ulysses : 6.02 — Einen Tag lang habe mit meiner Antwort an Jennifer 7 gewartet. Vor wenigen Stunden folgende kurze E‑Mail-Notiz: Liebe Jennifer, ich verstehe, dass Sie unruhig geworden sind. Bitte haben Sie etwas Geduld, ich weiß um Ihr Leid, ahne, was es bedeutet, wenn man nicht schlafen kann, weil Schritte von Menschen in nächster Nähe über die Decke spazieren. Man glaubt ihre Schatten zu sehen jenseits der Bastmatten, der Steine, der Hölzer. Wenn es einmal still ist, dann wartet man in dieser Stille auf das nächste Geräusch, das den Schlaf zerreißen wird, alles schon da todsicher in der Zukunft, all das Getöse, weil man an es denkt, weil es nicht anders sein kann, jede leise Erschütterung des Bodens eine Erschütterung der Welt, Erdbeben, Tragödie. Man möchte sich erheben, man möchte sich kämmen, Hemd und Hose sind bereits übergeworfen, so tritt man auf den Flur, um sich zur Beschwerde aufwärts zu begeben. Man klopft an eine Tür. Man sieht einen Schatten hinter dem Bullauge des Spions: BIST DU ALSO DA! Aber niemand öffnet die Tür. Auch nach Minuten des Wartens nicht. Und dann ist man doch noch eingeschlafen, meine liebe Jennifer 7, man schläft vor Erschöpfung, man schläft mit geöffneten Augen unter dem Schwanenhals. — Donnerstag. Leichter Regen. Es ist kalt geworden über Nacht. Noch immer habe ich keine Antwort auf die Frage gefunden, weshalb Kiemenmenschen, sobald sie schlafen oder sich küssen, Kopf nach unten in ihren Wasserwohnungen schweben. — stop
Aus der Wörtersammlung: beben
flugpanther
india : 6.02 — Auf das Grab meines Vaters fallen Früchte eines Baumes, der schon im letzten Jahr an Ort und Stelle gestanden haben muss. Da war vom Grab meines Vaters weit und breit noch nichts zu sehn, aber es war schon die Rede vom ihm, ganz heimlich, in Gedanken, der Vater könnte sterben. Eichhörnchen suchen zwischen Asternbüschen nach Eicheln, aufgeregt, der erste Schnee ist gefallen, es ist ein Schnee, der wieder an die Zeit denken lässt, die vergangen ist und noch vergehen wird, weshalb wir traurig werden, weil mein Vater den Schnee des letzten Jahres noch mit seinen Augen sehen konnte und jetzt nicht mehr sieht, ein Schnee ohne ihn, was wiederum ein seltsamer Gedanke ist, weil es einmal einen Schnee ohne uns alle geben wird, und das ein oder andere Grab, auf dem Eichhörnchen nach Eicheln suchen oder weiteren Nüssen. Wie sie zittern und beben, die Kälte, aber auch deshalb vielleicht, weil sie so gespannt sind, so aufmerksam, weil Raben in den Bäumen sitzen, die hungrig sind, fliegende Panther. Wie schnell man doch sein Leben verlieren kann, kaum hundert Jahre vergehen und schon ist man sehr wahrscheinlich tot, eine verdammte Sache, das Älterwerden bis man zum Sterben alt geworden ist, wenn man Glück hat, wenn man nicht vor dem Altsein stirbt. Wie mein Vater neben meiner Mutter am Fenster steht. Ein früher Morgen, ein Januarsonntag. Ich zieh meinen Koffer über den verschneiten Weg, auf dem noch keine Fußspuren zu sehen sind. 10 Stunden später werde ich in Manhattan sein. Mein Vater winkt. Ein Winken, ohne die Bewegung des Armes, nur seine Finger winken, sie klappen von oben nach unten, wie damals noch in den Schattenspielen, Krokodile, Wölfe, Elefanten, stumm von den Wänden. — stop
gebete
delta : 6.46 — Das war so gewesen. Kurz nach dem Abendessen treffe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gerade vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denkbar unmöglichen Orten, aber immer zur rechten Zeit. Wir müssen nicht mehr darüber sprechen, er ist Moslem, überzeugt, tiefgläubig, ich bin Christ, einer, der eher zweifelt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jenseitsgeschichten. Mein Freund und ich lieben Jazz. Er ist ein Schlagzeuger von hoher Begabung, ich habe ein feines Gehör, das ist die andere Seite, mein bebendes Zwerchfell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irrsinn wieder ist, dieser Film, diese Provokation, dass das nie aufhört, sagte er dann doch in meine Richtung. Und dass ihm das vor allem so unangenehm sei, weil wir doch wie Puppen sind, die man aufziehen kann, irgendwo eine böse satirische Zeichnung, und schon tanzen wir los. — Ja, das ist äußerst seltsam, diese Art der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, die Menschenleben fordert. Überhaupt ist das merkwürdig, die Schöpfung, der Tod, das Erzählen von der Zeit danach, die Gesetze, die Bewertung nach Gut und Böse. