Aus der Wörtersammlung: station

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romantische kurzgeschichte

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sier­ra : 4.28 — Genè­ve / Place Bel Air. Es ist 1 Uhr und 30 Minu­ten MEZ : Ein Mann dunk­ler Haut­far­be, schwer betrun­ken, wird von städ­ti­schen Gen­dar­men im zen­tra­len Poli­zei­amt fest­ge­setzt. Ruhe­stö­rung. — 1 Uhr 35 Minu­ten MEZ : Der Betrun­ke­ne, Hän­de auf den Rücken gefes­selt, behaup­tet Char­lie Par­ker zu sein. Er will sein Saxo­phon wie­der­ha­ben. — 2 Uhr 05 Minu­ten MEZ : Die Iden­ti­tät des Gefes­sel­ten wird zwei­fels­frei fest­ge­stellt. Es han­delt sich um US-Bür­ger Jon­ny Wil­ker­son, 36, wohn­haft zu Paris, 8, Rue de Javel. – 2 Uhr 38 Minu­ten MEZ : Über­ga­be des Blas­in­stru­men­tes an den Ran­da­lie­ren­den. – 2 Uhr 40 Minu­ten bis 4 Uhr und 5 Minu­ten MEZ : Fünf sta­tio­nä­re Gen­dar­men der Nacht­schicht sind von ent­fes­sel­ten Geräu­schen, die einer ver­git­ter­ten Aus­nüch­te­rungs­zel­le ent­kom­men, stark beein­druckt. Man hat Stüh­le von Holz vor dem Gehäu­se abge­stellt. — 4 Uhr und 6 Minu­ten MEZ : Par­ker, Char­lie, ein­ge­schla­fen. — stop

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hell’s kitchen : ballroom

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alpha : 20.02 — Die Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on Höhe 42. Stra­ße soll die größ­te Bus­sta­ti­on der Ver­ei­nig­ten Staa­ten sein, 7200 Auto­mo­bi­le ver­las­sen oder errei­chen an einem durch­schnitt­li­chen Tag das Gebäu­de in der Nähe des Hud­son Rivers. Ich soll­te ein­mal von hier aus nach Mexi­ko fah­ren oder rauf nach Alas­ka oder Neu­fund­land, ein Ort der Kof­fer, der Ruck­sä­cke. Ich habe Men­schen beob­ach­tet, die aus einem ande­ren Jahr­hun­dert kom­mend hier ein­ge­trof­fen zu sein schei­nen, Frau­en mit Röcken bis zum Boden, Män­ner in Kni­cker­bo­cker­ho­sen, Golf­schu­hen, hel­len Som­mer­ja­cken inmit­ten des Win­ters in einem sich lang­sam dre­hen­den Wir­bel von Kör­pern. Im Erd­ge­schoss des Gebäu­des befin­det sich in einem Gehäu­se von Glas und Stahl eine Maschi­ne, die mit Bil­lard­ku­geln spielt, eine Skulp­tur des Künst­lers Geor­ge Rhoads. Man kann sie weit­hin hören, klin­geln­de, rat­tern­de Geräu­sche, und das Glück der Kin­der beob­ach­ten, die mit ihren Augen den Kugeln fol­gen, wel­che von der Schwer­kraft in Bah­nen gegen den Boden gezo­gen wer­den. Ein Wesen, das bei Tag und bei Nacht arbei­tet, indem ein Auf­zug, von einem klei­nen Elek­tro­mo­tor ange­trie­ben, jene stein­har­ten Bäl­le in die Höhe hebt, um sie bald wie­der los­zu­las­sen in ein Laby­rinth mög­li­cher Bah­nen. Es ist ein wenig so, als wür­de die Maschi­ne spre­chen oder sin­gen oder spie­len, selbst­ver­ges­sen, hei­ter, leicht. Ich muss mich nicht wun­dern, ein­mal waren alle Kugeln, weiß der Him­mel, war­um, aus ihren Bah­nen gesprun­gen, und ich hat­te den Ein­druck, die ver­stumm­te Maschi­ne sei aus dem Leben gegan­gen. Gera­de eben, es ist Mon­tag­abend gewor­den, fällt mir ein, dass ein Freund unlängst erzähl­te, dass er sehr trau­rig sei, weil sei­ne Groß­mutter im unge­fäh­ren Alter von 105 Jah­ren in Afri­ka gestor­ben sei. Sie habe noch eine Wüs­ten­spra­che gespro­chen, die ohne Zei­chen gewe­sen war für Papie­re, Holz, Stein, Erde. — stop

