tango : 8.12 — Vor wenigen Tagen hörte ich am Telefon, ein Freund sei wegen eines Postings auf Position Facebook bedroht worden, das war eine Drohung gegen Leib und Leben. Er hatte sich einem Pegida-Fan gegenüber kritisch geäußert, darauf folgende öffentliche Unterhaltungen eskalierten. Mein Freund bemühte sich zunächst, Spuren im Internet, die zu seinem Wohnort führen könnten, zu löschen, eine schwierige Arbeit, sehr viele Spuren waren zu notieren und jede einzelne für sich bedeutete bittende oder fordernde Kommunikation über Eingabemasken mit entsprechenden Webseiten oder Institutionen. Seit zwei Wochen trainiert er Möglichkeiten, sich eines körperlichen Angriffes zu erwehren, nach Einbruch der Dunkelheit verlässt er das Haus durch einen Hintereingang, die Straße vor dem Haus wird von ihm beobachtet, weshalb er zum ersten Mal entdeckte, dass in den Bäumen jenseits der Straße zwei Eichhörnchen wohnen. Heute ist Donnerstag. — stop
Aus der Wörtersammlung: seiten
von zeppelinkäfern
marimba : 2.28 — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. Das war gegen 2 Uhr gewesen. Ich beobachtete aus mehreren Metern Entfernung wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag bei großer Hitze. — stop
onkel ludwig
tango : 1.38 — Mein alter Onkel Ludwig, der wirklich schon sehr alt ist, berichtet, er habe errechnet, wenn er noch in der Lage wäre, jeden Tag 300 Seiten eines Buches zu lesen, wenn er außerdem noch fünf Jahre lesend erleben dürfte, würde er, bei guter Führung, 1825 weitere Bücher zu sich nehmen. Das könnte genügen, sagte Onkel Ludwig. Er ist übrigens noch sehr gut zu Fuß, man kann ihn morgens gegen 10 Uhr beobachten, wie er die Treppen zur Stadtbibliothek erklimmt. Er kommt mit der Straßenbahn dort an, heimwärts, schwere Büchertaschen tragend, nimmt er ein Taxi. Manchmal sitzt er noch ein oder zwei Stunden im Cafe Mozart, er liebt Käsekuchen und Mohnschnitten von Herzen. Ich glaube, heute ist Mittwoch, heute wird er ein Buch der Schriftstellerin Yoko Ogawa zu sich nehmen, so ist sein Plan, in diesem Buch soll ein Elefant auf dem Dach eines Kaufhauses leben. Gerade eben leichter Gewitterregen. Das wird sicher sehr warmes Wasser sein, das vom Himmel fällt. Guten Morgen! — stop
vom fangen
sierra : 6.52 — Eine merkwürdige Website existiert im Internet, man kann dort nämlich Wörter oder Sätze in eine Maske transferieren, nur um Sekundenbruchteile später angezeigt zu bekommen, wie viele Normseiten diese oder jene eingegebene Zeichenfolge in der papierenen Welt bedecken würde. Ich stellte mir vor, wie Texte in genau dem Moment, da sie von einer Autorin oder einem Autor in die vorgegebene Maske geschüttet werden, mittels einer Datenbank festgehalten sind, fraglos, heimlich, lautlos, um sie eventuell einer weiteren Verwendung zuzuführen, Gedanken, ungewöhnliche Formulierungen, Einsichten, Erzählungen, Romane, Gedichte. Es könnte sich demzufolge um eine Webseite handeln, die sich in der Art und Weise der Ansitzjäger verhält. Wir sollten das beobachten. — stop
1 komma 2 minuten
nordpol : 8.08 — Im Begrüßungstext einer Kindle-Buchsammelmaschine (Paperwhite) werden für Péter Nádas Roman Buch der Erinnerung (1024 Seiten) 20 Stunden und 29 Minuten typische Lesezeit verzeichnet, präzise betrachtet: 1,2 Minuten Beobachtungszeit pro Seite des Buches. Kuriose Geschichte. — stop
unterm maulbeerbaum
delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop
überall liegen Bücher herum
echo : 2.26 — Früher einmal existierten Bücher, deren Seiten miteinander verbunden waren. Bevor man die Seiten dieser Bücher lesen konnte, musste man sie voneinader trennen. Seltsamerweise hatte ich ihre Existenz vergessen, bis ich gerade eben solche Bücher in einem Text von Nathalie Sarraute bemerkte. Aber vielleicht ist das Wort vergessen in diesem Zusammenhang nicht richtig gewählt, ich hatte jahrelang nicht an sie gedacht, im Geheimen waren sie vermutlich immer anwesend gewesen. Sofort begann ich damit, die Umgebung meiner Erinnerung zu erkunden. Ich entdeckte eine Tante. Wenn die Tante zu Besuch kam, küsste sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauchsuppe, weil sie einen Gemüsehändler kannte, der ihr Lauchstangen schenkte. Diese Tante also, deren Gesicht zerfurcht war von unzähligen Falten, schenkte mir einmal ein Buch genau dieser erwähnten Art, ein Buch, dessen Seiten miteinander verbunden waren, so dass ich jede Seite mit einer Schere zunächst von der nächsten trennen musste. Das Buch