Aus der Wörtersammlung: beben

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von schmetterlingen

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hima­la­ya : 0.28 – Wenn ich nicht irre, dann moch­te mei­ne Groß­mutter, die Mün­che­ner Oma, wie wir sie nann­ten, das Wort Bom­ben­stim­mung nicht gern aus­spre­chen. Das lag ver­mut­lich dar­an, dass sehr häu­fig der Boden unter ihren Füßen zit­ter­te, wenn irgend­wo in der Stadt, in der sie leb­te, Bom­ben unsanft auf dem Boden lan­de­ten. Mei­ne Mün­che­ner Oma ist schon vor lan­ger Zeit gestor­ben, sie hat­te eine Krank­heit, die ihre Glie­der beben ließ von Zeit zu Zeit, als ob sie sich an das Zit­tern des Bodens immer wie­der erin­nern muss­te. Vor weni­gen Stun­den nun ist ihre Toch­ter aus dem Leben ver­schwun­den, weiß der Him­mel, ob sie davon erfah­ren hat. Auch ihre Toch­ter kann­te das Beben des Erd­bo­dens noch, wäh­rend der Boden unter mei­nen Füßen nie­mals beb­te unter dem Ein­druck mensch­li­cher Spreng­mit­tel­er­fin­dun­gen. Das Wort Flie­ger­bom­be kommt in mei­nem Leben schon sehr lan­ge vor, es gehört zum Wort­schatz des Kin­des, ver­mut­lich weil von den Bom­ben­zei­ten immer wie­der berich­tet wur­de. Man­che Men­schen, die heut­zu­ta­ge Kin­der sind, bücken sich nach Schmet­ter­lin­gen, die grün sind wie Frö­sche, und sie den­ken viel­leicht noch, das sind aber schwe­re Schmet­ter­lin­ge, und ver­lie­ren gera­de in die­sem Sekun­den­mo­ment für immer Augen und Hän­de. — stop
louis

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sommerhut

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tan­go : 6.55 — Men­schen exis­tie­ren, die Flüch­ti­ge sind in sich selbst, unschar­fe Wesen, oszil­lie­ren­de, beben­de Per­so­nen, obwohl sie doch in nächs­ter Nähe ste­hen, man könn­te sie berüh­ren, ihnen die Hand rei­chen, wird man ihrer nie­mals sicher sein. Oder Schla­fen­de. Eine Frau mor­gens im Zug, der ich seit Jah­ren in der 6‑Uhr-15-Bahn vom Flug­ha­fen ins Stadt­zen­trum fah­rend regel­mä­ßig begeg­ne. Sie ist immer schon anwe­send, wenn ich den Zug betre­te. Sie ist ver­mut­lich die ein­zi­ge Frau, deren Gesichts­zü­ge mir ver­traut sind, ohne je ihre Augen gese­hen zu haben. Ich ken­ne sie aus­schließ­lich als schla­fen­de Per­son. Ver­mut­lich wird sie stets lan­ge vor mei­ner Zeit in den Zug gestie­gen sein, viel­leicht in Bad Kreuz­nach oder Idar Ober­stein, da war halb noch Nacht. Ich neh­me an, ihr Schlaf ist tief, denn sie sitzt sehr sta­bil von einer Hand­ta­sche beschwert und rührt sich auch dann nicht, wenn jemand neben ihr Platz nimmt. Ihr rund­li­ches Gesicht ist nie­mals geschminkt, ein fried­li­ches, ich wür­de sagen, ein glück­li­ches Gesicht. Ein­mal, in den Tagen gro­ßer Hit­ze, trug sie einen Som­mer­hut, ein ande­res Mal im Win­ter eine Woll­müt­ze. — stop

