Aus der Wörtersammlung: zeitung

///

mrs sini reiss

2

marim­ba : 0.08 — Vor eini­ger Zeit besuch­te ich Mrs. Sini Reiss, die im 22. Stock eines Wohn­hoch­hau­ses nahe der Clark Street wohnt. Ich hör­te, sie sei hoch­be­tagt und habe ihr Apart­ment seit über zehn Jah­ren nicht ver­las­sen. Die alte Dame lese viel und schaue gern vom Bal­kon aus zu den oran­ge­far­be­nen Schif­fen hin, die zwi­schen Man­hat­tan Süd und Sta­ten Island pen­deln. Ich erkun­dig­te mich, ob ich mich mit der alten Dame unter­hal­ten müs­se. Nein, nein, ich sol­le nur ein paar Geträn­ke vor­bei­brin­gen und viel­leicht ein wenig nach dem Müll schau­en, Mrs. Reiss habe noch nie einen deut­schen Mann ken­nen­ge­lernt, nur wel­che im Fern­se­hen gese­hen, sie wer­de sicher neu­gie­rig sein, sie spre­che aber nur sehr wenig, sie wer­de also neu­gie­rig vor allem mit ihren Augen sein. Über­haupt sol­le ich mich nicht wun­dern, ich wür­de das hören, sobald ich aus dem Auf­zug stei­ge, in ihrer Woh­nung sin­gen Vögel und brül­len Affen und zetern Zika­den unent­wegt. Wenn du die Augen schließt, dann meinst du dich im Urwald zu befin­den, das ist so, weil es in den Ohren der alten Dame seit vie­len Jah­ren hef­tig rauscht und pfeift, wes­halb sie jene frem­den Stim­men in ihre Woh­nung hol­te, damit sie das Geräusch, das sich in ihren Ohren befin­det, nicht als ihr eige­nes Geräusch wahr­neh­men müs­se. Mrs. Sini Reiss tra­ge ein Wölk­chen schloh­wei­ßen Haa­res auf dem Kopf, ihr Mund sei hell­rot geschminkt, ihre Wan­gen apri­ko­sen­far­ben bepu­dert, sie tra­ge ein dun­kel­blau­es Kos­tüm, und sie lese die New York Times von der ers­ten bis zur letz­ten Sei­te Tag für Tag, sie wis­se über die Welt gut Bescheid, aber sie wol­le eigent­lich nichts hören und nicht spre­chen, son­dern nur die Zei­tung lesen und den Vögeln und Zika­den lau­schen. Genau so ist es gewe­sen. Es war ein Diens­tag. — stop
ping

///

sekundenseide

pic

sier­ra : 3.15 — Geschich­ten, die in Sekun­den­schnelle als Mög­lich­keit erschei­nen, ihr Ursprung, ihre Ent­deck­ung, in dem Moment, da ich mei­ne Augen schlie­ße, so plöt­zlich, dass ich ihre Anrei­se nicht bemer­ke, die Geschich­te von den Papie­ren und ihren Geräu­schen in einem U‑Bah­n­wagon bei­spiels­wei­se, eine Sum­me von Wahr­neh­mung, von Erfah­rung, von neu­ronalen, unbe­wussten Auf­nah­men, das murmel­nde Gespräch der Men­schen unter dem Schep­per­schirm einer Blechk­iste, die von Coney Island aus nord­wärts fährt, der Ein­druck, dass Men­schen mit­tels ihrer raschel­nden Zeitun­gen zueinan­der spre­chen. Ein oder zwei Minu­ten von Ruhe, dann, plöt­zlich, blät­tert jemand eine Sei­te um, und schon knis­tert der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he wei­ter. Man möch­te in die­sen Momen­ten mei­nen, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal habe ich mir Zeitungspa­piere von stof­far­tiger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, sodass kein­er­lei Geräusch von ihnen aus­ge­hen wür­de, sobald man sie berühr­te. Eigen­tüm­liche Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, ein Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung, eine Sekun­de, die nicht ver­gisst. — stop

