Aus der Wörtersammlung: rot

///

glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller

pic

marim­ba

~ : louis
to : Mr. vla­di­mir nabokov
sub­ject : PROPELLER

Lie­ber Mr. Nabo­kov, ges­tern Abend, nach einem lan­gen Spa­zier­gang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halb­wegs betrun­ke­ne Freun­de saßen, hab’ ich mich an ihre Vor­le­sung über Franz Kaf­kas Ver­wand­lung erin­nert, an Ihre lie­be­vol­le und akri­bisch genaue Unter­su­chung des Tex­tes, an ihre Käfer­zeich­nun­gen von eige­ner Hand, mit wel­chen Sie ver­such­ten eine Vor­stel­lung zu gewin­nen von Wesen und Gestalt jener Hül­le, in die Gre­gor Samsa ein­ge­schlos­sen wor­den war. Ja, die Genau­ig­keit, mit der man sich erfin­dend einem Gegen­stand nähert oder die Genau­ig­keit, mit der man einen erfun­de­nen Gegen­stand sezie­ren kann, immer wie­der begeg­ne ich wäh­rend mei­ner Arbeit Ihren Unter­su­chun­gen, Ihrer Metho­de. Vor­ges­tern hat­te ich bei einer ers­ten Annä­he­rung an eine Geschich­te, die von leben­den Papie­ren erzäh­len wird, das Wort Pro­pel­ler­flü­gel in den Mund genom­men, ohne zu ahnen, dass Pro­pel­ler in der Welt leben­der Orga­nis­men nur sehr schwer zu ver­wirk­li­chen sind, weil ein Pro­pel­ler sich doch frei bewe­gen muss, dre­hend in einer Fas­sung, die ihn lose hält, sodass ein leben­der Orga­nis­mus aus einem wei­te­ren Kör­per bestehen müss­te, der ganz zu ihm gehö­ren wür­de und doch nicht ganz zu ihm gehö­ren kann. Nun habe ich beschlos­sen, die Vor­stel­lung der Pro­pel­ler­flü­gel nicht so ohne Wei­te­res auf­zu­ge­ben. Ich habe mir gedacht, dass ein Pro­pel­ler, der aus orga­ni­schen Mate­ria­li­en bestehen wird, viel­leicht auf ato­ma­rer Ebe­ne einem flug­fä­hi­gen Kör­per ver­bun­den sein könn­te, ver­bun­den durch Mole­kü­le, die im Moment einer Flug­be­we­gung, den Rotor von Haut und Kno­chen einer­seits anzu­trei­ben in der Lage sind und ande­rer­seits je für einen kur­zen Moment in die Frei­heit ent­las­sen. Und jetzt bin ich glück­lich und hof­fe, dass sie an mei­nem Ent­wurf Gefal­len fin­den wer­den. – mit aller­bes­ten Grü­ßen, Ihr Louis