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chelsea : ein stunde

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echo : 0.28 — In der 22. Stra­ße West exis­tiert ein klei­ner Laden für Lam­pi­ons und ande­re papie­re­ne Licht­be­häl­ter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lam­pi­on zu befin­den, weil Wän­de, wie sie in Häu­sern üblich sind, dort nicht zu exis­tie­ren schei­nen, nur Licht und eben Papie­re in allen erdenk­li­chen For­men. Ein Ort von Stil­le, die Luft duf­tet feinst nach der Wär­me tau­sen­der Lam­pen, die im Inne­ren der Lam­pi­ons sta­tio­nie­ren. Men­schen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Men­schen, die zum Laden gehö­ren, weder bewe­gen noch sich über Spra­che äußern, viel­leicht des­halb, weil sie in den Laden ein­tre­ten­de Men­schen nicht stö­ren wol­len im Bestau­nen leuch­ten­der Kro­ko­di­le, Schwert­fi­sche, Zep­pe­li­ne. Es ist nun tat­säch­lich mög­lich, die­se ver­bor­ge­nen Per­so­nen in Bewe­gung zu ver­set­zen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in die­sem Moment einer Berüh­rung tre­ten sie aus dem Licht her­aus in den Raum, eine zier­li­che Frau und ein zier­li­cher Mann, sie wer­den ver­mut­lich schon sehr lan­ge Zeit ver­hei­ra­tet sein, so wie sie sich beneh­men, glück­li­che, freund­li­che Men­schen. Alle ihre Waren im Übri­gen beschrif­ten sie noch von Hand, zwei Mon­de von blau­er Far­be zu je 1 Dol­lar 48 Cent. Im Schau­fens­ter fin­det sich fol­gen­des Schild: Täg­lich von Mon­tag bis Sonn­tag 25 Stun­den geöff­net. — stop

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upper west side : broadway

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del­ta : 8.05 — Das Haus am River­si­de Dri­ve, in dem Uwe John­son leb­te und arbei­te­te. Pfa­de, die Uwe John­son spa­ziert haben könn­te. Eine Sub­way Sta­ti­on, 96. Stra­ße, uralte, dunk­le Bäu­me. Das Regen­licht über dem Hud­son. Was­ser­tanks, die auf Dächern wach­sen. Auf dem Broad­way tor­kelt eine Ampel. Klei­ne, schwar­ze, schweig­sa­me Män­ner in grü­nen Uni­for­men der Frei­heits­sta­tue ver­tei­len Ein­la­dun­gen zur Schiff­fahrt. Eine Kut­sche wei­ßer Pfer­de, damp­fen­de Nüs­tern, klap­pert in Rich­tung Cen­tral Park. Es ist Mon­tag, oder Diens­tag oder Sonn­tag. Eine Frau, sie tele­fo­niert in einer Spra­che, die ich noch nie zuvor hör­te. Ein Mann mit Kühl­schrank war­tet am Stra­ßen­rand. Schnel­le, scheue Bli­cke. — stop

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manhattan : canal street

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tan­go : 10.15 — Ich habe einen merk­wür­di­gen Kon­duk­teur der Sub­way mit Tau­cher­bril­le beob­ach­tet. Der Mann war auf der N‑Linie von Brook­lyn her kom­mend in die Canal Street ein­ge­fah­ren. Ein sel­te­ner Anblick. Sein schma­ler Kopf, der aus einem der mitt­le­ren Wag­gons des Zuges rag­te, im Fahrt­wind wehen­des, schloh­wei­ßes Haar, und eben sei­ne Bril­le, deren Schei­be Augen und Nase unwirk­lich ver­grö­ßer­te. Für einen Moment hat­te ich den Ein­druck, die Tau­cher­bril­le des Man­nes sei mit Was­ser gefüllt. Ich woll­te den Mann foto­gra­fie­ren, aber das Licht der Sta­ti­on war spär­lich und der Mann schau­kel­te ohne Pau­se sei­nen Kopf hin und her wie ein alter, müder Ele­fant, ver­mut­lich weil er sich um einen umfas­sen­den Blick der Ereig­nis­se auf dem Bahn­steig bemüh­te. Es ist nun denk­bar, dass ich eine Per­son beob­ach­tet habe, die fest mit dem Füh­rer­haus des Zuges ver­wach­sen war, denn der Mann füg­te sich har­mo­nisch in das Bild, das ich mir seit jeher von wirk­li­chen Zug­füh­rern mache, Men­schen, die auf Zug­stän­den gebo­ren wer­den, Men­schen, die auf Zügen fah­rend ihre Kind­heit ver­brin­gen, Men­schen, die letzt­lich ihren per­sön­li­chen Zug zur Leb­zeit nie­mals ver­las­sen. — stop

