bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart, als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre, so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop
Aus der Wörtersammlung: bamako
mululela
bamako : 3.05 — Habe in den vergangenen Wochen verschiedene Wörterbücher untersucht, insbesondere jene Sammlungen, die im Hintergrund zahlreicher Texteditoren heimliche Arbeit verrichten. Es ist so, dass auf der Ebene der Sprachen, Nachtmenschen in einem Wort existieren, aber nicht Tagmenschen. Das Wort Tagmensch wird sofort als nicht korrektes Wort ausgewiesen. Es scheint demzufolge für am Tage lebende Menschen möglich zu sein, andere, nämlich Menschen, die überwiegend in der Nachtzeit existieren, mit einem Wort zu kennzeichnen, während hingegen Nachtmenschen nicht möglich ist, jene Menschen, die die Nacht verschlafen, mit einem eindeutigen Wort zu bezeichnen. Das ist aus meiner Sicht zunächst seltsam, eine Übung, die sich vermutlich bald ändern wird, indem sich Lebensarten und Arbeitswelten der Menschen immer fort verdichten. — Flughafen. Leichter Schneefall. Es ist kurz vor drei Uhr. Eine riesige Antonow-Maschine rollt über das Flugfeld. Kein Laut zu hören vom Ungetüm, das doch fliegen kann. Wenigen Minuten zuvor erzählte mir Mululela, 24, Trainee aus Kamerun, dass sich das Leben in Deutschland doch sehr vom Leben in Afrika unterscheide. In ihrem Dorf, zum Beispiel, spaziere sie einfach los, wenn sie an jemanden denken würde, um diesen Menschen sofort zu besuchen. In Deutschland müsse man zunächst telefonieren, fragen, sich ankündigen. Überhaupt müsse man hier für alles, aber auch wirklich alles bezahlen, nur das Wasser in den Trinkbrunnen scheine kostenlos zu sein und die Luft zum Atmen. Ganz sicher sei sie sich in dieser Sache aber nicht! — stop
mr. blankfeins schweigen
bamako : 6.45 — In der 37. Minute einer Filmdokumentation, die von den Strukturen der Goldman Sachs Bank erzählt, ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Lloyd Blankfine, Vorstandsvorsitzender genau dieser Bank, wurde in einem Fernsehinterview befragt. Ein äußerst scharfzüngiger Redner von heller Stimme, erkundigte sich Mr. Blankfine zunächst bei dem Moderator der Sendung, wie oft er ihn, Blankfine, im Fernsehen gesehen habe? Nie! Wissen Sie was. Das war vermutlich ein Fehler. Wir müssen uns jetzt bemühen, den Leuten zu erklären, was wir tun. Sofort spitzte sich die Lage zu. Der Moderator der Sendung, der Mr. Blankfine unmittelbar gegenübersaß, parierte mittels einer weiteren Frage, die der Banker so nicht erwartet haben mag. Er formulierte präzise: Ist es vorgekommen, dass ihre Investment-Berater einem Kunden Anlagen verkauft haben, gegen die Goldman zur selben Zeit spekulierte? Nun geschah Folgendes: Mr. Blankfine’s Augen weiteten sich, er senkte seinen Blick, setzte zu einer Antwort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkennbaren Wortes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründlich, sieben Sekunden lang, für eine üblicherweise äußerst schnell sprechende und denkende Person, die sich unter öffentlicher Beobachtung weiß, ein bedeutender Zeitraum. Ich habe diese Sentenz des Gespräches mehrfach vor und zurückgespielt, da mir Lloyd Blankfine in jenem Moment eine außerordentlich authentische Persönlichkeit gewesen zu sein schien. Ein Mensch, der nach einzelnen Wörtern suchte, nach einem angemessenen Gedanken in seinem Kopf, weil sich bislang dort Sätze formulierten, die so aufrichtig waren, dass Mr. Blankfine sie nicht aussprechen durfte, um nicht für immer Schaden zu nehmen, er selbst nicht und seine Bank nicht. Ich beobachtete sein Gesicht. Dreifach war Lidschlag zu erkennen, seine Augäpfel erweckten den Eindruck, als würden sie wachsen unter dem Druck eines Blickes, der nicht entscheiden konnte, ob er sich nach innen oder nach außen richten sollte, während ungeheure, vorbewusste Rechenleistung entfesselt war, um vielleicht doch einen Ausweg zu finden. — stop
