Aus der Wörtersammlung: station

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rom

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echo : 10.22 UTC — Ein Bahn­hof in Rom. Es ist spä­ter Abend. Rat­ten wan­dern in Her­den über Wän­de der Sta­ti­on. Nahe eines Aus­gangs sit­zen schnee­wei­ße tin­ten­fisch­ar­ti­ge Wesen. Sie schei­nen intel­li­gent zu sein. Ich fra­ge sie nach dem Weg und wache auf. — stop

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paris

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echo : 22.08 UTC — Eine Frau trat an der Sta­ti­on Charles Michels in den Metro­wa­gon, setz­te sich und begann in einem Buch japa­ni­scher Zei­chen zu lesen. Ich beob­ach­te­te ihre Augen, wie sie von der obe­ren Kan­te des Buches senk­recht nach unten wan­der­ten, wie sie sofort wie­der nach oben hüpf­ten und ein wenig zur Sei­te, um dann erneut nach unten zu glei­ten. Eine ver­ti­ka­le Welt. — Als sie mich aber mus­ter­te, mich oder mei­nen Blick, dann eine hori­zon­ta­le Bewe­gung: Auge um Auge, von dem einen zum ande­ren und wie­der zurück. Ein selt­sa­mer Moment. — Der Ein­druck, dass die Frau mei­ne Augen betrach­te­te, als wären sie Schrift­zei­chen, dass sie sich zunächst für die eine, dann für die ande­re Iris inter­es­sier­te. Dar­auf­hin die Ein­sicht, dass ich, wenn ich ein Auge, sagen wir, das lin­ke Auge eines Men­schen für sich betrach­te, den Men­schen hin­ter dem Auge weder sehen noch erken­nen kann. — stop

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m a r i m b o l o

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whis­key : 2.42 UTC — Wenn ich die Stadt New York erfin­de oder wie­der­fin­de, gehe ich spa­zie­ren. Ich set­ze mich in mei­ner Vor­stel­lung auf eine Bank im Tomp­kins Squa­re Park und dann lau­fe ich irgend­wann los mit den Wör­tern, notie­re, was ich erin­ne­re, es ist Früh­ling, heu­te folg­te ich der Ave­nue A nord­wärts. Aber ich bin nicht weit gekom­men, da war plötz­lich eine Art Loch, ich konn­te mich an den Namen eines Perü­cken­la­dens nicht erin­nern. Ges­tern war der Laden in mei­ner Erin­ne­rung über­haupt nicht exis­tent, des­halb konn­te ich an ihm vor­bei­spa­zie­ren. Und heu­te blieb ich dort hän­gen. Das ist schon sehr selt­sam. — stop

ping

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mauerwerk

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whis­key : 12.22 UTC — In der Nähe der Cen­tral­sta­ti­on beob­ach­te­te ich einen jun­gen Mann, wie er dicht vor einer Haus­wand stand mit einer Lupe in der Hand. Lang­sam beweg­te er sei­ne Lupe über das Mau­er­werk hin und her, späh­te indes­sen mit einem Auge durch das kräf­ti­ge Glas, er schien zu lesen. Als ich mich näher­te, dreh­te sich der jun­ge Mann plötz­lich um und sah mich mit einem stark ver­grö­ßer­ten Auge an. Dann flüch­te­te er in Rich­tung der Cen­tral­sta­ti­on Nord­sei­te. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich an einem Mon­tag um 10 Uhr und 12 Minu­ten. — stop