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal mit meinem Vater vor einem Fernsehgerät saß. Das war an einem Ostersonntag kurz vor 12 Uhr mittags gewesen. Auf einem Balkon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf und sprach in singender Weise Verse, von welchen ich ahnte, dass es sich nur um ein Gebet handeln könnte. Das Gebet war in meinen Ohren nicht verständlich gewesen, weil es in italienischer Sprache gesungen wurde, aber dann äußerte sich der geistliche Mann plötzlich in einer mir bekannten Sprache. Meine Mutter war indessen hinzugetreten. In genau dem Moment, da der alte Mann seinen Segen erteilte, kniete sie nieder und bekreuzigte sich. Ich erinnere, mich über ihre Geste gewundert zu haben, das Knien vor einem Fernsehgerät. Genaugenommen wundere ich mich bis heute, wie der Segen wandert. — stop
giuseppi logan
himalaya : 6.45 — Vor zwei oder drei Monaten habe ich eine Geschichte gelesen, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten bei einem Erdbeben verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf die Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine sehr kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er-Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxofon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — stop
jackson avenue
romeo : 1.28 — New York. Subway Linie 7 Richtung Queens. Ein Herr mit Aktenkoffer steigt Station Jackson Avenue in den Zug, setzt sich, legt seinen Koffer auf die Knie, öffnet den Koffer und entnimmt ein Gerät, das nicht sehr viel größer ist als eine Streichholzschachtel. Bald werden Batterien sichtbar, eine Versammlung von vier Batterien, 1.5 Volt, die mittels eines Gummibandes aneinander befestigt sind. Drähte führen in die Luft, sie beben in der Bewegung des Zuges, werden in diesem Moment von gleichfalls bebenden Fingern des Mannes eingefangen, mehrfach verzwirbelt und vorsichtig mit dem kleinen Gerät, das der Mann seinem Koffer zunächst entnommen hatte, verbunden. Ein Junge mit Gitarre schlendert indessen musizierend durch den Zug, breitbeinig, in der Art der Matrosen auf hoher See. Fahrgäste in der Nähe des Mannes mit dem Aktenkoffer beobachten interessiert wie der Mann aus der linken Tasche seines Jacketts eine Kurbel hebt, filigranes Werkzeug, Welle von Metall, hölzerner Griff. Er steckt die Kurbel in den Streichholzkasten und beginnt vorsichtig an ihr zu drehen. Jetzt schließt er seine Augen, kurbelt weiter. Einige Meter entfernt sitzt ein Mädchen auf einer grellbunten Reisetoilette. Auch das Mädchen, während es wartet, beobachtet den Mann und seine Kurbelmaschine voller Hingabe. In dieser Sekunde schließt auch das Mädchen, wie der Mann, andächtig die Augen. – stop
MLR X‑867
nordpol : 3.55 — Folgendem Molluskenwesen gilt nachtwärts meine Aufmerksamkeit: MLR X‑867, 10 cm in der Länge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Breite, samtig schwarzer Körper, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweglich. Dieses Schneckenwesen lebt vornehmlich im Wasser, weswegen es über Kiemen gebietet, wandert dort langsam auf Lamellenbeinen über den Boden hin oder felsige Wände auf und abwärts. Aber auch in Gefangenschaft überlebt es gerne, solange man warme Fliegenlarven füttert, die großzügig über die Oberfläche des Molluskengewässers zu verteilen sind. Es ist vielleicht so, dass in stetiger Erwartung, das kleine Tier in genau jenem Moment, da es der bebenden Larvenkörper ansichtig geworden ist, Hochgeschwindigkeitszungen in Richtung seiner Beute schicken wird, Zungen, die einem schmalen Rücken entkommen, dort reiht sich ein Mund an den nächsten, es sind sieben insgesamt, die geschlossen vollständig unsichtbar bleiben. Nun wäre das noch nichts Besonderes, wenn es sich bei diesem Wesen, nicht um eine Persönlichkeit von hervorragender Musikalität handeln würde, man leuchtet nämlich in jeder erdenklichen Farbe, sobald man Geräusche, noch die leisesten hört. Das Schwarzsein bedeutet also Stille. Art und Position der Schneckenohren sind zu diesem Zeitpunkt, 3 Uhr 28 Minuten, noch nicht bekannt. — stop