ohrentraum
bamako : 5.55 — War im Restaurant. Dort schritt die Zeit sehr viel schneller als üblicherweise voran. Jeder eintretende Besucher wurde gewarnt, ungefähr so: Guten Abend, mein Herr, wir wollen sie darauf hinweisen, dass ein Abend bei uns sie um etwa ein Jahr älter werden lässt. Tatsächlich flackerte im Saal das Licht aufgeregt, das waren vielleicht Dämmerungen, Nächte und Tage. Auch mein Herz schlug wie verrückt und das Blut zischte durch meine Blutgefäße. Ich verspeiste 250 Gramm gerösteter menschlicher Ohren in einer sanften Zitronensauce. Als ich erwachte, hörte ich meine eigene Stimme, die etwas sagte, das ich nicht verstand. Ich machte Kaffee und ich notierte meinen Traum unverzüglich. Über die Notiz setzte ich das Wort: Ohrentraum. — stop
brummkreisel DOYU 66Y
bamako : 18.55 — Ich habe über das Problem lebender Brummkreisel nachgedacht. Das ist nämlich so, dass ein Lebewesen, das einem Brummkreisel ähnlich sein würde, über zwei Abteilungen verfügen sollte, über eine der Erde verbundene Fuß– oder Basisabteilung einerseits, sowie über eine sich drehende, kreisende Einheit andererseits, die sich in den Momenten der Karussellfahrt in Freiheit, also unabhängig von dem geerdeten Teil des Brummkreiselwesens bewegen müsste und doch eindeutig ihm gehören würde. Demzufolge würde die kreisende Abteilung dieses Wunschwesens nach Ende ihrer rasenden Fahrt zu sich selbst zurückkehren, das heißt, sich mit der wartenden Fußabteilung in organischem Sinne wieder vereinen. Eigentlich ist das insgesamt nicht schwer zu denken. Ein Gefäß, anstatt eines Kopfes, könnte auf den Schultern der Basisabteilung existieren, eine Fassung, in welcher sich die untere Spitze des wirbelnden Körperteiles frei drehend bewegen würde. In diesem Gefäß sollten sich Öle befinden, die dem menschlichen Liquor ähnlich sind. Nach einer Phase der Rotation würden sich in dieser Flüssigkeit Blutgefäße und Nervenbahnen, die zuvor gelöst worden waren, von unten nach oben erneut miteinander in Verbindung bringen, sodass das Wesen bald wieder zu einer vollständigen Person geworden sein wird. Augen und Ohren, so stelle ich mir vor, sollten sich in der unteren Abteilung befinden, auch Füße zum Stehen und Wandern und alle Organe, die für einen gesunden Stoffwechsel notwendig sind. Ja, so könnte das möglich sein, das ist denkbar, das macht Knoten im Kopf. — stop
windrad
bamako : 8.05 — Auf meiner letzten Ruhestätte könnt einmal ein Windrad stehen. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung. Ob man vom Musikgeräusch etwas vernehmen könnte an der Erdoberfläche? Wie würden Eichhörnchen reagieren? Ob sie sich vielleicht um die Musik, die aus dem Boden kommt, versammeln werden? All diese Fragen. — stop
menschen und hände
echo : 23.55 — Der beruhigende Gedanke, dass ich mich in New York zu irgendeinem Menschen an irgendeinen Tisch setzen könnte und darum bitten, eine seiner Hände neben eine meiner Hände zu legen. Sogleich würden wir erkennen, wie ähnlich wir uns sind. Auch ein Tisch vergleichender Hände in einer Bar am Strand von Mindelo wäre möglich, Hände auf dem Marktplatz von Bamako oder Hände in einem Nachtklub der Stadt Buenos Aires, einem Tabakwarenladen zu Barcelona, einer Spielhalle in Tokio. Wenn nun aber da oder dort an einer der vorgezeigten Hände ein Finger fehlen würde, dann wäre das je bereits eine ganz eigene Geschichte. stop. Amy Winehouse ist im Alter von 27 Jahren gestorben. — stop