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schlafende mutter

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del­ta : 22.02 UTC — Wie vie­le Tage schon sit­ze ich an Dei­nem Bett, lie­be schla­fen­de Mut­ter, Stun­de um Stun­de. Immer wie­der den­ke ich, wie schwer es doch ist, zu einem Men­schen zu spre­chen, der schläft. Ob Du mich hören kannst? Hör zu, ich wer­de Dir eine Geschich­te vor­le­sen, die ich Dir schon ein­mal las vor über einem Jahr. Einen Win­ter und einen Früh­ling und einen Som­mer lang warst Du auf­ge­wacht, um nun wie­der zu schla­fen. Ich ahne, dass Du mei­ne Stim­me hören kannst, ich habe gelernt. Erin­nerst Du Dich an mei­ne Geschich­te, die von Dei­nen Bril­len erzählt: Es war noch dun­kel im Haus. Ich hör­te ein sir­ren­des Geräusch. Das Geräusch näher­te sich, es kam über die Trep­pe abwärts her­an. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine Dei­ner drei Bril­len, lie­be Mut­ter, die über zar­te Roto­ren ver­fü­gen, wel­che in der Lage sind, Bril­len­kon­struk­tio­nen durch die Luft zu bewe­gen, durch Räu­me oder den Gar­ten. Dei­ne Bril­le kam näher, durch­quer­te das Wohn­zim­mer, kreis­te ein­mal um mei­nen Kopf, lan­de­te schließ­lich sanft auf dem Ess­ti­sch in der Nähe des Stuh­les, auf dem Du, wie ich ver­geb­lich hoff­te, ein­mal wie­der Platz neh­men wür­dest. Über drei Bril­len ver­fügtest Du, lie­be Mut­ter, und jede die­ser Bril­len konn­te flie­gen. Eine Bril­le sta­tio­nier­te im Dach­ge­schoss, eine wei­te­re Bril­le im Erd­ge­schoss, die drit­te Dei­ner Bril­len, lie­be Mut­ter, zu ebe­ner Erde. Wie sie blin­kten, Dioden in gel­ber Far­be, Zei­chen, dass sie sich mit­tels unhör­ba­rer Funk­si­gna­le ori­en­tie­rten. Jetzt lie­gen sie auf dem Tisch­chen reg­los neben Dei­nem Bett, als wür­den sie schla­fen wie Du, lie­be Mut­ter. – stop
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rose No 2

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india : 22.58 UTC — In einem schat­ti­gen Laden nahe der Roo­se­velt Island Tram­way Basis­sta­ti­on West war­te­te ein­mal ein alter Mann hin­ter einem Tre­sen. Er war ver­mut­lich ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger chi­ne­si­schen Ursprungs. Als ich von dem klei­nen Park her, des­sen Lin­den­bäu­me Küh­le spen­de­ten, in den Laden trat, ver­beug­te sich der Mann, grüss­te, er kann­te mich bereits, wuss­te, dass ich mich für Schne­cken inter­es­sie­re, für Was­ser­schne­cken prä­zi­se, auch für wan­dern­de See­ane­mo­nen­bäu­me, und für Pra­li­nen, die unter der Was­ser­ober­flä­che, also im Was­ser, hübsch anzu­se­hen sind, schwe­ben­de Ver­su­chun­gen, ohne sich je von selbst auf­zu­lö­sen. An die­sem hei­ßen Som­mer­abend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzähl­te dem alten Mann, ich wür­de nach einem beson­de­ren Geschenk suchen für ein Kie­men­mäd­chen namens Rose. Sie sei zehn Jah­re alt und nicht sehr glück­lich, da sie schon lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, wie ande­re Kin­der ihres Alters zur Schu­le zu gehen, leib­haf­tig am Unter­richt teil­zu­neh­men, nicht über einen Bild­schirm mit einem fer­nen Klas­sen­raum ver­bun­den. Ich glau­be, ich war genau zu dem rich­ti­gen Zeit­punkt in den Laden gekom­men, denn der alte, chi­ne­sisch wir­ken­de Mann, freu­te sich. Er mach­te einen hel­len, pfei­fen­den Ton, ver­schwand in sei­nen Maga­zi­nen, um kurz dar­auf eine Rei­he von Spiel­do­sen auf den Tre­sen abzu­stel­len. Das waren Wal­zen- und Loch­plat­ten­spiel­do­sen mit Kur­bel­wer­ken, die der Ladung einer Feder­span­nung dien­ten. Vor einer Stun­de gelie­fert, sag­te der alte Mann, sie machen schau­er­lich schö­ne Geräu­sche im Was­ser! Man kön­ne, setz­te er hin­zu, sofern man sich in dem sel­ben Was­ser der Spiel­do­sen befän­de, die fei­nen Stö­ße ihrer mecha­ni­schen Wer­ke über­all auf dem Kör­per spü­ren. Bald leg­te er eine der Dosen in ein Aqua­ri­um ab, in wel­chem Zwerg­see­ro­sen sie­del­ten. Kurz dar­auf fuhr ich mit der Tram nach Roo­se­velt Island rüber. Das Musik­werk, Ben­ny Good­man, das ich für Rose erstan­den hat­te, war in das Gehäu­se einer Jakobs­mu­schel ver­senkt. Die Schne­cke leb­te, wes­we­gen ich tropf­te, weil der Beu­tel, in dem ich Roses Geschenk trans­por­tier­te, über eine undich­te Stel­le ver­füg­te. Gegen Mit­ter­nacht, ich war gera­de ein­ge­schla­fen, öff­ne­te tief in mei­nem rech­ten Ohr knis­ternd eine Zwerg­see­ro­se ihre Blü­te. — stop
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crea

