india : 22.06 UTC — Regenwindtücher wandern in der Ferne vor Bergen, die sich am Horizont deutlich abbilden. Vom Lido aus, an der Meerenge zur Inselzunge Palestrina, öffnet sich ein weiter Blick nordwärts über die Lagune hin. Das Meer noch beruhigt, Muschelfangstationen setzen wie gezeichnet feine Akzente, hölzerne Finger, zu Reihen gruppiert, jenseits der Wasserbahnen, die mittels mächtiger Bohlen markiert worden sind. In Alberoni steige ich aus, spaziere an Leuchttürmen vorbei, eine Mole entlang, mächtige Steine. Da sind ein wilder Wald und sumpfige Mulden, in welchen Fischchen blitzen, Wolkenstrukturen, die des Himmels und die der Schuppenhautschwärme. Ich nähere mich Schritt für Schritt, irgendwo da unten in der Tiefe der Wasserstraße hin zum offenen Meer soll sich M.O.S.E. befinden. Eine junge Venezianerin erklärte noch: Bad Projekt! Und wie sich ihre Augen angesichts des Bösen verdunkelten, meinte ich meinen Wunsch, M.O.S.E zu besuchen, verteidigen zu müssen. Die Sonne geht langsam unter. Rötlich glimmende Stäbe nahe dem schmalen Mund zur Lagune erscheinen, als würden sie in der Nacht auf die Existenz des schlafenden Schutzriesen unter der Wasseroberfläche verweisen. Da liegt ein verlassener Kinderspielplatz in Meeresnähe unter Oleanderbäumen. Ein sandiger Strand, Muscheln, hölzernes Treibgut, drei Möwen, ein Angler, Fußspuren im feuchten Sand, die die aufkommende Flut bald verschlingen wird. Im Wasser selbst drei menschliche Köpfe, die lachen, und ein weiterer Kopf, der sich parallel zur Küste schwimmend hin und her bewegt, nur nicht die tiefere Zone dieses Meeres berühren, in dem so viele Menschen bereits ertrunken sind. In einem Regal des Kinderspielplatzes entdecke ich heimwärts gehend einige Bücher, kurz darauf einen Fußabdruck, den ich selbst hinterlassen haben könnte. — stop
Aus der Wörtersammlung: schlaf
s.alvise
nordpol : 15.55 UTC — Heute Morgen ist mir etwas Seltsames mit mir selbst passiert. Ich war nämlich Einkaufen in einem Supermarkt. Eine alte Dame, sehr freundlich, weckte mich, in dem sie mir erklärte, wo genau ich Plastikhandschuhe finden könne, um Apfelsinen oder Melonen in meine Hände nehmen zu dürfen. Ich muss mich schlafend nach Handschuhen erkundigt haben oder aber habe Äpfel und Birnen barhändig berührt. Die alte Dame war sehr fürsorglich und leise, als ob sie seit Jahrhunderten mit schlafenden Menschen im Supermarkt Umgang pflegte. Ich kaufte für zwei Tage Obst, Krabben und Linsen, und auch etwas Wasser und Kaffee, trat dann aus dem Supermarkt hinaus in die warme, helle Sonne, ein Vaporetto fuhr in wenigen Metern Entfernung an mir vorbei, und ich sah sehr deutlich mich selbst an Bord des Schiffchens stehen, wie ich vielleicht gerade die Echolote einer Twitternachricht beobachtete, welche ich eine Stunde zuvor gesendet hatte. Eine Eidechse flitzte über uraltes Pflaster landeinwärts, zwei junge Seemöwen warteten pfeifend auf die Ankunft ihrer Eltern, und das Wasser zu meinen Füßen blinkte, als sendete es Botschaften irgendwohin. Nachmittags dann war ich spazieren im Cannaregio. Ich glaube, ich habe ein Haus entdeckt, das über keinerlei Türen verfügt, oder aber vielleicht über eine Tür auf dem Dach, eine Dachtür. Ob vielleicht in dieser merkwürdigen Stadt Menschen existieren, die zu fliegen, in der Lage sind? — stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die überzeugt sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
sandmann
ulysses : 22.08 UTC — Irgendwo, nicht lesbar für mich, soll im World Wide Web die schriftliche Arbeit einer Frau existieren, die vor Jahren einmal über eine verschlüsselte Datenverbindung mit einem Mann konfrontiert gewesen war, der sie bedrohte. Ich weiß nicht, was genau geschehen war. Nur soviel, dass diese Frau seither einen Text notiert, der in ihrer Vorstellung niemals enden darf, weil sie der Überzeugung ist, ihre schreibende Arbeit würde sie schützen. Dieser Text, in chinesischer Sprache verfasst, soll seinerseits von einer bedrohten Frau erzählen, die sich Tag für Tag erinnert und fürchtet, eine Beschwörung, die Geschichte eines Lebens ohne Schlaf. — stop
ein nilpferd auf dem dach
