india : 0.28 — Ich habe vor wenigen Minuten mittels eines Filmdokuments den Posaunisten Fred Wesley solange beobachtet, bis ich der festen Überzeugung sein konnte, die Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert, um auf ihm Musik zu machen. Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, vor einem Mikrofon verharrt. Seit Monaten habe ich den Verdacht, dass der alte Posaunist außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten vermag. Ich werde deshalb sofort, in dieser Nacht noch, eine E‑Mail verfassen und mich erkundigen, ob ich mit meiner Vermutung recht haben könnte. Sehr geehrter Mr. Wesley, so vielleicht sollte ich beginnen, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich in meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
Aus der Wörtersammlung: wort
leuchtfeuer
echo : 8.01 — Die Wiederholung einer Nachtzeit vor wenigen Stunden noch. Regen. Das Geräusch des Wassers, ein Geräusch des Bodens, der Stämme, der Dächer, der Regenrinnen. Vielleicht, weil in ihm Zeit enthalten ist, Tropfen für Tropfen zu einer regelmäßigen Bewegung, höre ich dieses Geräusch als ein beruhigendes Geräusch. Oder auch deshalb, weil ich das Wesen der Kiemenmenschen in mir trage, weil ich von Menschenwohnungen erzähle, die unter Wasser stehen. An diesem kühlen Morgen ist etwas Wesentliches festzuhalten, ein angenehmes Wort, das Wort Leuchtfeuer. Und dass ich von Kranichen träumte, ja träumte, selbst ein Kranich unter Kranichen zu sein. Wir flogen eine Küste entlang. Ich erinnere mich, dass ich durstig gewesen war, weil viel Sonne vom Himmel brannte. Die Kraniche bemerkten bald, dass mich die Hitze quälte. Sie suchten nach meinem Schnabel, um mich mit Wasser zu füttern. Aber ich hatte keinen Schnabel, sondern einen menschlichen Mund, weshalb sie bald aufgaben, mich füttern zu wollen. Stattdessen näherte sich einer nach dem anderen, um nachzusehen, welch seltsamer Vogel mit ihnen nach Norden flog. — stop
ein alter mann
romeo : 0.32 — Ich erinnere mich, vor einem Jahr, an einem Sommerabend, saß mein Vater auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Drehverschluss. Ich glaubte, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu sprechen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht festzuhalten gewesen, vermutlich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr niedergeschlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unterhalten, ohne aber die richtigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüttelte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrachtete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Friedens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder eingeschlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewundert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zugedreht. — stop
james baldwin
~ : oe som
to : louis
subject : JAMES BALDWIN
date : mar 22 12 11.15 p.m.
Absolute Stille. Kein Wind, keine Bewegung auf dem Wasser, der Himmel leer. Seit 382 Tagen schwebt Taucher Noe unter uns in der Tiefe. Er scheint glücklich zu sein, die Tage seines Aufbegehrens sind vorüber. Noch vor wenigen Wochen wünschte Noe, zurückkehren zu dürfen, sofort! Wir haben ihm vom Regen erzählt, von Stürmen, von seiner Mutter, von seinem Vater, wie stolz sie auf ihn sind. Nach 5 Tagen war Noe ruhiger geworden, mürbe von der langen Zeit tobenden Zweifels, vielleicht auch deshalb, weil wir ihn aus 850 Fuß Tiefe der Dunkelheit auf Höhe der Dämmerung hoben, eine Ahnung von Licht, Hoffnung, das Gefühl, noch nicht verloren zu sein. Ein tapferer Mann. Er habe das Wort Schnee