war kein Kinderbuch gewesen, ich hatte noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu diesem Zeitpunkt, aber Nathalie Sarraute, die damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein könnte, in einem Alter, als mich die Tante mit den Lauchstangen noch besuchte. Sie notierte: Es liegen überall Bücher herum, in allen Zimmern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekommen sind … kleinere, mittlere und große …Ich nehme die Neuankömmlinge in Augenschein, ich schätze die Mühe, die jedes erfordern wird, die Zeit, die es mich kosten wird … Ich wähle eins aus und setze mich mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien hin, ich umklammere das breite Papiermesser aus grau aussehendem Horn, und ich fange an … zuerst zertrennt das waagerecht gehaltene Papiermesser den oberen Falz der vier zusammenhängenden Doppelseiten, dann senkt es sich, richtet sich wieder auf und gleitet zwischen die beiden Seiten, die nur noch längsseits miteinander verbunden sind … dann kommen die „leichten“ Seiten, sie sind an ihrem langen Rand offen und brachen nur noch oben getrennt werden. Und wieder die vier „schwierigen“ Seiten … und dann vier „leichte“, und dann vier „schwierige“, und so weiter, immer schneller, meine Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwindlig, … „Hör jetzt auf, mein Liebling, das reicht, hast du wirklich nichts Interessanteres zu tun? Ich werde beim Lesen selber aufschneiden, das stört mich nicht, ich mache das ganz automatisch …“ Es kommt jedoch nicht in Frage, dass ich aufgebe. — stop / Nathalie Sarraute Kindheit — aus der französischen Sprache übersetzt von Erika und Elmar Tophoven
wanda
delta : 0.18 — Wie Wanda gerade wieder einmal glücklich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenkte, 1305 Seiten: Das Buch der Erinnerung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man vermutlich sagen: Das ist ein schweres Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schatten der Buchstaben sind gut zu erkennen, so dünn sind die Seiten des Buches, dass das Licht sie zu durchdringen vermag. Wanda hat das sofort bemerkt. Seither nimmt er jede Seite, ehe er zu lesen beginnt, zärtlich zwischen seine Finger, fährt ihre Ränder entlang, legt kurz darauf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein persönlicher Tisch ist, spitzt einen Bleistift und notiert einen weiteren Satz des Buches der Erinnerung. Sehr kleine, wunderbare Schriftzeichen, akkurat gesetzt. Sobald Wanda am Ende des Satzes angekommen ist, hält er inne, um jedes niedergelegte Wort Zeichen für Zeichen zu prüfen: … hatte ich schon Budaörs erreicht, der Weg dorthin war lang, kurvenreich und dunkel gewesen, eine Art Steilpfad führte hinunter in die Ebene ein umgepflasterter Graben mit gefrorenen Wagenspuren, auf beiden Seiten das dichte Spalier hochaufgeschossenen Gestrüpps … So arbeitet Wanda Stunde um Stunde voran, er beginnt am Morgen um kurz nach Acht, mittags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vorsichtig verlässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch dieses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, seinem letzten Buch folgte ein weiteres letztes Buch, das ihm Joseph schenkte. Joseph ist ein Guter unter den Menschen. Joseph sagt: Solange Du Bücher notierst, solange Du arbeitest, wird Dich niemand fragen.. — stop
thessaloniki
sierra : 6.24 — In Thessaloniki, am vergangenen Freitag, wurde von Passanten beobachtet, wie eine Frau, Großmutter, im Alter von 76 Jahren nahe des zentralen Busbahnhofes von einer Brücke sprang. Ist das eine Nachricht? — stop
zola jackson
marimba : 3.25 — Leichter, gnädiger Regen heut Nacht. Gegen zwei Uhr nehme ich Gilles Leroys Roman Zola Jackson zur Hand. Ich schaue auf die Uhr, fange an zur vollen Stunde, versuche so viele Seiten des Buches zu lesen in dieser kommenden Stunde wie möglich, ohne auf Gefühle, die Wörter erzeugen könnten, verzichten zu müssen. Um drei Uhr lege ich das Buch zur Seite. Drei Falter sind in die Wohnung vorgedrungen. Ich weiß nicht weshalb, ich meine in ihren pelzartigen Erscheinungen verkleidete Wesen erkennen zu können. Wenn ich einen Gedanken, der vielleicht seltsam ist, der Erfindung sein könnte, lange genug betrachte, vermag ich die Konsequenzen dieses Gedankens wahrzunehmen, als wäre die Erfindung tatsächlich vor mir in der Luft, und flatterte herum, und suchte an den Wänden meines Zimmers nach einem Ausgang in den Tag, der niemals existierte. — stop