tango : 20.10 UTC — Milena erzählt, sie begleite nahe der Stadt Cesena ihre alte Mutter schon seit langer Zeit. Ihre Mutter sei gestürzt, sie habe sich den Kopf schwer gestoßen, habe dann bewusstlos 16 Stunden in ihrem Wohnzimmer gelegen, ehe sie gefunden wurde. Ihre Mutter werde nun über eine Magensonde ernährt, sie werde nie richtig wach, nur immer ein wenig wach, ein blinzelndes Erwachen, ein klarer Blick für einige Minuten, der ihr, Milena, zeige, dass ihre Mutter sie vermutlich nicht erkennt. Dann schlafe die alte Dame wieder ein. Nachdem eine Ärztin ihr empfohlen hatte, mit ihrer alten schlafenden Mutter zu sprechen, habe sie das Sprechen versucht, habe dann aber bald bemerkt, dass das Sprechen mit einer oder zu einer Schlafenden hin, sehr schwierig sei. Sie habe sich wiederholt. Deshalb habe sie in der Bibliothek der Seniorenresidenz nach einem Buch gesucht, das sie ihrer Mutter und vielleicht auch sich selbst vorlesen könne. Da sei sie auf Marcel Proust’s ersten Band der Suche nach der verlorenen Zeit gestoßen. Sie sei im Nachhinein sehr glücklich deshalb, sie lese sehr langsam, sie lese so langsam und so leise wie möglich. Jedes Wort, das auf den Papieren des Buches zu finden sei, werde ausgesprochen. Ihre Mutter schlafe indessen tief, oder aber sie höre zu, das könne niemand so genau sagen. — stop
Aus der Wörtersammlung: zeit
souiga
ginkgo : 6.58 UTC — Lieselotte, die eigentlich ganz anders heißt, erzählte mir gestern im Schnellzug eine berührende Geschichte. Sie sagte, sie habe in ihrem Leben sehr viel Alkohol getrunken, das habe schon zur Kinderzeit angefangen. Sie habe ungefähr vierzig Jahre ihres Lebens in leichten oder schweren Rauschzuständen verbracht. Es existieren Zeiträume, die seien vollständig dunkel, ohne Erinnerung, die kenne sie nur von Erzählungen anderer her, sie habe in diesen dunklen Zeiträumen je keine gute Figur gemacht. Sie besuche nun, da sie abstinent lebe, manchmal Orte, an welchen sie betrunken gewesen war, das Münchener Oktoberfest, beispielsweise, oder die Stadt Souiga an der südlichen Küste Kretas, Manhattan im Mai, Turku. Sie reise herum, um nachzusehen, wie es wirklich ist. Oder die Wieskirche. — stop
leere seite
sierra : 10.22 UTC — Einmal beobachte ich einen Mann, der anhand der Gestalt von Schriftzeichen, die auf Briefumschlägen zu finden sind, Diagnosen erstellt. Er mache das seit vielen Jahren. Zur Betrachtung wird also ein Brief, der zu untersuchen ist, aus einer Box gehoben, um ihn unter das Licht einer starken Lampe zu legen. Der Mann sagt: Die Person, die diesen Brief nach London sendete, war im Moment, da sie ihren Brief adressierte, betrunken. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Box: Dieser Brief nach Zürich wurde von einer Frau notiert, die glaubte, ihre Zeit sei abgelaufen. Das hier ist ein ganz seltsames Exemplar, nicht wahr, warum überhaupt jedes Schriftzeichen auf dem Briefumschlag vergessen wurde, können wir erst dann mit Sicherheit sagen, wenn wir den Brief geöffnet haben Erden, schöne Briefmarke. Hier haben wir einen Brief, dessen Adresse nur scheinbar von Hand gesetzt worden ist, bei genauer Ansicht ist Folgendes deutlich zu erkennen: Die Anschrift „To Lady Charlotte Ridlinger, NY, 210 Lexington Avenue“ wurde von einer Maschine gestempelt. — stop
korken
delta : 0.15 UTC — Das waren Zeiten, als wir noch Kinder waren, die unter freiem Himmel mit Flugdrachen spielten. Wie wir durch die Wälder krochen, um Knochen zu sammeln. Ein Bild zeigt mich in kurzen Hosen, wie ich einen Erdapfel über offenes Feuer halte, ich sammelte Briefmarken, Schmetterlinge, Steine und Kronkorken, ließ Seilbahnen über Bindfäden fahren von Haus zu Haus. Heute sammele ich gerne Geschichten von Kiemenmenschen, hölzerne Elefanten oder Marienkäfer, die nachts schlafend an warmen Lampenschirmen sitzen. — stop
