delta : 22.58 UTC — In diesem Moment, da die Temperatur der Luft 38 °C erreicht, darf ich einen Text zitieren, den ich vor Jahren bereits notierte. Er handelt von Eispapieren und von einem besonderen Kühlschrank, den ich damals in Empfang genommen hatte, von einem Behälter enormer Größe. Ich schrieb, ich wiederhole, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollte ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen, man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop
Aus der Wörtersammlung: vertraut
nacht wird um 8
nordpol : 0.05 UTC — Im Haus der alten Menschen wird für seine Bewohner Nacht um 8, wenn für die Besucher gerade ebendieses Hauses der Abend erst beginnt. Es war heute Gewitterluft gewesen, weshalb viele der alten Menschen nicht aufstehen wollten. Also blieben sie liegen und verirrten sich nicht. Es ist nämlich so, dass man sich, wenn man im Haus der alten Menschen ein Zimmer genommen hat, manchmal nicht weiß, wer man ist, oder man weiß nicht, wo zu Hause sein könnte, und bekommt, wenn man zu einer Schwester sagt: Ich möchte heim, zur Antwort: Meine Liebe, hier ist Daheim. Auf den Rücken der alten Menschen, die nicht wissen, wo sie sind, steht zu lesen: Ich heiße so oder so, ich habe mich verlaufen, ich wohne im Haus der alten Menschen, bitte bringen Sie mich nach Hause. Auf einem Tisch hier daheim steht ein Schallplattenspieler, der Musik macht, die vertraut ist, auch wenn man nicht weiß, wer selbst man ist, es wird gesungen, es sind Lieder der Kindheit. Twitter kennt man hier nicht. — stop
im park
nordpol : 0.52 UTC – Im Park hockte ein junger Mann auf einer Bank. Auf seinen Knien ruhte ein Buch. Ich bemerkte bald, dass der junge Mann, anstatt zu lesen, das Buch zerlegte. Er ging in dieser Arbeit sehr sorgfältig vor, legte ein Lineal auf eine Seite des Buches, fuhr kurz darauf mit einem feinen Messer die Kante des Lineals entlang, trennte also mit einer vorsichtigen Handbewegung eine Seite von der Bindung des Buches, legte die Seite neben sich auf die Bank und beschwerte sie mit einem Steinchen, dass er zuvor mit eben der Hand, die gerade noch das Messer führte, angehoben hatte. Eine Seite nach der anderen Seite löste er in dieser Weise aus dem Körper des Buches heraus, gleichmäßige Bewegungen, als sei ihm die Arbeit der Zerlegung eines Buches vertraut. Es war ein windiger Tag gewesen. — stop
eine schreibmaschine : tasten
delta : 8.26 UTC – Vor langer Zeit beobachtete ich meinen Vater, wie er seine mechanische Schreibmaschine zerlegte, um sie zu säubern und zu ölen. Gestern habe ich diese Scheibmaschine in einem Regal wiederentdeckt. Das war ein intensiver Moment des Vormittages gewesen, nachmittags hörte ich in einem Zug eine fremde Sprache, ich verstand kein einziges Wort, und doch schien mir die fremde Sprache vertraut zu sein, als hätte ich sie einmal gekonnt. Sind mechanische Schreibmaschinen für jede existierende oder gewesene Sprache dieser Welt vorstellbar? — stop
turingluftmaschine
sierra : 0.05 UTC — Bis in den späten Abend bei geöffneten Fenstern über das Wesen nichtdeterministischer Algorithmen nachgedacht. Da war plötzlich wieder ein helles Propellergeräusch an meinem Ohr, ein vertrauter Ton, den ich seit Kinderzeit erfinde, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch summieren wollte zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere, der Verdacht, dass mit meiner Erinnerung etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera ist in der Luft kaum zu vernehmen. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen in der Wirklichkeit beobachtet, sie sind lautlos wie wirbelnder Schnee. Und doch war da stets ein besonderer Ton, sobald eine Fliege dicht an meinem Ohr vorüber gekommen war oder in nächster Nähe auf mir landete. – Ein zartes Klappern vielleicht? – Weiterhin Luftgeräuschworte erfinden. — stop
indien