drohne22

///

minutenzeitung

pic

hima­la­ya : 5.16 — Ges­tern erzähl­te Mut­ter, nein, nein, sie lese kei­nes­wegs lang­sa­mer durch ihre mor­gend­li­che Zei­tung als frü­her noch, viel­mehr sei­en die Zei­tun­gen selbst schwe­rer, das heißt, umfang­rei­cher oder dicker gewor­den. Das kön­ne nie­mand mehr lesen, jeden Tag eine neue dicke Zei­tung. Ich dach­te, man müss­te ein­mal die Zeit anhal­ten, sagen wir für zwei oder drei Mona­te. Alles wür­de zit­ternd still­ste­hen auf unse­rer Erd­ku­gel, allein Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten wären noch beweg­lich. Sie rei­sen nun her­um, betrach­te­ten fünf Minu­ten Zeit welt­weit, die sich über­all so lan­ge wie­der­holt, bis sie von Spra­che und Foto­gra­fie erfasst sein wird. In einem Flücht­lings­la­ger hält eine Groß­mutter ein gera­de gebo­re­nes Kind aus einem Zelt her­aus, der Vater kippt etwas Regen­was­ser über den klei­nen rosa­far­be­nen Leib, und schon sind fünf Minu­ten Zeit ver­gan­gen und das Kind wie­der in den Leib der Mut­ter zurück­ge­kehrt. Als das Kind unver­züg­lich erneut gebo­ren wird, sind drei wei­te­re Foto­gra­fen vor das Zelt getre­ten, um das Kind zu foto­gra­fie­ren, wie es von sei­nem Vater gewa­schen wird. In Oslo sto­ßen zwei Stra­ßen­bah­nen so lan­ge gegen­ein­an­der, bis end­lich über sie berich­tet wird. Auf Neu­see­land, nahe Parapa­ra, fällt ein Kind von einem Baum, Minu­ten­wei­se klet­tert es wie­der hin­auf und fällt wie­der zu Boden, ehe ein Repor­ter vor­über kom­men wird, um viel­leicht gera­de noch recht­zei­tig das Kind auf­zu­fan­gen. Auch die alte Mar­tha will bemerkt wer­den, sie hat wie­der ein­mal ein paar Match­box­au­tos ver­schluckt in Lon­don im Kauf­haus bei Har­rods. Eine umfang­rei­che Zei­tung könn­te ent­ste­hen, eine Welt­zei­tung von 5 Minu­ten Zeit, die von zehn­tau­sen­den Jour­na­lis­ten notiert wur­de, die wie Wan­der­amei­sen Blät­ter, Wör­ter, Gedan­ken, Foto­gra­fien sam­mel­ten, um zu erzäh­len, was der Fall ist. – Fünf Uhr sech­zehn in Ido­me­ni, Grie­chen­land. – stop
ping