ein aquarium
tango : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aquarium, keinem gewöhnlichen Aquarium, vielmehr einem Aquarium, das ihm einerseits gehören, andererseits sehr weit entfernt sein soll, nämlich beinahe auf der anderen Seite der Welt, in Thailand in einem Vorort der Stadt Bangkok in einem Café neben einer Tankstelle mit Garten, in welchem Orchideen auf Bäumen wachsen. Auch Vögel sollen dort im Garten zahlreich leben, und Kinder spielen, weil sich in der Nähe eine Schule befindet. Er selbst, erzählt Bob, sei in diese Schule gegangen, habe Englisch gelernt und Mathematik, gerade in Mathematik soll er gut gewesen sein. Jetzt lebt er also in Europa und besucht eine Universität, um die Sprache der Computermaschinen zu studieren. Das Café, das meiner Mutter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir können von unseren Einkünften gut leben. Ich brauche ja nicht viel Geld hier, kleines Zimmer. Er holt sein Telefon aus der Hosentasche, tippt ein wenig auf dem Bildschirm herum, dann reicht er mir das kleine, flache Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist meine Mutter in Echtzeit, es ist gerade früher Morgen, sie bereitet sich auf erste Gäste vor, die kommen bald. Tatsächlich erkenne ich auf dem Bildschirm eine ältere Frau, die auf einem Brett von Holz irgendwelche Pflanzen zerteilt. Bob nimmt mir das Telefon kurz aus der Hand, tippt noch einmal auf den Bildschirm. Nun sind Fische anstatt seiner Mutter zu sehen. Das ist mein Aquarium, sagt Bob, leider nur in schwarz-weißer Farbe. Sie sind ziemlich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefangen im vergangenen Winter. Es ist ein Salzwasseraquarium. Gleich wird meine Mutter die Fische füttern. Solange können wir warten. — stop
regenzeit
alpha : 20.15 UTC — Tiefseetauchbücher, von der NASA zur Prüfung astronautisch Reisender entwickelt, werden ab sofort als Regenbücher gehandelt. Sie sollen sich in tropischen Gegenden gut verkaufen. Haben Sie schon einmal mit E.E.Cummings Selected Poems gebadet, mit Hemingways Fiesta oder Dorothy Parkers The portable? Weitere Werke werden folgen: Homer, Beckett, Carson McCullers. — stop
nasengeschichte
echo : 22.56 UTC — Auf meiner Nase wurde zufällig ein Haar entdeckt, ein Haar für sich, ein einzelnes Haar, kein Bewuchs in dem Sinne von Wald, aber doch eben ein Haar wie ein Baum. Kurz nachdem ich die Meldung von der Entdeckung des Haares entgegengenommen hatte, habe ich das Haar entfernt, kein Schmerz, aber Verwunderung, weil ich doch sehr lange Zeit ohne Haar auf meiner Nase lebte. Ich fragte mich, wie ich dieses Haar übersehen konnte, es soll sich um ein durchaus gut sichtbares Haar gehandelt haben, ein silbergraues Gewächs. Nun also morgens fortan der kontrollierende Blick zu meiner Nasenspitze hin. Eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen an einem Tag, da die Börsenkurse stürzen, weil sich der 49. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in einer Weise äußerte, dass man für möglich hält, er könnte Atomwaffen zünden. — stop
gespräch