echo : 20.12 UTC — Eine Berliner Freundin erzählte unlängst, sie habe während ihrer letzten Indienreise beobachtet, wie Menschen Kühe in einer Weise bemalten, dass sie vollkommen bunt gewesen seien, selbst ihre Wimpern, die Spitzen ihrer Schwänze, Hufe und Lippen leuchteten in grellem Blau oder Rot oder Gelb. Ich fragte mich, inwiefern sich jene farbigen Kühe noch als Kühe erkannt haben mochten, ob sie sich nicht vielleicht fürchteten vor jenen bunten Wesen, die einerseits vor ihren Augen so fremd sein mochten, aber doch einen sehr vertrauten Geruch verströmten? — Neun Impfungen, so wird berichtet, sind für Indien Reisende zu überlegen zum Schutz vor Diphtherie, Hepatitis A, saisonaler Grippe, Typhus, Cholera, Meningitis, japanischer Enzephalitis, Hepatitis B bei längeren Aufenthalten oder engem Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, sowie Tollwut. Was ist unter einem engen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu verstehen? Wie sollte oder könnte ich in Kalkutta spazierend je einen engen Kontakt zur Bevölkerung vermeiden? — Gestern, während ich halb schlafend telefonierte, habe ich versehentlich meinen Fußboden fotografiert, auch eine Fotografie wiederum Colette’s wie sie im Bett oder auf ihrem Sofa sitzt und schreibt. — stop
ein wort
alpha : 3.28 — In einem Gespräch hörte ich ein schreckliches Wort. In dem Augenblick, da ich das Wort hörte, dachte ich: Diesem Wort bin ich nie zuvor begegnet. Jetzt, da ich das schreckliche Wort in meinem Kopf habe, werde ich es nie wieder vergessen, ich werde dieses Wort nie wieder verlieren. — Leichter Schneefall. Weitere Herzwörter eingefangen: herzfänger, herzfarbe, herzfeibel, herzfell, herzfenster, herzfieber, herzfinger, herzfleisch, herzförmig, herzform, herzfressend, herzfreude, herzfreund, herzbefriedung, herzfröhlich, herzfrömmigkeit, herzfromm, herzfülle, herzgebeint, herzgebet, herzgeblüt, herzgeboppelt, herzgedanke, herzgefahr, herzgefangener, herzgefühl, herzgeist, herzgekrabbelt, herzensbruch, herzfaenger, herzlichkeit, herzenschrein, herzbefriedigung, herzensehr, herzruehrung, herzrührung, herzenleide, herzbekehrung, herzgeliebt, herzgemein, herzgeneigt, herzgeschrei, herzgeselle, herzgespan, herzgespann, herzgesperr, herzgespiele, herzgespött, herzgespräch, herzgetreu, herzgewächs, herzgewinnend, herzgewünscht, herzgolden, herzgras, herzgrube, herzgründlich, herzgrund, herzgülden, herzgut, herzhäuslein, herzhäutlein, herzhaft, herzhaftig, herzhaftigkeit, herzhaftiglich, herzherzlichen, herzhoch, herzhoffärtig, herzhohl, herzhold, herzhorn, herziehen, herzig, herzigen, herziglich, herzigung, herzinbrünstig, herzinnig, herzinniglich, herzisch, herzkäfer, herzkalt, herzkammer, herzkeim, herzkind, herzkirsche, herzkitzelnd, herzklee, herzklopfen, herzklopfend, herzklopfer, herzklopfung, herzknochen, herzknorpel, herzkölblein, herzkönig, herzkörnig, herzkohl, herzkrabbe, herzkränkend, herzkränkung, herzkrampf, herzkrank, herzkrankheit, herzkraut, herzkündiger, herzkützelnd, herzlabung, herzläppchen, herzlappen, herzlaub, herzleer, herzleid, herzlein, herzleuchte, herzleuchtend, herzlich, herzlichen, herzlichgeliebt, herzlichhoch, herzlichkeit, herzlicht, herzlieb, herzliebchen, herzliebend, herzlockend, herzlos, herzlose, herzlosigkeit, herzmacher, herzmahner, herzmangel, herzmarille, herzmensch, herzmitte, herzmixtur, herzmuschel, herzmutter, herznagel, herznagen, herznagend, herznehmend, herznetz, herznoth, herzohr, herzpein, herzpfeil, herzpfeilgemalt, herzpfirsche, herzpförtlein, herzpfrieme, herzpochen, herzpolei, herzpolle, herzpolyp, herzprieme, herzprobe, herzprüfer, herzpulver, herzpunkt, herzpuppern, herzrad, herzräuberisch, herzraubend, herzregierend, herzregung, herzreich, herzrein, herzreis, herzreue, herzring, herzritte, herzrittig, herzröhre, herzrösleingras, herzrührend, herzrührlich, herzrührung, herzruhig, herzsack, herzsaft, herzsame, herzschild, herzschlag, herzschlecht, herzschlechtig, herzschlechtigkeit, herzschmerzlich, herzschneidend, herzschrein, herzschwäche, herzsehnlich, herzseufzend, herzsieben