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east village : gehschläfer

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marim­ba : 0.18 — So, stel­le ich mir vor, könn­te das sein. Es ist Abend gewor­den, Zeit das Büro zu ver­las­sen. Man tritt vor das Gebäu­de, in dem man sei­ne Tage fris­tet, setzt sich ein elek­tri­sches Häub­chen auf den Kopf und schon schließt man die Augen und schläft und geht in die­ser Wei­se schla­fend auf Wegen nach Hau­se, die für schla­fen­de Men­schen vor­ge­se­hen sind. Nie­mand wür­de je auf die Idee kom­men, einen schla­fen­den Pend­ler zu wecken. Drei Stun­den, sagen wir, im Tief­schlaf schrei­tet man die 5th Ave­nue down­town, biegt bald in die 23. Stra­ße ein, folgt ihr, weiß der Him­mel wovon man gera­de träumt, bis zur 1st Ave­nue, um kurz dar­auf in der 20. Stra­ße zu lan­den, Haus No 431, dort wird man geweckt und fin­det sich im Auf­zug wie­der, wie frisch geba­det im Kopf, um eine Nacht rei­cher gewor­den, zu fei­ern, zu lie­ben, mit Kin­dern zu spie­len. Am nächs­ten Mor­gen macht man sich wie­der auf den Weg, setzt sich sein Häub­chen, und auch die Kin­der set­zen sich ihre Häub­chen auf den Kopf, und so wei­ter und so fort. Irgend­wo soll­te eine zen­tra­le Sta­ti­on exis­tie­ren, die Schlaf und Schrit­te jener schlum­mern­den Men­schen steu­ert. — stop

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upper east side : mail

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india : 2.08 — Im 22. Stock des Hau­ses in Man­hat­tan, in dem ich woh­ne, befin­det sich vor Auf­zü­gen ein Brief­kas­ten der United Sta­tes Pos­tal Ser­vices, ein Schlitz, der in die Wand ein­ge­las­sen wur­de, ein guss­ei­ser­ner Mund, genau­er, mit einem schwe­ren Häub­chen von roter Far­be. Ich war im Postof­fice an der Penn Sta­ti­on gewe­sen, um eine Brief­mar­ke zu besor­gen und einen Brief­um­schlag, eine Post­kar­te hat­te ich schon, sie zeigt eine Foto­gra­fie der Mund­har­mo­ni­ka Jack Kerou­acs. Ich habe nun Fol­gen­des unter­nom­men. Ich habe auf die Post­kar­te einen Satz für mich selbst notiert, der natür­lich geheim blei­ben muss. Dann habe ich die Post­kar­te in den Brief­um­schlag gesteckt, mei­ne Adres­se notiert und den Brief in den klei­nen Mund vor den Auf­zü­gen gesteckt. In dem Moment, da ich den Brief aus den Hän­den in die Tie­fe glei­ten ließ, mein Ohr hat­te ich dicht an den Schlitz her­an­ge­führt, war kein Geräusch zu hören gewe­sen, als ob der Brief in einem Nichts ver­schwin­den wür­de. — Spa­ziert im Cen­tral Park. Leich­ter Regen. Eine Stadt vol­ler Men­schen unter Schir­men, die mit­ein­an­der zu spre­chen schei­nen. – stop

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south ferry : elektrischer vogel