///

morgenzeitung

pic

hima­la­ya : 0.36 — Mei­ne Mut­ter über­leg­te vor eini­gen Tagen, ob sie ihre gelieb­te Zei­tung, die sie ein hal­bes Leben lang jeden Mor­gen in aller Frü­he stu­dier­te, nicht viel­leicht abbe­stel­len soll­te, weil sie nicht mehr so schnell lesen wür­de wie frü­her noch, also weni­ger Zei­tung wahr­neh­men kön­ne in der­sel­ben Zeit. Sie rief bei der Zei­tung an. Ein jun­ger Mann, der die Gefahr erkann­te, eine treue Lese­rin zu ver­lie­ren, mach­te ihr unver­züg­lich ein groß­zü­gi­ges Ange­bot. Er sag­te, wenn sie die Zei­tung wei­te­re 2 Jah­re abon­nie­ren wür­de, müss­te sie ein hal­bes Jahr lang für ihre Zei­tung nichts bezah­len, wes­we­gen mei­ne Mut­ter sofort von ihrem Wunsch, sich um ihr Lese­ver­gnü­gen zu brin­gen, Abstand nahm. Sie abon­nier­te also die Zei­tung für wei­te­re 2 Jah­re, obwohl sie doch mög­li­cher­wei­se lang­sa­mer und noch lang­sa­mer lesen wird, also jener Teil der Zei­tung, der unge­le­sen, grö­ßer wer­den wird. Der jun­ge Mann am Tele­fon hat­te im übri­gen auch für die­ses Pro­blem unge­le­se­ner Zei­tungs­ab­tei­le eine beru­hi­gen­de Mit­tei­lung zu machen. Er sag­te, die Zei­tung wür­de auch dann gedruckt, wenn Mut­ter sie abbe­stel­len wür­de, was ver­mut­lich der Fall ist, ein Argu­ment, das wirk­te. Als ich Mut­ters Geschich­te hör­te, dach­te ich, man müss­te ein­mal elek­tri­sche Papie­re erfin­den, hauch­dün­ne Com­pu­ter­bild­schir­me, die zu einem Gefäß ver­sam­melt sind, das sich anfühlt wie eine Zei­tung. Über Funk wür­den Zei­chen gesen­det wer­den, gera­de so vie­le Zei­chen wie übli­cher­wei­se gele­sen wer­den von dem Besit­zer des Zei­tungs­ge­fä­ßes, Zei­chen über Lite­ra­tur und Loka­les und über die Poli­tik der gro­ßen, wei­ten Welt. Eine Zei­tung mit Augen, eine Zei­tung, die ver­merkt, wie vie­le ihrer Zei­chen prä­zi­se gele­sen wer­den, eine Zei­tung bei­na­he wie ein Com­pu­ter, oder, genau­er gesagt, ein Com­pu­ter, der sich wie eine Zei­tung anfüh­len wür­de, in dem man blät­tern könn­te, ein Com­pu­ter der raschelt, oder eben eine Zei­tung, die man aus­schal­ten kann. — stop

southferry

///

herzhaut

pic

vic­to­ry : 0.55 — Ein grie­chi­scher Minis­ter soll geäu­ßert haben, sein Land sei doch kein Lage­r­ort mensch­li­cher See­len. In der Zei­tung, die von die­sem Ereig­nis berich­te­te, waren auf einer Foto­gra­fie Fern­seh­ka­me­ras und eben ein klei­ner, run­der Herr zu sehen, der im Moment der Auf­nah­me zu spre­chen schien. Tat­säch­lich wür­de der Aus­druck sei­nes Gesich­tes sich gut sei­nem doku­men­tier­ten Gedan­ken fügen, der in der Bild­un­ter­schrift ver­zeich­net ist, ein wenig Wut dort, Empö­rung, gleich­wohl eine Trau­rig­keit, die nahe der Wahr­neh­mung tau­sen­der Ret­tungs­wes­ten, die an grie­chi­schen Strän­den lie­gen, wohl­tu­end authen­tisch wirkt. Erin­ner­te mich an einen Satz, den Tho­mas Bern­hard einer Kame­ra erzähl­te: Das, was nie­mand sieht, das hat einen Sinn auf­zu­schrei­ben. Aber zunächst ist alles noch gut sicht­bar. Men­schen sit­zen in einem Bus, vor dem Bus tobt eine dunk­le Men­schen­kopf­wol­ke, die gif­ti­ge Wör­ter spukt. Rei­se­ge­nuss in gel­ber Leucht­schrift, wie eine Ver­höh­nung, ist an der Kopf­sei­te des Bus­ses anstatt einer Ziel­an­ga­be zu lesen, wo Claus­nitz ste­hen könn­te. Einen Tag spä­ter wird der Ver­such unter­nom­men, Schuld­last in den Bus zu ver­schie­ben, es wer­de, sagt ein Poli­zei­of­fi­zier, auch gegen Geflüch­te­te ermit­telt. Wenn man nun lan­ge genug spre­chen und schrei­ben wird in den Räu­men der Bewe­gung, wird das Gewünsch­te zur wirk­li­chen Wirk­lich­keit wer­den. Es ist zum Fürch­ten, wie frü­her, alles noch da, der har­te Blick auf Men­schen in Not, auf Men­schen mit Kof­fern in der Hand. — stop