ping

///

geraldine : ein wunder geschieht

pic

nord­pol

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : EIN WUNDER GESCHIEHT

Als es noch dun­kel war, bin ich wach gewor­den, weil das Schiff unter mir schlin­ger­te. Was­ser schlug gegen das Bull­au­ge über mei­nem Bett. Ich setz­te mich auf und spür­te, dass ich an die­sem Tag Kraft haben wür­de. Ich hat­te so viel Kraft, dass ich mühe­los mei­nen Bade­man­tel und mei­ne Jacke anzie­hen konn­te. Nur als ich mir die Schu­he bin­den woll­te, wur­de mir schwin­de­lig und ich wäre um ein Haar umge­fal­len. Wis­sen Sie, Mr. Lou­is, dass ich plan­te, ganz allein für mich das Haupt­deck zu erklim­men. Ver­rückt, fin­den Sie nicht auch? Ich konn­te mich kaum auf den Bei­nen hal­ten, weil der See­gang mich schau­kel­te, aber ich schaff­te eine Trep­pe und noch eine Zwei­te, dann ging ich in die Knie. Ein älte­rer Herr weck­te mich, sei­ne Haut war schwarz und sein Haar schloh­weiß. Er half mir auf­zu­ste­hen, und ich sag­te ihm, dass ich das Haupt­deck errei­chen woll­te, aber anstatt mich vor das Meer zu set­zen, setz­te er mich in ein Café und hör­te mir zu und wun­der­te sich, dass ich so blass war. Ich habe ihm nichts von mei­nen schwe­ren Gedan­ken erzählt, aber davon, dass ich See­post­brie­fe an mei­ne Schwes­ter Yanuk schrei­be, die ich sehr lie­be, mei­ne Zwil­lings­schwes­ter, die ein Kind erwar­tet, ein Kind, das viel­leicht ein­mal wie sei­ne Mut­ter Yanuk hei­ßen wird. Ich glau­be, er freu­te sich, und dann erzähl­te er eine fei­ne Geschich­te. Er sag­te, dass er vor vie­len Jah­ren sehr ver­liebt gewe­sen sei. Die Frau, die er lieb­te, war eine wei­ße Frau gewe­sen, die in einer der bes­se­ren Gegen­den der Stadt wohn­te, wäh­rend er selbst in einem ärm­li­chen Vier­tel in einem Back­stein­haus leb­te. Anfangs schrieb sie ihm Brie­fe, sag­te der Mann, aber er hat­te die­se Brie­fe zunächst nicht erhal­ten, weil der Brief­kas­ten sei­nes Hau­ses ver­schwun­den war. Sie besuch­te ihn und frag­te, war­um er ihr nicht ant­wor­ten wür­de, und er erzähl­te, dass nicht nur der Brief­kas­ten ver­lo­ren gegan­gen sei, son­dern das gan­ze Haus sich in Auf­lö­sung befin­den wür­de. Dann geschah ein Wun­der. Am über­nächs­ten Tag kam ein Post­au­to mit einem Post­mann, der einen feu­er­ro­ten Brief­kas­ten an das Haus schraub­te, wäh­rend der alte Mann, der damals noch jung gewe­sen war, zuge­se­hen hat­te. Auf den Brief­kas­ten war die Adres­se sei­nes Hau­ses und sein Name geschrie­ben und er war mit einem Dut­zend groß­ar­ti­ger Brief­mar­ken beklebt. Natür­lich hat­te sich der alte Mann sehr gefreut. Und als er am nächs­ten Tag wie­der zum Brief­kas­ten ging, lag ein Brief für ihn dar­in. Ich muss­te wei­nen, Mr. Lou­is, als ich die­se Geschich­te hör­te. Dann trug mich der alte Mann mit einem Ste­ward in mei­ne Kajü­te, und da sit­ze ich nun auf mei­nem Bett und schrei­be an Sie, wäh­rend die Gischt über mei­nem Bett mit mei­nem Bull­au­gen­fens­ter spricht. — Ihre Geral­di­ne auf hoher See.

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 03.12.2008
22.08 MEZ

geral­di­ne to louis »

ping

///

geraldine : walfisch

pic

nord­pol

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : WALFISCHE

Ich habe das Mit­tag­essen ver­schla­fen. Vor­mit­tags war ich schon auf dem Haupt­deck, schöns­tes Wet­ter, kei­ne Wol­ke am Him­mel, das Meer ganz ruhig. Papa hat mich hoch­ge­tra­gen, es ist anstren­gend für ihn, obwohl er nicht sehr alt ist, aber ich bin kein leich­tes Mäd­chen. Papa sag­te, man habe ihm von Walen erzählt, die auf dem Radar­schirm sicht­bar gewe­sen sei­en. Es ist also mög­lich, dass ich heu­te Wale sehen wer­de. Merk­wür­dig, ich sage immer Wale, aber ich den­ke Wal­fi­sche. Und so war­te­te ich auf die Wal­fi­sche und wäh­rend ich war­te­te, bin ich ein­ge­schla­fen. Es war sehr warm gewor­den unter der Decke, die Papa über mich gebrei­tet hat­te. Als ich auf­wach­te, war das Mit­tag­essen längst vor­bei und der jun­ge Mann, der Ste­wart, von dem ich Ihnen schon geschrie­ben habe, saß neben mei­ner Lie­ge auf dem Boden. Er hat­te ein Fern­glas dabei. Ich glau­be, er hat­te das Fern­glas für mich mit­ge­bracht. Ich habe zuerst noch so getan, als wür­de ich schla­fen, und habe ihn mir ange­schaut, Sie ver­ste­hen, Mr. Lou­is, Seh­schlitz­au­gen. Er ist hübsch. Er mag die Son­ne. Er mag die Son­ne sehr. Und fast bin ich mir sicher, dass er mich wie die Son­ne mag. Oft ist er in mei­ner Nähe. Wenn er nur nicht immer so trau­rig schau­en wür­de. Mal sieht er mich ver­liebt an, dann wie­der, als wür­de es reg­nen in sei­nem Her­zen. Viel­leicht weiß er, dass ich sehr krank bin, ja, viel­leicht weiß er das, und trotz­dem ist er ver­liebt. Das wär schön, wenn er sich in mich ver­lie­ben könn­te, obwohl er weiß, dass ich sehr krank bin. Ich habe mir oft gedacht, dass ich allei­ne bin, ein­sam, weil die jun­gen Män­ner mit einem kran­ken Mäd­chen kei­ne Lie­be haben wol­len, obwohl ich ein schö­nes Mäd­chen bin. Oh, wie glück­lich wäre ich, wenn er alles von mir wüss­te. Ich müss­te nichts ver­ber­gen. Wale haben wir bis­lang kei­ne gese­hen. Viel­leicht spä­ter, viel­leicht am Abend. – Ihre Geral­di­ne auf hoher See