in seinem Kopf hin und her bewegt, aber er könne nicht sagen, was es bedeute. Sorge bereite ihm außerdem, dass er sein Gesicht nicht erinnere. Seither diskutieren wir, ob wir ihm nicht doch ein heiteres Bild seiner Person übermitteln könnten, Noe drohte das Rückwärtssprechen zu üben. All das scheint nicht ungewöhnlich zu sein für seine schwebende Lage, ein lange Zeit andauernder Moment von Einsamkeit, Fische, die ihn beobachten, Wörter gehen verloren. In dieser Sekunde, lieber Louis, da ich Dir schreibe, beginnt Noe wieder zu lesen mit heller Stimme, James Baldwin / Unterwasserbuch No 285, nachts träumte ich, und morgens wachte ich zitternd auf, konnte mich aber nie an den Traum erinnern, nur daran, dass ich gerannt war. Ich wusste nicht mehr, wann es mit diesen Träumen angefangen hatte; es war lange her. Zwischendurch gab es Zeiten, in denen ich überhaupt nicht träumte. Und dann ging es wieder los, jede Nacht. – Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
23.03.2012
1630 zeichen
sumatrakäfer
sierra : 0.27 — Gestern, am späten Abend, habe ich den Versuch unternommen, das Wort Streichholz so lange wie möglich in meinem Kopf hin und her zu bewegen, ohne indessen ein weiteres Wort zu denken. Kurz darauf habe ich meinen Versuch wiederholt, in dem ich das Wort Streichholz durch das Wort Sumatrakäfer ersetzte, ebensolches eine Zehntelstunde später durch das Wort Kühlschrank, welches selbst kurz vor Mitternacht im Loop der Hibiskusblüte endete. Vorgestern noch hatte ich eine ähnliche Nachtübung durchgeführt. Wörter waren folgende gewesen: Samshepard, Hummervogel, Tictacto, Leporello. Ich stelle fest: Die lang anhaltende Wiederholung des Wortes Leporello bewirkt in meiner Seele einerseits deutliches Gefühl von Hitze, anderseits eine Ahnung der Farbe Gelborange, ohne dass diese Farbe selbst vor meinem inneren Auge sichtbar werden würde. Warum? — stop
zikaden
alpha : 0.50 – Einem Menschen vorzulesen, von dem ich nicht weiß, ob er mir zuhören kann, ob er vielleicht schläft oder beides. Ja, eine solche Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht von Zeit zu Zeit, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinen Atem. Manchmal ging ich spazieren in der Wohnung oder in den Garten. Es war August, eine Handvoll Zikaden musizierte, schwüle, süße Luft. Dann wieder am Bett. Mit Mühe die Augen offengehalten. In der Küche Kaffee gemacht. Nach Atem gelauscht. Das Buch geöffnet und weitergelesen. Stimme, manchmal fragende Stimme: Hörst du mich, hörst Du mir zu? Soll ich weiterlesen? Also lese ich weiter, ich lese Ágota Kristóf, ich lese davon, wie man Schriftsteller wird. Zuallererst muss man natürlich schreiben. Dann muss man weiterschreiben. Selbst wenn es niemanden interessiert. Selbst wenn man das Gefühl hat, dass es niemals jemanden interessieren wird. Selbst wenn die Manuskripte sich in den Schubladen stapeln und man sie vergisst, während man neue schreibt./ Am Anfang gab es nur eine einzige Sprache. Die Objekte, die Dinge, die Gefühle, die Farben, die Träume, die Briefe, die Bücher, die Zeitungen waren diese Sprache. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine andere Sprache geben könnte, dass ein Mensch ein Wort sprechen könnte, das ich nicht verstehe. — Ja, es war Nacht, eine Nacht, die fünf oder sechs Jahre zurückliegt. Der Mensch, an dessen Bett ich wartete, hatte hohes Fieber. Ich trocknete sein Gesicht, ich nahm seine Temperatur, ich hörte seinem Atem zu. — stop
seltsame geschichte