schaltung3

///

nachtmann

2

vic­to­ry : 0.55 — Es ist 1 Uhr mit­ten in der Nacht und es reg­net. Ein Mann kommt auf sei­nem Fahr­rad weit unten pfei­fend die Stra­ße ent­lang. Etwas ist selt­sam, er kommt sonst zu ande­rer Zeit, er kommt sonst immer um 3 Uhr, nie­mals frü­her, und nie­mals, wenn es nach halb 4 Uhr gewor­den ist. Ich habe vor eini­ger Zeit von die­sem Mann bereits berich­tet, dass ich ihn ein­mal von oben her beob­ach­tet habe, dass er sich in einer Wei­se ver­hält, als wür­de er selbst eine abge­schlos­se­ne Geschich­te sein, zu der sich nichts wirk­lich Neu­es hin­zu­fü­gen lässt. Heu­te Nacht stell­te ich mir vor, sei­ne Erschei­nung könn­te viel­leicht glän­zen, weil er nass ist, sei­ne Hau­be, sein Man­tel, sein Fahr­rad. Viel­leicht wird er hoch­schau­en zum Dach, wird das Licht sehen hin­ter mei­nen Fens­tern, wird sagen: Der Nacht­mensch ist wie­der da! — Ich muss mich geirrt haben. Es ist tat­säch­lich so, dass sich die­ser Mann zu ver­än­dern scheint, sei­ne Geschich­te, nicht nur die Geschich­ten in den Zei­tun­gen, die er zu schla­fen­den Men­schen bringt. Min­des­tens wird der Mann immer älter, wie ich immer älter wer­de, und sein Fahr­rad, als ich vor drei Wochen ver­reis­te, noch ohne, ver­fügt plötz­lich über einen Motor, der knat­tert. — stop

handzeichnung

///

zerzaust

pic

vic­tor : 0.55 — L. erzählt, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein wenig wild aus­ge­se­hen haben, zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — stop
ping

///

von zeitungen

pic

india : 3.18 — Mor­gens liegt die Tages­zei­tung wie ein Wun­der vor der Tür, an jedem der Tage einer Woche, nur an Sonn­ta­gen nicht. Es exis­tie­ren Win­ter­zei­tun­gen, die von Schnee bedeckt sind, und Som­mer­zei­tun­gen, wel­che küh­ler sind als die Mor­gen­luft, außer­dem Herbst­zei­tun­gen und Früh­lings­zei­tun­gen. Herbst­zei­tun­gen sind von Blät­tern bedeckt, feucht vom Nebel der Mor­gen­stun­den, feucht wie Früh­lings­zei­tun­gen, die nur feucht sind, aber nicht von Blät­tern bedeckt. Alle die­se Zei­tun­gen sind schwe­re Objek­te in den Hän­den einer alten Frau. Es ist immer­zu sehr viel gesche­hen seit der Zei­tung des Tages zuvor, und auch jene frü­he­re Zei­tung war schwer gewe­sen, weil viel gesche­hen war in der Zeit, als die alte Frau im Gar­ten arbei­te­te. Ja, das Gehen fällt nicht mehr so leicht, und auch das Lesen nicht. Es geschieht so viel, sagt die alte Frau, und sie mein­te viel­leicht, dass zu viel geschieht, dass die Zei­tung zu schwer gewor­den ist, für ihre alten Hän­de. Und sie sagt, dass sie nicht alles, was in der Zei­tung geschrie­ben steht, lesen kön­ne, sie sagt das so, als ob sie mein­te, es sei zu viel in der Zei­tung geschrie­ben, das sie nicht lesen wür­de, sie sei der Zei­tung nicht län­ger wür­dig, wes­we­gen wir nun hof­fen und dar­über nach­den­ken, was viel­leicht zu tun ist in die­ser Zeit, das die papie­re­nen Zei­tun­gen zu schwer gewor­den sind. — stop

