiges Haarnetz ( Warum? ), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, und Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, — Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. Seit einigen Stunden versuche ich zu erinnern, ob die alte Tante Wally mir je von der spanischen Grippe erzählte, die sie zweifellos in München erlebt haben muss. — stop
marys nase
marimba : 12.15 UTC — Ein Schulmädchen zeigte mir heute im Zug ihre Nase. Sie hatte vielleicht beobachtet, wie ich meine Schutzmaske um meine eigene Nase herum heftig knetete, damit alles schön dicht sei. Kurz darauf musste ich niesen und schon war die Maske wiederum verrutscht. Ich machte ein ernstes Gesicht, da zog das Mädchen ihre Maske herunter, weiss der Himmel warum, vermutlich, um mich zu ärgern. In diesem Augenblick dachte ich an einen Besuch auf Ellis Island. Ein schwülwarmer Tag, Gewitter waren aufgezogen, der Himmel über Manhattan bleigrau. Trotzdem fuhren kleine weiße Schiffe von Battery Park aus los, um Besucher auf die frühere Quarantäneinsel zu transportieren. Ehe man an Bord gehen konnte, wurde jeder Passagier sorgfältig durchsucht, Taschen, Schuhe, Computer, Fotoapparate. Ein griechischer Herr von hohem Alter musste mehrfach durch die Strahlenschleuse treten, weil das Gerät Metall alarmierte. Er schwitzte, er machte den Eindruck, dass er sich vor sich selbst zu fürchten begann, auch seine Familie schien von der ernsten Prozedur derart beeindruckt gewesen zu sein, dass ihnen ihr geliebter Großvater unheimlich wurde. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Es begann heftig zu regnen, das Wasser wurde grau wie der Himmel, Pusteln, Tausende, blinkten auf der Oberfläche des Meeres. Im Cafe des Einwanderermuseums kämpften hunderte Menschen um frittierte Kartoffeln, gebratene Hühnervögel, Himbeereis, Sahne, Bonbons. Ihre Beute wurde in den Garten getragen. Dort Sonnenschirme, die der Wind, der vom Atlantik her wehte, davon zu tragen drohte. Am Ufer eine herrenlose Drehorgel, die vor sich hindudelte, Fahnen knallten in der Luft. Über den sandigen Boden vor dem Zentralhaus tanzten handtellergroße Wirbel von Luft, hier, genau an dieser Stelle, könnte Mary Mallon im Alter von 15 Jahren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße vertreten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Manhattan einreisen durfte. Ihr Schatten an diesem Tag in meinen Gedanken. Ein weiteres Gewitter ging über Insel und Schiffe nieder, in Sekunden leerte sich der Park. Dann kamen die Möwen, große Möwen, gelbe Augen, sie raubten von den Tischen, was sie mit sich nehmen konnten. Wie ein Sturm gefiederter Körper stürzten sie vom Himmel, es regnete Knochen, Servietten, Bestecke. Unter einem Tisch kauerte ein Mädchen, die Augen fest geschlossen. – stop / koffertext
fred im zug
sierra : 22.32 UTC — Im Zug, es war Samstag, saßen nur wenige Menschen. Sie trugen alle eine Maske vor Mund und Nase. Ein seltsamer, berührender Anblick. Gerade deshalb, weil sie schliefen, wirkten sie verletzlich. Wie ich langsam an den Schlafenden vorüberging, die Versuchung je einer Fotografie. Plötzlich dachte ich an den Posaunisten Fred Wesley: Wie geht es Dir, Fred? Ich erinnerte mich so im Gehen an eine Nacht vor Jahren, da ich Fred Wesley mittels eines Filmdokuments so lange beobachtet hatte, bis ich der festen Überzeugung gewesen sein konnte, eine Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert: Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das hoffentlich noch immer so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, für Sekunden vor einem Mikrofon verharrt. Ich hatte damals den Verdacht, der alte Posaunist verfüge über die Fähigkeit außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten. Deshalb notierte ich unverzüglich folgende E‑Mail: Sehr geehrter Mr. Wesley, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich sogleich mit meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
luftwellen
tango : 17.11 UTC — Traf ahnungslose Personen, traf sorglose Bürger, die unbeschwert sind oder nur vorgeben, unbeschwert zu sein. Morgen werde ich sie wieder treffen in der Straßenbahn, in einem Cafe, am Flughafen. Sie werden mich kaum ansehen, mich, der eine Maske trägt. Noch immer, das ist denkbar, denken sie sich, scheint Gefahr in der Luft zu liegen, unsichtbare, staubige Wölkchen. Der Mann hier trägt noch immer eine Maske, vermutlich ist er hysterisch. Vermutlich deshalb fürchten sie meinen Anblick, weil ich, indem ich spreche, sie mit meinen Augen, mit meiner unsichtbaren Nase, meinem unsichtbaren Mund, meinen Gedanken, die sich mittels Wellen durch die Luft bewegen, beschweren oder infizieren könnte. — stop