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 16.11.2008
22.27 MEZ

geral­di­ne to louis »

ping

///

nehmen wir einmal an …

pic

fox­trott : 7.28 — Neh­men wir ein­mal an, ich wür­de gefragt, ob ich viel­leicht über ein wei­te­res Auge ver­fü­gen möch­te, ein wirk­li­ches drit­tes Auge, ein Auge für sich, ein Auge, mit dem ich in die Welt hin­aus­schau­en könn­te, was wäre zu tun? – Ruhe bewah­ren! – Nach­den­ken! – Ant­wor­ten! – Sehr bald ant­wor­ten, jawohl ja, das wäre ein fei­nes Geschenk, die­ses Auge wür­de ich sehr ger­ne und sofort ent­ge­gen­neh­men. Natür­lich wür­de das nicht so leicht sein, ich mei­ne, die Über­ga­be eines wei­te­ren Auges an mei­nen bereits exis­tie­ren­den Kör­per, wie man sich das viel­leicht vor­stel­len mag, nein, nein, das wäre sicher eine außer­or­dent­lich kom­pli­zier­te Geschich­te. Ein geeig­ne­ter Ort wür­de zu fin­den sein, an dem das brand­neue Sin­nes­or­gan an mei­nem Kör­per oder in mei­nem Kör­per mon­tiert wer­den könn­te, und ich müss­te mich viel­leicht zunächst ent­schei­den, wel­cher Art das Auge sein soll­te, ein gro­ßes, strah­len­des Schmuck­au­ge bei­spiels­wei­se, oder ein eher klei­nes, kaum sicht­ba­res Auge, ein gehei­mes Auge, sagen wir, um unbe­merkt die Welt um mich her­um unter­su­chen zu kön­nen. An die­sem schö­nen Nebel­mor­gen nun, ich bin noch nicht ganz wach gewor­den, wür­de ich Fol­gen­des fra­gen: Ist es even­tu­ell mög­lich, das Auge rech­ter Hand in den mitt­le­ren Fin­ger­knö­chel nahe dem Hand­rü­cken ein­zu­set­zen? Wann könn­ten wir damit begin­nen? Sind Sie noch bei Ver­stand, oder wie oder was? — Ja, so wür­de ich wohl spre­chen, genau die­se Bestel­lung wür­de ich auf­ge­ben. Stellt sich nun die Fra­ge, was wür­de ein Auge die­ser Art mit mei­nem Gehirn unter­neh­men? Wür­de es wach­sen? Und wohin wür­de es wach­sen? — Ich muss das nicht heu­te ent­schei­den! — stop

ping

///

nadja einzmann : zeit vergeht

pic

tan­go : 8.25 — Ein war­mer Wind weh­te ges­tern Abend Laub von der Stra­ße her ins Café. Lausch­te einer ange­neh­men Stim­me. Hör­te eine Geschich­te, die ein­mal mei­ne Geschich­te gewe­sen war und noch immer zu mir gehört und doch eine aus­ge­wan­der­te, eine geschenk­te Geschich­te ist. Die­se Geschich­te schil­dert eine ers­te Wahr­neh­mung der Zeit. Als ich sie vor zwei oder drei Jah­ren an genau jenem Tisch erzähl­te, an dem sie nun aus einem Buch vor­ge­le­sen wur­de, hat­te ich nicht die Erwar­tung, sie ein­mal kunst­voll zwei Sät­zen ein­ge­schrie­ben und gedruckt zu sehen: Sei­ne viel­leicht ers­te Erin­ne­rung, dass er unter dem Weih­nachts­baum liegt und sich in einer roten Weih­nachts­ku­gel spie­gelt. Als er sich im fol­gen­den Jahr wie­der so gespie­gelt vor­fin­det, denkt er zurück und weiß auf ein­mal, dass Zeit ver­gan­gen ist, dass Zeit ver­geht. Nad­ja Einzmann