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nord­pol : 18.55 UTC — Küh­le Luft trifft ein, als sei sie mit dem Zug in einem Kof­fer nach Vene­dig gekom­men. Lang­sam wird Abend. Auf den Schif­fen fah­ren leicht beklei­de­te Men­schen ihre Gän­se­haut heim­wärts. Von der Dampf­schiff­sta­ti­on Crea aus führt mich eine Wan­de­rung ohne Stadt­plan in Hän­den, nur mit dem Kopf und nach dem Gefühl gehend, durch das Can­n­a­re­gio in Rich­tung Cas­tel­lo. Wie lan­ge Zeit, über­leg­te ich, wer­de ich tas­tend ost­wärts durch die Gas­sen strei­fen, bis ich mein Ziel, die Dampf­schiff­sta­ti­on Giar­di­ni, erreicht haben wer­de? Bald ist es krei­send spät gewor­den. Auf den Stu­fen der Chie­sa del San­tis­si­mo Reden­to­re, die noch warm sind vom Tag­licht, flit­zen Eidech­sen her­um. Im Zwie­licht wer­den sie zu unru­hi­gen Schat­ten, die man mit Far­ben der Vor­stel­lung fül­len könn­te, an einem bun­ten Tag wer­den sie bunt. Es ist jetzt schon zu dun­kel, um noch lesen zu kön­nen. Ich soll­te mir eine Taschen­lam­pe besor­gen oder rein elek­tri­sche Tex­te auf mei­ner fla­chen Schreib­ma­schi­ne lesen. Ob papie­re­ne Bücher exis­tie­ren, die zu leuch­ten in der Lage sind? — stop

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fondamente nove

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india : 22.58 UTC — Noch fällt mir nicht leicht zu erzäh­len, war­um ich Zeit in Vene­dig ver­brin­ge. Ich bin ein Beob­ach­ter, des­halb bin ich in Vene­dig, zur Beob­ach­tung des Was­sers und auch der Schne­cken, die sich im Was­ser oder in der Nähe des Was­sers bewe­gen. Ich berich­te gleich­wohl sehr ger­ne, dass ich nach Eidech­sen Aus­schau hal­te. Ein­mal bemerk­te ich einen Mann, der mit­tels einer Lupe Tau­stü­cke unter­such­te, die zer­fa­sert, wie kran­ke Schlan­gen sich neben Vapo­ret­to­sta­tio­nen türm­ten. Auf einer Brü­cke nahe des Fäh­ren­ter­mi­nals Fon­da­men­te Nove war­te­te ein Foto­graf auf grö­ße­re oder klei­ne­re Schif­fe, die er senk­recht von oben her foto­gra­fier­te. Nach zwei oder drei Stun­den, die ich in sei­ner Nähe ver­brach­te, nick­te er mir plötz­lich zu. Kin­der turn­ten auf ros­ti­gen Eisen­stan­gen. Ich über­leg­te, ob sie wohl gelernt haben, mit einem Fahr­rad zu fah­ren? Das Was­ser unter der Bewe­gung der Schiffs­schrau­ben pul­siert für Bruch­tei­le von Sekun­den zu Kup­peln von Glas. Noch fällt mir nicht leicht zu erzäh­len, war­um ich eigent­lich Zeit in Vene­dig ver­brin­ge. Schwan­ken­de Wirk­lich­kei­ten, ver­traut. — stop
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sacca fisola