ping

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auf dem nachtschiff

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ulys­ses : 5.12 — Ein­mal war­te­te ich auf mei­nem Sofa, plötz­lich schlin­ger­te der Boden. Such­te nach mei­ner Bril­le und war­te­te wei­ter. Alles still, mit­ten in der Nacht. Da schau­kel­te das Sofa wie­der, der Boden beweg­te sich tat­säch­lich, auch eine Steh­lam­pe in mei­ner Nähe mach­te merk­wür­di­ge Geräu­sche. Vom Fens­ter im 5. Stock mei­nes Hau­ses aus war nicht zu erken­nen, ob irgend­je­mand bemerk­te, was ich beob­ach­te­te, Vögel flo­gen her­um, obwohl es dun­kel war. Kaum zurück auf dem Sofa, beb­te das Möbel­stück zum drit­ten Mal, ein Schwin­gen, sanft, ein Schlin­gern, zwei Spin­nen has­te­ten über die Wand, ich ver­fass­te einen Bericht für die Erd­be­ben­war­te. Ich schrieb: Sehr geehr­te Damen und Her­ren, Vögel und Spin­nen. Es war um kurz nach drei Uhr. — stop

ping

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camilla

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hima­la­ya : 5.32 — Ob Camil­la wirk­lich exis­tier­te, ver­mag ich nicht mit Sicher­heit zu sagen. Aber der klei­ne Mann, Feli­pe, der von Camil­la erzähl­te, exis­tiert tat­säch­lich, er hat mir wäh­rend einer mor­gend­li­chen Bus­fahrt die Hand gege­ben, eine klei­ne, raue Hand, die Hand eines Man­nes, der ein Leben lang hart gear­bei­tet haben muss. Ein Fin­ger sei­ner Hand fehl­te, glau­be ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich mei­ne gespürt zu haben, dass etwas fehl­te, sein fes­ter Hän­de­druck, und als ich nach­se­hen woll­te, hat­te Feli­pe sei­ne Hand eilig hin­ter dem Rücken ver­steckt. Ich frag­te ihn, wo er gebo­ren wur­de, er ant­wor­te­te mit einem Namen, der sehr schön in mei­nen Ohren klang, einen spa­ni­schen Namen. Er wohn­te in die­ser Stadt sein Leben lang. Fünf­zig Jah­re arbei­te­te er in einer Fabrik, in wel­cher Papie­re erzeugt wur­den, die in der Lage waren, Strom zu lei­ten. Man mach­te aus die­sem merk­wür­di­gen Papie­ren zum Bei­spiel Bücher, die sich in küh­ler Luft erwärm­ten. Beim Schnei­den der Papier­bö­gen könn­te das mit dem Fin­ger pas­siert sein vor lan­ger Zeit, als Camil­la noch nicht in sei­nem Leben gewe­sen war. Wie Feli­pe von Camil­la erzähl­te, leuch­te­ten sei­ne Augen, er ist doch ein groß­ar­ti­ger Erzäh­ler. Dass sie ihn trotz sei­nes feh­len­den Fin­gers lieb­te, erzähl­te er nicht, aber dass sie ein wenig grö­ßer war als er selbst, und dass sie über sehr schö­ne Ohren ver­füg­te, die wackel­ten wenn sie lach­te. Mit dem Alter wur­de Camil­la klei­ner. Weil auch Feli­pe klei­ner wur­de, änder­te sich nichts dar­an, dass sie grö­ßer war. Wie ich ihn so sah, neben sei­nem Kof­fer sit­zend im schau­keln­den Bus, dach­te ich dar­an, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Men­schen sich damit abfin­den müs­sen, dass Fin­ger für immer ver­schwin­den, oder Camil­la mit ihren beben­den Ohren. — stop

polaroidwindows

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radare

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kili­man­dscha­ro : 4.18 — Wie nach der Mel­dung eines Ter­ror­an­schla­ges Men­schen damit begin­nen, ihre Umge­bung abzu­su­chen nach Ver­däch­ti­gem. M., der in Mit­tel­eu­ro­pa lebt, erin­ner­te sich an L., der mor­gens im Zug auf dem Weg nach Hau­se im Koran gele­sen hat­te. Das war ein sehr klei­nes Buch gewe­sen, ein Buch wie aus einer Match­box, eine Art Miniko­ran oder etwas Ähn­li­ches. L., die vor lan­ger Zeit ihre Geburts­stadt in Sibi­ri­en ver­liess, befin­det sich seit Wochen in einem beben­den Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürch­te. Ihre Mut­ter arbei­te in einer Biblio­thek der Hafen­stadt Odes­sa. L. sagt, sie ver­mei­de in der Öffent­lich­keit laut die rus­si­sche Spra­che zu spre­chen, auch mit der deut­schen Spra­che gehe sie vor­sich­ti­ger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten kom­me. Ein ira­ni­scher Freund, Z., der aus sei­nem Land flüch­te­te, um nicht in den Krieg gegen den Irak zie­hen zu müs­sen, berich­tet, er sor­ge sich um oder wegen der schla­fen­den, stau­bi­gen Män­ner am Flug­ha­fen, die auf ihre Flü­ge war­te­ten zurück nach Buka­rest oder Sofia. — stop