tango : 17.01 UTC — Ich will schnell erzählen, wie ich unlängst mit einer Maschine, während sie meinen Cappuccino zubereitete, gesprochen habe. Ich sagte: Hey, einen Cappuccino bitte. Und die Maschine antwortete: Hey, wird gemacht! Also wartete ich. Indem ich wartete, hörte ich der Maschine zu. Ich vernahm einige plausible Geräusche aus dem Inneren des Gehäuses, außerdem einige Geräusche, die nicht sehr plausibel waren. Das waren Geräusche des Pfeifens oder Singens, Geräusche, die entweder meiner Unterhaltung dienten oder weil sich die Maschine tatsächlich selbst, während sie arbeitete, eine Freude machte. Ich habe schon oft genau so wartend vor genau dieser Maschine gestanden, ich vermute, dass mich die Maschine inzwischen kennt, vielleicht sogar Zeitpunkte, da ich zu ihr kommen werde, also Gewohnheiten meines Lebens. Einmal, als ich den Standort der Maschine erreichte, war mein Cappuccino bereits fertig gewesen. Das ist schon seltsam, nicht wahr, ich begann über Fähigkeiten der Maschine nachzudenken. Kann diese Maschine vielleicht sehen oder vermag sie meinen Duft wahrzunehmen? Dass sie über einen Hörsinn oder über eine spezielle Art eines hörenden Sensors verfügt, steht für mich schon lange fest, weil sie mich begrüßt. Manchmal erkundigt sie sich nach meinen Wünschen. Mein lieber Louis, will sie wissen, einen Cappuccino oder doch etwas anderes Heißes zur Feier des Tages? An diesem Morgen, von dem ich eigentlich erzählen will, ist aber doch etwas sehr Seltsames geschehen. Vielleicht war es der Wind, jedenfalls fiel eine Papptasse aus dem Bauch der Maschine auf einen Vorsatz unter einem Hahn, aus dem bald heißer Kaffee kommen sollte. Die Tasse landete etwas schräg und verharrte in dieser Position. Die Maschine sagte zu mir: Becher bitte setzen. Mein Gott, das war seltsam! Ich dachte, wer nur hat diese Sprache erfunden, möglicherweise die Maschine selbst? Ich streckte meine Hand nach dem Becher aus. In dem Moment, da ich den Becher anheben wollte, spritzte heißer Kaffee auf den Rücken meiner Hand, weswegen ich mit leiser Stimme protestierte. Ich sagte: Verdammt! Die Maschine antwortete: Verzeihung. — stop
auf hoher see
bamako : 15.08 UTC — Ich hörte von einem adoptierten Jungen, der gerne den Nachnamen seiner Nachbarn annehmen möchte. Seine neuen Eltern heißen nämlich Simbarski — Kohleberg, oder so ähnlich, seine Nachbarn Weber. Er selbst heißt Tobias, mit Vornamen, sein ursprünglicher somalischer Name ist unbekannt, er habe ihn, sagt er, vergessen, er wisse nicht warum, sein Name sei irgendwo auf der Flucht verloren gegangen. Später einmal will er Flussschiffkapitän werden. Der Junge meint eines dieser großen Boote, die Passagiere befördern, er will eine weiße Uniform tragen und auf seinem eigenen Schiff zur See fahren. Zurzeit arbeitet er noch als Briefträger, er ist gerade 20 Jahre alt geworden. Er berichtet, dass er in der ersten Stadt, in der er in Europa wohnte, nicht verstanden habe, was Fahrradwege sind, er habe sie für Flüchtlingswege gehalten, während die Einheimischen auf Bürgersteigen spazieren. — stop
zweite nachricht von den vasentieren
xylophon : 12.08 UTC — Vasentiere verfügen am Rande ihrer Behälterwanne über zwei Augen einerseits, ein System filigraner Röhren zum Atmen andererseits. Beine haben sie nicht, weil sie stationäre, im Idealfall schwebende Lebewesen sind. Wenn man mich nun fragte, warum Vasentiere in meinem Geist überhaupt existieren, würde ich vielleicht sagen: Nun, weil ich bereits vor längerer Zeit an Vasentiere dachte, auch weil sie sehr nützlich sind, weil sie über das Vermögen verfügen, kleinste Mengen Wassers noch aus trockenster Luft zu gewinnen, weswegen sie sehr gefragt sind, man möchte sie besitzen, um nach Ursachen ihrer erstaunlichen Begabung zu forschen, die vermutlich Bestimmung ist. Indessen wurden Vasentiere in ihrer natürlichen Umgebung auch in großen Höhen angetroffen. Sie sind dort winzig, in Regenwäldern hingegen von erheblicher Größe. Sprechen im Übrigen können Sie nicht, aber denken und hören, weil sie in je spezifischer Weise ihre Augen bewegen, sobald man sie mit Sprache konfrontiert. — stop