oqaatsut

///

aylan kurdi

pic

sier­ra : 23.25 — Ich hat­te bis zum spä­ten Abend kei­ne Zei­tung gele­sen und auch die Fern­seh­ma­schi­ne nicht ange­stellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, frag­te, ob ich die Foto­gra­fie mit dem Jun­gen gese­hen hät­te, der aus Kobanê geflüch­tet, vor einem Urlau­ber­strand der Tür­kei ertrun­ken und Land gespült wor­den sei. Er sag­te, er habe mir die Auf­nah­me gera­de eben geschickt, und ich hör­te genau in die­sem Moment das Geräusch einer ankom­men­den E‑Mail mit dem Betreff: Der Jun­ge. Eine hal­be Stun­de spä­ter öff­ne­te ich die Datei. Auf der Foto­gra­fie war der Kör­per eines Kin­des am Strand zu erken­nen, ein­sam, unend­lich ein­sam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrun­ken war, sei­nen Kör­per behut­sam am Strand abge­legt, seht her, schaut, was gesche­hen ist, öff­net die Gren­zen, lasst Flücht­lings­men­schen end­lich mit Flug­zeu­gen zu euch kom­men, wehrt sie nicht ab, errich­tet kei­ne Zäu­ne, hört auf, Waf­fen zu lie­fern, mit wel­chen tat­säch­lich auf Men­schen geschos­sen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekom­men seid. Mil­lio­nen elek­tri­sche Exem­pla­re die­ser Foto­gra­fie eines leb­lo­sen Kin­des sol­len sich inner­halb weni­ger Stun­den um die Welt ver­brei­tet haben, eine Foto­gra­fie, die nie wie­der ver­schwin­den wird, ein Gedächt­nis­bild mög­li­cher­wei­se, wie das Bild (Pulit­zer­preis 1973) der durch fri­end­ly fire schwer ver­letz­ten Kim Phúc und der Geschwis­ter des Mäd­chens, flie­hend auf einer Stra­ße im Süden Viet­nams, ein Gedächt­nis­bild, an das sich die Mensch­heit nun gewöh­nen wird, das Bild betrach­ten und beden­ken, damit es sei­nen Schre­cken ver­liert, bis man es nicht mehr wahr­neh­men wird. Der Name des Jun­gen: Aylan Kur­di. Er wur­de 3 Jah­re alt. Nicht alle wer­den sich gewöh­nen. — stop

ping

///

kurz vor mitternacht

9

sier­ra : 23.55 — In U‑Bahnen rei­send immer wie­der der Ein­druck, Men­schen wür­den mit­tels ihrer rascheln­den Zei­tun­gen zuein­an­der spre­chen. Eine Wei­le ist Ruhe, aber dann blät­tert jemand eine Sei­te um, und schon knis­tert der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he wei­ter. Man möch­te in die­sen Momen­ten mei­nen, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal habe ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von stoff­ar­ti­ger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, sodass kei­ner­lei Geräusch von ihnen aus­ge­hen wür­de, sobald man sie berühr­te. Eine eigen­tüm­li­che Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, ein Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung. — Kurz vor Mit­ter­nacht. Ich habe die­se klei­ne Geschich­te soeben Schne­cke Esme­ral­da vor­ge­le­sen, um sie zu wecken. Sie war in der Abend­däm­me­rung über mei­nen Küchen­tisch gekro­chen, hat­te sich auf eine Bana­ne gesetzt und war dann ver­mut­lich ein­ge­schla­fen, wäh­rend ich eine Debat­te des grie­chi­schen Par­la­ments via Live­stream beob­ach­te­te. Dort auf dem Bild­schirm auf­ge­reg­te Men­schen, die in einer wohl­klin­gen­den Spra­che for­mu­lier­ten, die ich nicht ver­ste­he, aber sofort erken­ne, sobald ich sie ver­neh­me. Ein­mal mein­te ich, den Namen Wil­ly Brandts gehört zu haben. — stop. Wol­ken­lo­ser Him­mel. stop. Nichts wei­ter. — stop

nach­rich­ten von esmeralda »

drohne2



ping

ping