landscape
bamako : 20.01 — Würde ich Hand für Hand je einen sechsten Finger wirklichkeitsnah erfinden, könnte ich die Substanzen dieses Fingers (Knochen / Muskeln / Nerven / Sehnen) nach Belieben benennen. Ein kleiner anatomischer Gott wär ich in den Grenzen sprachlicher Logik. — stop
PRÄPARIERSAAL : ein helles herz
bamako : 2.58 – Beobachtete im Präpariersaal kurz vor acht Uhr morgens eine Assistentin, indem sie sich mittels eines Skalpells und einer Pinzette in die Tiefe eines Lungenflügels vorarbeitete. Feine, zupfende Handbewegungen einer Uhrmacherin. Ein metallener Ton, sobald die Assistentin etwas Gewebe am Rand einer Schale von ihren Werkzeugen streifte. Wortlos stand die junge Frau am Tisch, scheinbar ohne sich an meiner Gegenwart zu stören. Nach einigen Minuten dann schob sie das Lungenpräparat zur Seite und wendete sich einem Herzen zu, das in unmittelbarer Nähe eines weiteren Lungenflügels auf einem Blech schaukelte, als sei es noch von eigener Kraft in Bewegung. Das war ein kräftiges Herz gewesen, ich erinnere mich noch gut, über das Gewicht in meinen Händen gestaunt zu haben. Ich hatte das Präparat vom Tisch gehoben und hielt es in der Schale meiner Hände fest, um die Arbeit der Assistentin zu erleichtern. Das Herz ist schwer, sagte ich. Ein mächtiger Muskel, antwortete die Frau, ja, ein mächtiges Herz, fest und dunkel, das Herz eines Läufers. Oder ein Künstlerherz vielleicht. Schweigen jetzt. Sie trommelte mit ihren Werkzeugen auf den hölzernen Rand des Tisches. Meines wird wohl etwas kleiner sein, setzte ich vorsichtig hinzu, ein helles Herz, das Herz eines Vogels, sagen wir. Du kannst also fliegen, bemerkte die junge Frau und lachte, das ist eine gute Geschichte! — Wie sie für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gehirn mit einem Lid bedeckte. Fin. – stop
coney island
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : CONEY ISLAND
Nie vermag ich auszumalen, wo ihr Zwei gerade seid. Ja, so ist das, nein, nein, ich habe keine Ahnung, keine Vorstellung, liebe Daisy, liebe Violet, könnte die Welt umrunden, zu Fuß oder auf den Rücken der Kamele, zu keiner Zeit würde ich Euch begegnen, nicht eine Sekunde, kein Blick aus dem Fenster eines abfahrenden Zuges, Eure lächelnden Gesichter, Euer Winken, zwei Küsse durch die Luft, nein, nein, niemals, nicht wirklich, keine Ahnung habe ich, keine Vorstellung, und doch seid ihr nah, so nah, dass ich Euch schwebende Orte schenkte in Gedanken, einen schwebenden Tisch, eine schwebende Schreibmaschine, ein schwebendes Sofa, und diesen weiten Blick aufs wilde Meer, auf blühende Gärten, ein Lächeln. Gestern arbeitete ich im Park unterm Regenschirm. Ich hatte meine Schreibmaschine auf eine Hand gestellt, dort wartete sie lange Zeit. Dann schrieb ich ein Wort, aber kein weiteres Wort. Nur Geduld, dachte ich, nur Geduld. Habt Ihr, liebe Violet, liebe Daisy, bemerkt, dass ich Euch Bohumil Hrabals Geschichte der Katze Autitschko öffnete. Ich legte das kleine Buch neben mich auf die Bank, blätterte und wartete, meinte, Euch rufen zu hören: Wir lesen, Louis, schneller, als Du denkst! — Ein großer Augenblick meines kleinen Lebens.
gesendet am
8.06.2010
22.08 MESZ
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