harlem : artist südwärts
charlie : 0.06 — Kurz nach 8 Uhr abends betritt ein hochgewachsener, schöner Mann den Subwaywagon, in dem ich sitze. Er trägt eine rote Hose, die schillert, Turnschuhe von schwarzer Farbe, einen Gürtel von Schlangenhaut, davon abgesehen scheint der Mann unbekleidet zu sein, die schwarze Haut seines Oberkörpers glänzt, auch die Haut seines Kopfes, auf dem sich keinerlei Haar befindet. Er kommt also herein, Höhe 168. Straße, geschmeidig, vollzieht einen Handstandüberschlag und hängt sich, Kopf nach unten, an eine der Haltestangen, die sich in den Waggons der Linie C befinden. Eine leichte, schaukelnde Bewegung, ich könnte sagen, eine Bewegung der Ruhe vor dem Sturm, die Augen geschlossen, gleich werden sich die Arme des Mannes über das Gestänge des Waggons bewegen, er wird den Reisebehälter, der von zahlreichen Menschen bewohnt, durch den Untergrund der Insel Manhattan rattert und scheppert, durchmessen, ohne den Boden mit seinen Füßen zu berühren, lautlos, bebende Muskeln, Arme, Rücken, Bauch, indem sich ein Arm des Mannes von der Stange löst, wird er an den Schwingen einer Hand gegen den Süden fliegen, um einen weiteren Handvogel nach sich zu ziehen, bald mit Hand No 3 und Hand No 4, die beide Schuhe tragen, nach offenen Räumen zielen, um Fahrt aufzunehmen, ein segelnder Körper, mal gestreckt, dann wieder zu einem Ball geworden, der sich um eine der senkrechten Stangen windet, die das Dach des Zuges zu halten scheinen, ein Hut indessen, der mal da mal dort unter den Nasen der Staunenden vorüber kommt, gleich ist es so weit, 166. Straße, noch eine, noch eine halbe Sekunde. — stop
eine fliege
india : 6.28 — Eine Fliege war unlängst aus großer Höhe abgestürzt und vor mir auf den Tisch gefallen. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, aber nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf Fünfen ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen, vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. Nein, fangen wir noch einmal von vorne an. Unlängst. Eine Fliege. — stop
tripolis
foxtrott : 20.58 – Die Spitze meines Bleistiftes unter Beobachtung, wie sie sich über das Papier bewegt, immer noch unsicher, zögernd, helle, rauchige Töne, Zeichen, Wörter, jeder Gedanke von eigentümlicher Melodie, eine windige, schürfende Welle. stop. stop. In Libyen, ohne Mitwirkung eines Erdbebens, sollen nach Angaben des Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika in den vergangenen 2 Monaten bis zu 30000 Menschen getötet worden sein. stop Seit zwei Tagen notiere ich mit der Hand. — stop
kairobildschirm
sierra : 6.28 — Regen, erste Milde des Jahres. Ein Freund, arabischer Jazzmusiker und stark wie ein Bär, erzählte vor wenigen Stunden, er sei versucht gewesen, während der Rede Husni Mubaraks am Donnerstagabend, sein Fernsehgerät zu zertrümmern. Kann ich nun von einem Wunder sprechen, dass in der zurückliegenden Nacht in den Straßen Kairos nicht rasende Gewalt ausgebrochen ist? Merkwürdig der Augenblick, als sich nachmittags über den hellblauen Himmel der riesigen Stadt ein Hubschrauber fortbewegte, sandfarben und so klein, dass er kaum noch sichtbar gewesen war, ein Luftfahrzeug, in dem sich vielleicht ein Menschendespot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je verstehen wird, was geschehen ist. Kurz darauf das Beben des Bodens, seismografisch messbar unter Tausenden tanzender Füße, die ihre Schuhe wieder tragen. Auf meinem Fernsehbildschirm erweist ein General mit einer irritierenden militärischen Geste den Opfern des Aufstandes seine Ehre. — stop