ping

///

bryant park

pic

sier­ra : 8.57 — Es hat­te Stun­den lang gereg­net, jetzt dampf­te der Boden im süd­wärts vor­rü­cken­den Nord­licht, und das Laub, das alles bedeck­te, die stei­ner­nen Bän­ke, Brun­nen und Skulp­tu­ren, die Büsche und Som­mer­stüh­le der Cafés, beweg­te sich trock­nend wie eine abge­wor­fe­ne Haut, die nicht zur Ruhe kom­men konn­te. Boule­spie­ler waren vom Him­mel gefal­len, feg­ten ihr Spiel­feld, schon war das Kli­cken der Kugeln zu hören, Schrit­te, Rufe. Wie ich so zu den Spie­lern schlen­der­te, kreuz­te eine jun­ge Frau mei­nen Weg. Sie tas­te­te sich lang­sam vor­wärts an einem wei­ßen, sehr lan­gen Stock, den ich ein­ge­hend beob­ach­te­te, rasche, den Boden abklop­fen­de Bewe­gun­gen. Als sie in mei­ne Nähe gekom­men war, viel­leicht hat­te sie das Geräusch mei­ner Schrit­te gehört, sprach sie mich an, frag­te, ob es bald wie­der reg­nen wür­de. Ich erin­ne­re mich noch gut, zunächst sehr unsi­cher gewe­sen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Sei­te und berich­te­te vom Okto­ber­licht, wel­ches ich so lieb­te, von den Far­ben der Blät­ter, die unter unse­ren Füßen raschel­ten. Bald saßen wir auf einer nas­sen Bank, und die jun­ge Frau erzähl­te, dass sie ein klei­nes Pro­blem haben wür­de, dass sie einen Brief erhal­ten habe, einen lang erwar­te­ten, einen ersehn­ten Brief, und dass sie die­sen Brief nicht lesen kön­ne, ein Mann mit Augen­licht hät­te ihn geschrie­ben, ob ich ihr den Brief vor­le­sen kön­ne, sie sei so sehr glück­lich, die­sen Brief end­lich in Hän­den zu hal­ten. Ich öff­ne­te also den Brief, einen Luft­post­brief, aber da stan­den nur weni­ge, sehr har­te Wor­te, ein Ende in sechs Zei­len, Druck­buch­sta­ben, eine schlam­pi­ge Arbeit, rasch hin­ge­wor­fen, und obwohl ich wuss­te, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durf­te, erzähl­te mei­ne Stim­me, die vor­gab zu lesen, eine ganz ande­re Geschich­te. Liebs­te Mar­len, hör­te ich mich sagen, liebs­te Mar­len, wie sehr ich Dich doch ver­mis­se. Konn­te so lan­ge Zeit nicht schrei­ben, weil ich Dei­ne Adres­se ver­lo­ren hat­te, aber nun schrei­be ich Dir, schrei­be Dir aus unse­rem Café am Bryant Park. Es ist gera­de Abend gewor­den in New York und sicher wirst Du schon schla­fen. Erin­nerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unse­rem Café Dei­nen Geburts­tag fei­er­ten? Ich erzähl­te Dir von einer klei­nen, dunk­len Stel­le hin­ter der Tape­te, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklä­ren konn­te, was das bedeu­tet, die­ses Rot für sehen­de Men­schen? Erin­nerst Du Dich, wie Du mit Dei­nen Hän­den nach jener Stel­le such­test, wie ich Dei­ne Fin­ger führ­te, wie ich Dir erzähl­te, dass dort hin­ter der Tape­te, ein Tun­nel endet, der Euro­pa mit Ame­ri­ka ver­bin­det? Und wie Du ein Ohr an die Wand leg­test, wie Du lausch­test, erin­nerst Du Dich? Lan­ge Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sag­test Du, und woll­test wis­sen, wie lan­ge Zeit die Stim­men wohl unter dem atlan­ti­schen Boden reis­ten, bis sie Dich errei­chen konn­ten. – An die­ser Stel­le mei­ner klei­nen Erzäh­lung unter­brach mich die jun­ge Frau. Sie hat­te ihren Kopf zur Sei­te geneigt, lächel­te mich an und flüs­ter­te, dass das eine sehr schö­ne Geschich­te gewe­sen sei, eine tröst­li­che Geschich­te, ich soll­te den Brief ruhig behal­ten und mit ihm machen, was immer ich woll­te. Und da war nun das aus dem Boden kom­men­de Nord­licht, das Knis­tern der Blät­ter, die Stim­men der spie­len­den Men­schen. Wir gin­gen noch eine klei­ne Stre­cke neben­ein­an­der her, ohne zu spre­chen. Ich seh gera­de ihren über das Laub tas­ten­den Stock und ein Eich­hörn­chen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baum­stamm kau­er­te. Bei­na­he kommt es mir in die­ser Sekun­de so vor, als hät­te ich die­ses Eich­hörn­chen und sei­ne Nuss nur erfun­den. — stop