ping

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ai : CHINA

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MENSCH IN GEFAHR : “Der bekann­te tibe­ti­sche Mönch Kar­ma Tse­wang wur­de am 6. Dezem­ber 2013 in Cheng­du im Süd­wes­ten Chi­nas unter dem Vor­wurf der “Gefähr­dung der Staats­si­cher­heit” inhaf­tiert. Sech­zehn sei­ner Unter­stüt­zer wur­den, als sie sei­ne Frei­las­sung for­der­ten, eben­falls fest­ge­nom­men. Den Mön­chen wur­de kein Zugang zu Rechts­bei­stän­den gewährt. Es besteht die Gefahr, dass sie gefol­tert wer­den. / Kar­ma Tse­wang ist der hoch­an­ge­se­he­ne Abt (Khen­po) des Klos­ters Gon­gya in der Auto­no­men Tibe­ti­schen Prä­fek­tur Yus­hu, Pro­vinz Qing­hai. Er wur­de am 6. Dezem­ber wäh­rend einer Geschäfts­rei­se in Cheng­du, Pro­vinz Sichu­an, von Sicher­heits­kräf­ten aus Chang­du (Cham­do, Auto­no­me Tibe­ti­sche Prä­fek­tur) fest­ge­nom­men. Laut sei­nes Anwalts Tang Tian­hao wird er wegen des Ver­dachts der “Gefähr­dung der Staats­si­cher­heit” fest­ge­hal­ten; genaue­res wur­de noch nicht bestä­tigt. Momen­tan befin­det er sich an einem unbe­kann­ten Ort in Chang­du in Haft. / Nach Kar­ma Tse­wangs Inhaf­tie­rung unter­schrie­ben 4.000 Men­schen, unter ihnen tibe­ti­sche Mön­che, eine Peti­ti­on, um sei­ne Frei­las­sung zu for­dern. Am 10. Dezem­ber nah­men mehr als 600 Men­schen, dar­un­ter Mön­che aus dem Klos­ter von Gon­gya, in Nang­qi­an an einer zwei­stün­di­gen Demons­tra­ti­on teil. Sie hiel­ten Trans­pa­ren­te mit Fotos von Kar­ma Tse­wang hoch, rie­fen Paro­len und ver­lang­ten sei­ne Frei­las­sung. Sicher­heits­kräf­te aus dem Bezirk Nang­qi­an bedroh­ten die an der Demons­tra­ti­on betei­lig­ten Mön­che und warn­ten sie, Kar­ma Tse­wang wer­de noch schwe­rer bestraft, falls sie ihre Pro­tes­te nicht ein­stell­ten. Am 20. und 21. Dezem­ber wur­den 16 Mön­che fest­ge­nom­men, obwohl sie die Demons­tra­ti­on am 10. Dezem­ber been­det hat­ten. / Am 23. Dezem­ber begab sich Kar­ma Tse­wangs Anwalt nach Chang­du, um sei­nen Man­dan­ten zu besu­chen. Doch die ört­li­che Poli­zei hin­der­te ihn dar­an, den Mönch zu tref­fen. Sicher­heits­kräf­te des Bezirks Nang­qi­an droh­ten den Fami­li­en von Kar­ma Tse­wang und den 16 ande­ren inhaf­tier­ten Mön­chen, sie eben­falls in Haft zu neh­men, wenn sie sich Rechts­bei­stän­de suchen soll­ten. / Kar­ma Tse­wang ist unter Tibe­te­rIn­nen auf­grund sei­ner Arbeit für die För­de­rung der tibe­ti­schen Spra­che und Kul­tur sehr bekannt. Er enga­giert sich zudem in der Kata­stro­phen­hil­fe, bei­spiels­wei­se nach dem Erd­be­ben in Yus­hu in der Pro­vinz Qing­hai im Jah­re 2010, bei dem über 2.000 Men­schen ums Leben kamen.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 19. Febru­ar 2014 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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murphy