india : 5.56 — Seit einigen Tagen ereignen sich in oder in der Umgebung meiner Schreibmaschine kuriose Dinge. Es geht darum, dass ein Text, den ich am Montag notierte, sich immer dann, wenn ich schlafe, verändert, und zwar zu seinem Nachteil. Fehlerhafte Wörter, die ich bereits korrigierte, kehren wieder oder ich entdecke vollständig neuartige Missbildungen, verdrehte Buchstaben, Worterfindungen, Punkte oder Kommata verschwinden, aus der Farbe ROT wird die Farbe BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kindern werden Greise. Es ist eine eigenartige Situation, ich gestehe, ich beginne mich zu fürchten. Selbstverständlich habe ich mir die Frage gestellt, ob sich vielleicht ein weiterer Mensch, den ich bislang nicht entdeckte, in meiner Wohnung befindet, oder ob ich vielleicht selbst schlafwandelnd mich an meine Schreibmaschine setze. In diesem Zusammenhang könnte die unheimlichste Aussicht der Gedanke sein, dass meine Schreibmaschine selbst oder gar der Text machen, was sie wollen. Von außen jedenfalls ist ihm nicht anzusehen, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte. Zur Prüfung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Garten war ein Teppich von Moos, auf dem immer irgendetwas blühte. Selbst in den kalten Monaten des Winters, wenn es schneite, wenn das Eis an die Küste schindelte, glaubte Zyp Wesley, die Geräusche des Wachsens und Vergehens zu hören aus dem unsichtbaren Raum unter dem Weiß. Er verfügte über ein hervorragendes Gehör, obwohl er seit Jahren Posaune spielte, wohnte deshalb etwas abseits. Das nächste Haus, indem eine Familie mit Kindern siedelte, war etwa zweihundert Meter weit entfernt, hinter einer Anhöhe passierten die Geleise der Staten Island Rail seine Gegend. Man konnte von dort das Scheppern der Subwayzüge leise hören bei Tag und bei Nacht. – stop
lenox hill : vertikal
zoulou : 20.25 — Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann stehe ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. — stop
upper new york bay : elefanten
nordpol : 11.10 — Im Traum folgte mir ein Mann stundenlang, als wäre er mein eigener Schatten. Dieser Schatten führte drei junge Elefanten hinter sich her, dampfende Geschöpfe, die ohne Pause hupten. Das wäre für sich genommen eine noch eher heitere Geschichte gewesen, wenn der Dampf der Elefanten nicht bedeutet haben würde, dass es sich um gebratene Elefantentiere handelte, gekocht bis auf die Knochen. Teile ihrer Bäuche waren bereits verloren gegangen, auch von ihren Ohren waren kaum nennenswerte Reste übrig gewesen. Ich dachte mir noch, dass sie vielleicht hupten, weil sie unter Schmerzen litten, da hatte ich bereits einen Löffel in der Hand. – stop. Während einer Fahrt mit der Staten Island Fähre eine Frau, die mit sehr hoher Geschwindigkeit Platon auf einem iPad las. Das wirkte genau so, als würde sie den Text mit ihren Augen fotografieren. Nach wie vor auf der Suche nach einem Wort, das den Moment beschreiben könnte, in dem Regen auf die Oberfläche des Meeres trifft, nach einem Geräuschwort für das Verschwinden. — stop
midtown manhattan : dschu dschumm
ulysses : 0.25 — Was ich hörte gegen Mitternacht von unsichtbaren Musikern auf unterirdischer Passage vom Bryant Park zur 5th Avenue etwa so in Worten: dschu dschumm dschu dschumm tschika tschika tschicka dschu dschumm dschu dschumm yeah dschu dschumm dschu dschumm babibadum dschu dschumm dschu dschumm dschu dschumm arrriba dschu dschumm dschu dschumm yeah badumm badumm badumm tschika tschika tschicka dschu dschumm dschu dschumm tschika tschika dschu dschumm dschu dschumm yeah dschu dschumm dschu dschumm babibadum dschu dschumm dschu dschumm dschu dschumm dschu dschumm dschu dschumm yeah. — Samstag. — stop