ping

///

mumbai — darjeeling

pic

echo : 8.55 — Das 8‑jährige Mäd­chen Puja in dem Doku­men­tar­film Gebo­ren im Bor­dell, von dem man berich­tet, dass es in sei­nem Leben noch nie Nein gesagt haben soll. Ein düs­te­rer Ort an dem Puja lebt, oran­ge­far­be­ne, von Flie­gen umschwirr­te, rußi­ge Glüh­bir­nen, eine voll­kom­men über­füll­te Woh­nung, Schmutz, der Lärm der Frei­er Tag und Nacht. Und doch gibt es etwas in Pujas Leben, das ihr Freu­de berei­tet. Sie besitzt einen Foto­ap­pa­rat. Sie geht mit ihm auf die Stra­ße und foto­gra­fiert Pas­san­ten. Das sind fei­ne Auf­nah­men, die Puja macht, kein foto­gra­fier­ter Mensch wird böse, sobald sich der merk­wür­di­ge Foto­ap­pa­rat Pujas auf sie rich­tet. Da steht ein klei­ner Mensch in einem roten Kleid, des­sen Kopf sich in eine Maschi­ne mit zwei Augen ver­wan­delt. — Mit­ter­nacht. stop. Wäh­rend ich arbei­te­te an einer klei­nen Geschich­te über Bil­ly, den Ken­taur, selt­sa­me Stil­le. Kein Laut von drau­ßen, drin­nen nur das sehr lang­sa­me Klap­pern der Tas­ta­tur. Jetzt sanf­te Gedan­ken pfle­gen, Musik hören, ins Café gehen, dann die Vor­be­rei­tung einer Rei­se nach Indi­en irgend­wann wie­der ein­mal auf­neh­men: Mum­bai – Dar­jee­ling in Zügen.

ping

 

///

ein gelungenes gespräch

pic

echo : 15.12 – Das Mäd­chen steht im Zug neben mei­nem Kof­fer, der sie über­ragt. Gera­de noch hat sie den Him­mel betrach­tet. Der Him­mel bewegt sich heu­te schnel­ler als sonst. Aber jetzt sieht sie mich an, lächelt, sagt, sie hei­ße Nadi­ne. Das ist ein wun­der­schö­ner Name, ant­wor­te ich, wie alt bist Du denn, Nadi­ne? Rasch schaut das Mäd­chen zu sei­ner Mut­ter hin, schaut nach, ob alles in Ord­nung ist. Dann hebt sie die lin­ke Hand und dort einen Fin­ger und noch einen Fin­ger und noch einen Fin­ger, ihre zwei­te Hand kommt hin­zu und ein wei­te­rer Fin­ger, sodass Nadi­ne bald schon 7 Jah­re alt gewor­den ist. Als sie den ach­ten Fin­ger hebt, hält das Mäd­chen inne. Sie sieht jetzt sehr unglück­lich aus, viel­leicht weil sie bemerkt, dass sie wei­ter zäh­len kann, als die Zeit in Jah­ren, die sie bereits lebt. Ja, sie sieht mich an und ich erken­ne an ihren Augen, dass sie gleich wei­nen wird. Also hebe ich bei­de Hän­de und zei­ge mit mei­nen Fin­gern die Zahl 8. Kurz dar­auf kniet ein Fin­ger nie­der und ich zei­ge die Zahl 7, und Nadi­ne macht mei­ne Bewe­gung nach, und weil sie bereits ein sehr waches Kind gewor­den ist, sin­ken zwei wei­te­re Fin­ger und ich mache es ihr gleich und wir las­sen bei­de unse­re rech­ten Hän­de sin­ken. Nadi­ne wird fünf, dann vier, dann drei. Als Nadi­ne zwei Jah­re alt gewor­den ist, bemerkt sie, die­ses Mal mit Trotz im Gesicht, dass etwas nicht stimmt, weil noch immer drei, nicht zwei mei­ner Fin­ger auf­recht zu sehen sind, und sie betrach­tet den Him­mel, der sich schnel­ler bewegt als sonst, und sie betrach­tet mein Gesicht und zunächst die Augen, dann den Mund ihrer Mut­ter und jetzt bewegt sie ihre Hand und sie sagt, nein, soviel, und zeigt mir das Ergeb­nis ihrer Arbeit und lächelt und leuch­tet, nein, glüht vor Glück, als auch ich mei­nen vier­ten Fin­ger in Bewe­gung setze.