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india : 5.01 — Um 2 Uhr nachts sit­zen plötz­lich hun­der­te Flie­gen an den Fens­tern. Beben­de Flü­gel, hel­le, fast wei­ße Kör­per. Unter ihren Füßen das Licht eines künst­li­chen Tages, hin­ter ihren Rücken Gewit­ter­blit­ze. Indes­sen brum­men drei Mari­en­kä­fer durchs Zim­mer. Beob­ach­te­te Becketts absur­de Schach­par­tie, die in sei­nem Roman Mur­phy zu fin­den ist. Unge­üb­te Augen könn­ten irren: e4 Ng8h6 2. Ng1h3 Rh8g8 3. Rh1g1 Nb8c6 4. Nb1c3 Nc6e5 5. Nc3d5 Rg8h8 6. Rg1h1 Ne5c6 7. Nd5c3 Nh6g8 8. Nc3b1 Nc6b8 9. Nh3g1 e6 10. g3 Ng8e7 11. Ng1e2 Ne7g6 12. g4 Bf8e7 13. Ne2g3 d6 14. Bf1e2 Qd8d7 15. d3 Ke8d8 16. Qd1d2 Qd7e8 17. Ke1d1 Nb8d7 18. Nb1c3 Ra8b8 19. Ra1b1 Nd7b6 20. Nc3a4 Bc8d7 21. b3 Rh8g8 22. Rh1g1 Kd8c8 23. Bc1b2 Qe8f8 24. Kd1c1 Bd7e8 25. Bb2c Ng6h8 26. b4 Be7d8 27. Qd2h6 Nb6a8 28. Qh6f6 Nh8g6 29. Bc3e5 Bd8e7 30. Na4c5 Kc8d8 31. Ng3h1 Be8d7 32. Kc1b2 Rg8h8 33. Kb2b3 Bd7c8 34. Kb3a4 Qf8e8 35. Ka4a5 Na8b6 36. Be5f4 Nb6d7 37. Qf6c3 Rb8a8 38. Nc5a6 Be7f8 39. Ka5b5 Ng6e7 40. Kb5a5 Nd7b8 41. Qc3cNe7g8 42. Ka5b5 Kd8e7 43. Kb5a5 Qe8d8 — stop

polaroidcentral

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ein zeppelinkäfer

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echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrif­ten­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler Wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1.5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein sehr klei­nes Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Es ist Frei­tag! Guten Mor­gen! — stop / fürs marie­chen