sierra : 12.42 UTC — Auf das Telefon, das im Wohnzimmer des Hauses der alten Menschen zu beobachten ist, tropft Wasser. Die alte Dame, die seit einigen Jahren vor diesem Telefon sitzt und telefoniert, obwohl das Telefon niemals mit der Welt da Draußen in Verbindung gesetzt wurde, scheint sich nicht zu wundern. Sie wählt eine um die andere Nummer. Das Telefon verfügt über eine Wählscheibe wie von längerer Zeit üblich bei Telefonen. Die alte Hand, die die Wählscheibe bedient, ist ganz feucht vom Wasser, das von der Decke tropft, weil das Haus der alten Menschen zurzeit über kein Dach verfügt, weil man das Dach abgerissen hat, weil man neue Zimmer an der Stelle des Daches errichten möchte. Niemand scheint daran gedacht zu haben, dass Regen fallen könnte, deshalb liegen in den Fluren nun auch Stoffe herum, die das Wasser anziehen und in sich aufnehmen sollen, Stoffwarane, über die man stürzen könnte. Aber daran denkt die alte Dame nicht, sie telefoniert und erzählt, dass es seltsamerweise regnet in dem Zimmer, in dem sie sitzt von früh bis spät. Könnte gut sein, dass ihr niemand glauben wird, dass man so etwas tut, das Dach über einem Wohnzimmer entfernen, wo die alten Menschen wohnen, und auch das Dach über den Zimmern, wo die alten Menschen schlafen, sodass es auch nachts in den Betten regnet, weil niemand daran dachte, dass es bei Nacht regnen könnte. Und dieser Lärm der Bohrmaschinen und der Presslufthämmer, davon ganz zu schweigen, da möchte man für immer die Augen schließen, lang vor der eigentlichen Zeit. — stop
von stühlen
nordpol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Menschen sitzen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fernsehapparat, der an der Wand hängt, flach wie ein Schollenfisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen nehmen kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist ausgeschaltet, der Fisch ist stumm. So sitzen sie zeitlos, wie mir scheint, sie erinnern sich vermutlich nicht, ob ich an diesem Tag schon an ihnen vorüber gekommen bin, aber sie kennen mich, den treuen Besucher, ich habe doch einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mich über einen langen Flur spazierend dem Raum der alten Damen nähere, weiß ich präzise vorherzusagen, welche der Damen auf welchem der Stühle sitzen wird, vor dem Tisch, der dreimal am Tag sich füllt, mit Speisen, auch mit Kaffee oder gekühltem Himbeersaft. Nur wenn das Wetter sich Hals über Kopf verändern wird, davon erzählen leere Stühle, die doch von den Abwesenden besetzt sind, sie warten oder schlafen nachts im Halbdunkel, schlafende Stühle. — stop
minutengeschichte
echo : 0.02 UTC — Im Haus der alten Menschen in einem Flur steht ein Rollstuhl. Eine winzige Person sitzt in diesem Stuhl, so klein ist sie, dass von hinten her nur ein Hut von ihr zu sehen ist, der sich nicht bewegt, weil die kleine Person, eine alte Dame, eingeschlafen ist. Auf einem Sofa in ihrer unmittelbaren Nähe hockt ein Mann, ihr Sohn. Der Sohn schaut zum Fenster hinaus, es blitzt, ein Regen beginnt, der die Luft hell werden lässt, und dann donnert es, und die alte Dame wird wach. Mit ihren mageren Händen, die zittern, nähert sie sich ihrem Sohn. Er lächelt sie an, und sie sagt zu ihm: Komm, hilf mir, ich möchte aufstehen und gehen. Und der Mann antwortet: Mutter, du kannst nicht gehen, Du bist seit einem Jahr nicht auf eigenen Beinen gestanden, Du bist schwer gestürzt, Du bist auf Deinen Kopf gefallen, Deine Beine sind so dünn, dass ich sie je mit einer Hand umfassen könnte. Und da sagt die alte Dame zu ihm: Ich kann gehen, ich weiß das, komm hilf mir, ich bin immer gegangen. Warum willst Du mir nicht helfen! Und sie sieht ihn an, er kennt diesen Blick. Und es donnert und blitzt da draußen vor dem Fenster, ein wunderbares Gewitter, ganz wunderbar. — stop
wolkenserver
tango : 8.32 UTC — Ich stellte mir einen kleinen Vogel vor, so groß vielleicht wie eine Fruchtfliege mit einem Plutoniumherz, ein Geschenk der Eltern an ein Kind, eine Aufzeichnungsmaschine, federleicht, welche das Leben des Kindes begleitet, verzeichnet, was das Kind unternehmen wird in seinem Leben, was es notieren und sprechen, wohin es reisen, wie gut oder schlecht es schlafen wird. Ein Leben aus nächster Nähe, zuverlässig aufgenommen und gespeichert in einem Wolkenserver. — stop
nachtuhr
india : 0.06 UTC — Diese eine Minute in der Nacht. Ich stehe in der Diele im Licht und schaue auf meinen linken Arm. Ich meine, eine Uhr zu erkennen, die sich unter meiner Haut befindet, eine winzige Uhr mit einem blauen Zifferblatt, es ist dort kurz nach 2 Uhr. Ich bin überzeugt, diese Uhr noch nie zuvor gesehen zu haben. Ich gehe in die Küche und schreibe im Halbschlaf auf einen Zettel: Nachtuhr suchen. Dann schlafe ich wieder ein und finde am Morgen auf dem Tisch neben Äpfeln und Bananen meine Notiz. Seltsame Geschichte. Ob vielleicht Uhren dieser Art existieren, tauchende Uhren. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Bald wieder schlafen. — stop
von magnetbändern
lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist virtuell, es kommen keine Antworten. — stop