ping

///

geraldine : island

pic

echo

~ : geraldine
to : louis
sub­ject : ISLAND

Lie­ber Mr. Lou­is, wie geht es Ihnen? Ich hof­fe, gut. Schrei­ben Sie mir ein­mal auf, wie es Ihnen geht, weil ich oft an sie den­ke. Ges­tern sind wir an Island vor­bei­ge­fah­ren. Ich war sehr schwach und konn­te nicht an Deck. Ich habe durch das Bull­au­ge mei­ner Kajü­te geschaut. Eine dunk­le Küs­te, die immer wie­der ein­mal kurz aus dem Nebel tauch­te. Aber jetzt sit­ze ich wie­der an Deck. Erst kam der Dok­tor, dann kam Vater und hat mich hin­auf­ge­tra­gen. Heu­te ist die Luft klar und kalt. Man kann das Ende des Mee­res nicht erken­nen, ich mei­ne, man kann nicht sehen, wo es auf­hört kurz vor dem Him­mel. Sehr selt­sam. Ich suche den Hori­zont und manch­mal, wenn ich glau­be, dass ich ihn erkannt habe, ist alles unscharf gewor­den. Viel­leicht liegt das auch an den Schmer­zen, die ich habe und dass mir oft die Kraft fehlt, mei­ne Augen noch offen­zu­hal­ten. Ich habe für Vater ein wenig die Möwen gefüt­tert und wir haben gelacht und ich habe wie­der ein­mal gese­hen, wie groß sei­ne Füße doch sind. Als er mich allein gelas­sen hat­te, habe ich das Brot für die Möwen auf den Boden vor mich hin­ge­wor­fen, weil ich nicht die Kraft habe, das Brot in die Luft zu wer­fen. Kann kaum noch den Blei­stift hal­ten. Eis schwimmt im Was­ser. — Ihre Geraldine

notiert im Jah­re 1962
an Bord der Queen Mary
auf­ge­fan­gen am 6.9.2008
20.16 MESZ

geral­di­ne to louis »

ping

///

mollusken

pic

marim­ba : 5.12 — Ich zähl­te Wol­ken, ein, zwei, drei. Ich lag auf dem Rücken in einem Kin­der­wa­gen, der roll­te, und ord­ne­te Kis­sen und Ras­seln und einen Him­mel, der nah war, sehr nah, zum Grei­fen nah war er gewe­sen, weil ich noch nicht ste­hen und lau­fen konn­te, so wie ich woll­te. Kaum konn­te ich lau­fen, zähl­te ich Schne­cken. Ich zähl­te die Schne­cken im Wald, in dem ich spa­zier­te, ich zähl­te die roten, die nack­ten, die gel­ben, die blau­en Schne­cken­mol­lus­ken, ich zähl­te bis zehn, dann lern­te ich hun­dert und zähl­te so lan­ge ich ging ohne Sum­me, vor­sich­tig, weil ich noch klein war und die Schne­cken so groß wie mei­ne Schu­he. Dann lag ich wach, ich war ver­liebt und konn­te nicht schla­fen und hör­te den Regen gegen die Fens­ter pras­seln. Jetzt zähl­te ich Regen, das Was­ser. Ich lern­te, wohl weil ich ver­liebt gewe­sen war, dass es einen Regen gibt, der gezählt wer­den kann, und einen ande­ren Regen, den ich als Rau­schen hör­te, einen Regen, der zu schnell ist, um je von einem Men­schen berech­net zu wer­den. – Es ist jetzt kurz vor halb sechs. Habe die Kno­chen der Hand stu­diert. Noch immer kei­ne Däm­me­rung. Bald Win­ter. — stop

ping



ping

ping