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ein gewehr für kinder

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del­ta : 6.16 — Irgend­wann ein­mal muss ich davon gehört haben, dass es in Ame­ri­ka mög­lich ist, Geweh­re für Kin­der zu kau­fen. Die­se Geweh­re sind ihrer Gestalt nach den Geweh­ren der Erwach­se­nen äußerst ähn­lich, aber sie sind klei­ner und bon­bon­far­big und ver­mut­lich auch leich­ter. Das Selt­sa­me ist, dass die­se Kin­der­ge­weh­re eben­so wir­kungs­voll sind, wie die Geweh­re der Erwach­se­nen. Wenn ein Kind mit einem Kin­der­ge­wehr einen Schuss auf ein ande­res Kind abfeu­ern will, zum Bei­spiel auf des­sen Kopf, oder ver­se­hent­lich ein Schuss sich lösen soll­te, wird das schie­ßen­de Kind bemer­ken, dass das beschos­se­ne Kind zu Boden fällt und hef­tig blu­tet, ver­mut­lich aus einem Loch, das sehr plötz­lich in sei­ner Schä­del­de­cke ent­stan­den ist. Es liegt dann bebend ein­fach so da auf dem Tep­pich eines Zim­mers oder im Gar­ten unter einer blü­hen­den Magno­lie oder auf einer Stra­ße, die von wein­ro­ten Blät­tern bedeckt ist, weil der töd­li­che Schuss zur Herbst­zeit abge­feu­ert wur­de. Ver­wun­dert, viel­leicht schon wei­nend, wird das Kind, das die Fol­gen des Schus­ses betrach­te­te, in die Küche oder ins Schlaf­zim­mer stür­men, wo die Mut­ter einer­seits schläft oder ande­rer­seits gera­de das Mit­tag­essen zube­rei­tet. Viel­leicht hat die Mut­ter den Schuss selbst gehört und kommt ihrem bit­te­ren Kind ent­ge­gen, bei­de haben ihre Augen weit geöff­net. Das Kind, das an den Bauch der Mut­ter stürmt, will ver­mut­lich getrös­tet wer­den, es ist ja noch nicht ein­mal zehn Jah­re alt, es braucht die­sen Trost sehr sicher, weil das ande­re Kind nicht wie­der auf­ste­hen will, weil das gefal­le­ne Kind in einer Wei­se blu­tet, die nicht üblich ist. Wie dann die Mut­ter ihrem wei­nen­den Kin­de fol­gen wird, wie bei­de den Ort des Gesche­hens errei­chen, wie die Mut­ter zu Boden sinkt, wie sie weint und klagt, wie sie mit zit­tern­den Hän­den den schwer ver­sehr­ten Lei­chen­kör­per betas­tet, wie sie den Him­mel anruft, wie sie selbst kaum noch atmet, hin­ter ihr ste­hend das über­le­ben­de Kind, das die gelieb­te Mut­ter beob­ach­tet. Wie es jetzt zögernd näher kommt, ganz lei­se, weil es um Him­mels­wil­len die Repa­ra­tur­ar­bei­ten der Mut­ter nicht stö­ren will. – stop

polaroidfiguren

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schnee

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alpha

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : SCHNEE
date : dec 2 12 0.15 p.m.

Über Nacht ist Schnee gefal­len. Ein har­ter, böiger Wind fegt vom East River her durch die Stra­ßen in den Park. Wir sind die ers­ten Spa­zier­gän­ger heu­te Mor­gen. Es ist bei­na­he still in der Däm­me­rung. Weit­hin sehen wir hin­ter uns unse­re eige­ne Spur auf dem Weg, den wir nord­wärts gehen. Immer wie­der blei­ben wir ste­hen, um nach Fran­kie zu sehen. Er scheint sich wohl­zu­füh­len, man könn­te sagen, dass es sich bei die­sem Eich­hörn­chen um einen Schnee­tau­cher han­deln könn­te. Für Minu­ten ist nichts von ihm zu sehen, aber dann plötz­lich sein Kopf, der aus dem Schnee ragt, er schüt­telt sich, sei­ne Ohren beben, ja, Fran­kie scheint glück­lich zu sein in die­ser neu­en wei­ßen Welt. Auch Möwen sind in den Cen­tral Park gekom­men. Sie hocken auf Sitz­bän­ken und Mau­ern, ich glau­be, sie haben es auf Zwer­ge wie Fran­kie abge­se­hen, denk­bar, dass sie den Schnee als Gewäs­ser betrach­ten und jene Tie­re, die sich für einen kur­zen Moment an der Ober­flä­che zei­gen, für Fische, die sie jagen müs­sen. Es sind gro­ße Vögel, gel­be Augen, rie­si­ge Schnä­bel, die uns heu­te Mor­gen tat­säch­lich Sor­ge berei­ten, sie könn­ten Fran­kie erle­gen und mit ihm aufs Meer hin­aus­flie­gen, mit all sei­nen Sen­so­ren, die uns dann nicht wei­ter­hel­fen wer­den. Wann wer­den Sie uns besu­chen, Mr. Lou­is? Wir hof­fen noch in die­sem Win­ter! Ein­mal Fran­kie mit eige­nen Augen betrach­ten, nicht wahr! Schnell ist er gewor­den. In der kom­men­den Woche wol­len wir zum ers­ten Mal erpro­ben, ob wir in der Lage sind, ihn mit unse­rer Fern­steue­rung beein­flus­sen zu kön­nen. Wir haben vor, Fran­kie in Krei­sen durch den Park lau­fen zu las­sen. – Aller­bes­te Grü­ße sen­det ihn Mal­colm / code­wort : hillarystep

emp­fan­gen am
03.12.2012
1630 zeichen

mal­colm to louis »

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