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del­ta : 0.08 — Im Regen ges­tern am frü­hen Mor­gen mein­te ich, einen elek­tri­schen Vogel wahr­ge­nom­men zu haben, zunächst in der digi­ta­len Fas­sa­den­haut der Port Aut­ho­ri­ty Bus­sta­ti­on, spä­ter am Times Squa­re, Ecke 46. Stra­ße, ein Phä­no­men, das sich in die Anzei­gen der Stadt ein­ge­fä­delt haben könn­te, einen Code, eine Irri­ta­ti­on, ein Lebe­we­sen, ein mit mir durch den Tag wan­dern­des Sekun­den­ge­schöpf. Auch im War­te­saal der Sta­ten Island Fäh­re war der Vogel gegen­wär­tig gewe­sen, dort als ein Schat­ten, der von Ost nach West über eine Wet­ter­an­zei­ge­ta­fel ras­te. Gleich dar­un­ter war­te­ten Men­schen, die ihre nas­sen Schir­me zaus­ten. Leich­ter See­gang. — stop
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roosevelt island : lawrence

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ulys­ses : 1.58 — Wol­ken­lo­ser Him­mel. ‑8° Cel­si­us. Ich tra­ge heu­te zum ers­ten Mal Law­rence spa­zie­ren unter Man­tel, Pull­over, Hemd unmit­tel­bar auf mei­ner Haut, ein Schlan­gen­we­sen mit einem klei­nen Kopf, der in der Nähe mei­nes Hal­ses zu lie­gen gekom­men ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal her­vor, man muss sich das ein­mal vor­stel­len, Lawrence’s sand­far­be­nen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrock­ne­ten Speck­strei­fen füt­te­re, wäh­rend ich durch die knis­tern­de Win­ter­luft stel­ze. Ich kann Law­rence hören, er ist ein lei­ser, ein gemäch­li­cher Fres­ser. Und die Wär­me füh­len, wun­der­voll, die sein fein­häu­ti­ger Kör­per erzeugt, der mich fest umwi­ckelt, mei­ne Brust, mei­nen Bauch, mei­ne Arme, mei­ne Bei­ne. Speck für sechs Stun­den Wan­der­zeit habe ich in mei­ne Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vor­mit­tags, um kurz vor vier Uhr nach­mit­tags soll­te ich zurück­ge­kom­men sein, dann sehen wir wei­ter. Sonn­tag ist gewor­den. Und so gehen wir an die­sem Sonn­tag also spa­zie­ren, Law­rence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Ave­nue nord­wärts und ein wenig durch den Cen­tral Park. Tau­sen­de hel­ler Wölk­chen stei­gen dort aus den Mün­dern tau­sen­der New Yor­ker Men­schen. Höhe 67. Stra­ße dre­hen wir wie­der um, lau­fen zurück, fol­gen der 59. Stra­ße west­wärts, bis wir den East River errei­chen, Roo­se­velt Island Tram­sta­ti­on. In der Seil­bahn über­ge­setzt, ein­mal hin und sofort wie­der zurück, Ping­pong. In einem Baum, 61. Stra­ße, lun­ger­ten Hun­der­te schla­fen­der Tau­ben, als wären sie Blü­ten. — stop

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queens : ein mädchen

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lima : 22.06 — Es ist spä­ter Nach­mit­tag. Queens. Eigent­lich woll­te ich durch die Gegend strei­fen, in der Lou­is Arm­strong gelebt hat­te, sein Haus besu­chen, das zu einem Muse­um gewor­den ist. Als ich ein­tref­fe, Sta­ti­on North Coro­na, bereits Däm­me­rung. Die Stra­ßen schwach beleuch­tet. In der Nähe eines Fens­ters, das von der Sub­way in einem Abstand von 1 Meter pas­siert wird, sitzt ein dun­kel­häu­ti­ges Mäd­chen vor einem Fern­seh­ge­rät. Ich wür­de das Mäd­chen gern fra­gen, ob es mich sehen kann, ob es die Züge noch hört, die in fünf Minu­ten Fre­quenz an ihrem Wohn­zim­mer vor­über kom­men. Das sind schep­pern­de Züge, krei­schen­de, quiet­schen­de, ble­cher­ne Röh­ren. stop. Schlan­gen. stop. Unge­tü­me. stop. Wie vie­le Jah­re, wie vie­le Züge, die das Mäd­chen viel­leicht nicht hör­te? — stop



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