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echo : 18.12 UTC — Mit einem Mari­naio der Linea 2 um kurz nach drei kam ich des­halb ins Gespräch, weil der jun­ge Mann beob­ach­tet hat­te, wie ich eine hal­be Stun­de lang mei­ner­seits sei­ne Hän­de beob­ach­te­te, wie sie in einer ele­gan­ten oder läs­si­gen oder ganz ein­fach erprob­ten Art und Wei­se bei Annä­he­rung sei­nes Dampf­schiff­chens an eine Hal­te­sta­ti­on, an die­sen schwin­gen­den und tan­zen­den und auf und ab wip­pen­den Steg, der noch nicht Land ist aber auch nicht mehr Schiff, ein Tau zur Schlei­fe for­men, um es aus kur­zer Distanz um einen eiser­nen Höcker zu wer­fen und zu kno­ten. Es geht dann sehr schnell, wie sich das Tau knar­zend win­det, wie es sich zuzieht, weil es nicht anders kann, weil es in sich gefan­gen ist, sir­ren­de Geräu­sche, die ich vor Tagen im Traum zu ver­neh­men mein­te, wes­we­gen ich erwach­te und glaub­te auf mei­nem Bett wür­de eine gewal­ti­ge See­mö­we Platz genom­men haben, die mich mit hell­blau­en Augen­di­oden anblitz­te. Es war dann doch das Leucht­werk eines Weckers gewe­sen, mit dem ich noch nicht ver­traut gewor­den bin. Ich weiß nun, das Kno­ten­ge­bin­de wird unter den See­leu­ten der Kanä­le als Dopi­no oder wahl­wei­se Nodo di otto bezeich­net. Der jun­ge Mann, der sich über mei­ne Begeis­te­rung freu­te, führ­te den Kno­ten mehr­fach in Zeit­lu­pe vor, hin und zurück, sodass ich die See­le des Kno­tens nach und nach ver­ste­hen konn­te. Es war ein Frei­tag, es reg­ne­te leicht. Ich fuhr dann nach Giudec­ca zurück, besuch­te einen klei­nen Markt, ich glau­be, ich war der ein­zi­ge Frem­de an die­sem Ort gewe­sen. Ich kauf­te einen Peco­ri­no Sici­lia­no, 100 Gramm. Auch heu­te leich­ter Regen, der unver­züg­lich im Meer ver­schwin­det. — stop

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alberoni

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india : 22.06 UTC — Regen­wind­tü­cher wan­dern in der Fer­ne vor Ber­gen, die sich am Hori­zont deut­lich abbil­den. Vom Lido aus, an der Meer­enge zur Insel­zun­ge Pal­estri­na, öff­net sich ein wei­ter Blick nord­wärts über die Lagu­ne hin. Das Meer noch beru­higt, Muschel­fang­sta­tio­nen set­zen wie gezeich­net fei­ne Akzen­te, höl­zer­ne Fin­ger, zu Rei­hen grup­piert, jen­seits der Was­ser­bah­nen, die mit­tels mäch­ti­ger Boh­len mar­kiert wor­den sind. In Albe­ro­ni stei­ge ich aus, spa­zie­re an Leucht­tür­men vor­bei, eine Mole ent­lang, mäch­ti­ge Stei­ne. Da sind ein wil­der Wald und sump­fi­ge Mul­den, in wel­chen Fisch­chen blit­zen, Wol­ken­struk­tu­ren, die des Him­mels und die der Schup­pen­haut­schwär­me. Ich nähe­re mich Schritt für Schritt, irgend­wo da unten in der Tie­fe der Was­ser­stra­ße hin zum offe­nen Meer soll sich M.O.S.E. befin­den. Eine jun­ge Vene­zia­ne­rin erklär­te noch: Bad Pro­jekt! Und wie sich ihre Augen ange­sichts des Bösen ver­dun­kel­ten, mein­te ich mei­nen Wunsch, M.O.S.E zu besu­chen, ver­tei­di­gen zu müs­sen. Die Son­ne geht lang­sam unter. Röt­lich glim­men­de Stä­be nahe des schma­len Mun­des zur Lagu­ne erschei­nen, als wür­den sie in der Nacht auf die Exis­tenz des schla­fen­den Schutz­rie­sen unter der Was­ser­ober­flä­che ver­wei­sen. Da liegt ein ver­las­se­ner Kin­der­spiel­platz in Mee­res­nä­he unter Ole­an­der­bäu­men. Ein san­di­ger Strand, Muscheln, höl­zer­nes Treib­gut, drei Möwen, ein Ang­ler, Fuß­spu­ren im feuch­ten Sand, die die auf­kom­men­de Flut bald ver­schlin­gen wird. Im Was­ser selbst drei mensch­li­che Köp­fe, die lachen, und ein wei­te­rer Kopf, der sich par­al­lel zur Küs­te schwim­mend hin und her bewegt, nur nicht die tie­fe­re Zone die­ses Mee­res berüh­ren, in dem so vie­le Men­schen bereits ertrun­ken sind. In einem Regal des Kin­der­spiel­plat­zes ent­de­cke ich heim­wärts gehend eini­ge Bücher, kurz dar­auf einen Fuß­ab­druck, den ich selbst hin­ter­las­sen haben könn­te. — stop

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