, herzspann, herzspanne, herzsperr, herzspruch, herzstachelnd, herzstärkend, herzstärkung, herzstein, herzstemmend, herzstich, herzstosz, herzstrick, herzsucht, herzsüchtig, herztäuschend, herztausig, herztheilen, herzthür, herztief, herztrauer, herztrauerlich, herztraurig, herztraut, herztreu, herztreulich, herztute, herzung, herzvater, herzverbunden, herzverdriesz, herzverdrusz, herzverein, herzvergifterin, herzverknüpft, herzvernügen, herzvertraut, herzvielgeliebt, herzvoll, herzwasser, herzweh, herzwerth, herzwillig, herzwingen, herzwisser, herzwünschend, herzwunde, herzwunder, herzwurm, herzwurz, herzwurzel, herzzernagend, herzzerreiszend, herzzerschneidend, herzzittern, herzzucker, herzzwinger,
stop
zwergseerose bartholomä
nordpol : 5.08 — Ich hörte, irgendwo versteckt auf einem Hochplateau des steinernen Meeres, das sich zwischen dem schönen, grünblauen Obersee und dem mächtigen Hochkönig erstreckt, soll ein Mensch existieren, ein Junge von ungefähr acht Jahren, der in seinem bisherigen Leben keinerlei digitale Spur hinterließ, weder in der Welt behördlicher Computersysteme, noch in einer elektronischen Wolke. Der Junge, der möglicherweise heimlich geboren wurde, soll, von Schulbüchern umgeben, in einer Hütte mit Ziegen und fünf Murmeltieren leben, die ihm vertraut geworden sind. Es ist nicht bekannt, wie der Junge heißt, wie seine Mutter, wie sein Vater, auch nicht, wer ihm des Weiteren geholfen haben könnte, während der ersten Lebensjahre über strenge Bergwinter zu kommen. Ich stelle mir vor, dieser Junge könnte vielleicht der einzige lebende europäische Mensch sein, von dem niemals ein Lichtbild genommen wurde. Wer nach ihm suchte, kehrte zurück ohne einen Beweis, ohne eine Spur, er könnte reinste Erfindung sein, eine vorsätzliche Existenz, eine Vermutung, oder eine tatsächliche Person, die an dieser Stelle, in diesem Text einen ersten elektrischen Abdruck in der digitalen Sphäre hinterlässt, ein Verrat, ja, ein Verrat. Ich sollte meine Gedanken, meine Hinweise, demzufolge bald wieder löschen, um ihr Verschwinden und damit das Verschwinden des Jungen aus der digitalen Welt beobachten oder prüfen zu können. Signatur: Zwergseerose Bartholomä. — stop
unterwegs in den wolken
kilimandscharo : 5.28 — Das ist schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spaziert. Sie trägt Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünscht. Sie scheint sich zu fürchten, ernst schaut sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtet sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kennt, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut sind, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegen scheinbar ohne Ziel. Es ist feucht an diesem Morgen, Wolken berühren den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch stürzte, einfach so stürzte, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, solch ein Schlamassel. Hundert Meter weit ist sie schon gelaufen, da entdeckt sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht ist, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten kann. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine sind unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen müssen. Für einen Moment bleibt die alte Dame stehen. Es wird ganz still in diesem Augenblick. Sie beugt sich zur Klingel herab, und schon ist ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach ist es zu hören. — stop
von geheimnissen
whiskey : 2.03 — Intensives Gespräch mit einem Pater über Geheimnisse, die ich im Leben eines fremden Menschen entdeckte. Er bemerkt, eine Situation, wie die vorgestellte Situation, wäre ihm sehr vertraut, ich solle bedenken, man würde Geistlichen während der Beichte Geheimnisse gerne vorsätzlich erzählen. Mit Geheimnissen, erklärte der Pater, insbesondere mit zufälligerweise entdeckten Geheimnissen jeder Art sei würdig umzugehen, indem man ihre Entdeckung verschweigt und sie allmählich tatsächlich vergisst. — stop