romeo : 3.12 UTC — Nabokov schrieb vor langer Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Wenige Wochen später erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Eine erste Uhr Nabokovs lag kurz darauf im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Nun, in diesem seltsamen Mai, habe ich eine weitere Uhr von Nabokov erhalten. Zollamtlicher Vermerk, derselbe. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war wiederum nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen dieses Mal eine Schachtel von rotem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, rechteckiges Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt auch dieser Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte das Gehäuse der Uhr zu öffnen, erneut vergeblich. Wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, öffnet sich am Uhrboden ein schmaler Schacht, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist: Achtzehnzwölf. — Es ist Nacht geworden. Ich liege im Halbschlaf auf dem Sofa. Meine Schreibmaschine atmet leise, ein beständiges Fauchen. Seit einigen Tagen arbeitet sie auch während ich schlafe, rechnet vor sich hin für ein besonderes Projekt: Rosetta@home — stop
Aus der Wörtersammlung: boden
polio
echo : 15.08 UTC — Nach Alkohol bitter duftende Wolke, Erinnerung einer Turnhalle mit hölzernem Boden, vor Kletterseilen Tische, hinter welchen Lehrer hockten. Sie führten Namenslisten, und jene weiteren Personen in weißen Kitteln, die nicht bekannt gewesen waren, bereiteten den Impfstoff vor, der uns, wir waren Kinder, vor Polio schützen sollte, vor der Lähmung unserer Beine, unserer Arme, vor eisernen Lungen und vor den schrecklichen Krücken aus Metall oder Holz. Ich erinnere mich an einen dunkelbraun gefärbten Tropfen, der auf einen Zuckerwürfel fällt. Wir albern herum, eine wogende, kichernde Schlange von Kindern in Sommerkleidchen und Sommerhosen. Sehr ernst, der Moment, da sich der Löffel nähert. Zucker. Bitter. Süß. Das Schlucken. Es war kurz vor der Zeit der Kartoffelfeuer. Gestorben ist damals niemand, nicht an Polio. Heute, da ich beginne Phillip Roth Roman Nemesis zu lesen, war dieses seltsames Wort meiner Kindheit wieder gegenwärtig geworden. — stop
missing flamingos
sierra : 22.58 — Sanfte Frauenstimme spricht: Achtung! Halten Sie 1 Meter 50 Abstand. Meiden Sie Menschenansammlungen! In der Halle, indessen kein Mensch zu sehen, kein Koffer, kein Hund, keine Katze, aber Mäuse, ein gutes Dutzend Mäuse, die über den spiegelnden Marmorboden flitzten, als hätten sie Schlittschuhe an ihren Füßen. Ich war die einzige menschliche Person an einem Ort, der vermutlich nie ohne Menschen gewesen ist. Ich erinnere mich, selbst inmitten der Nacht habe ich im Terminal immerzu flüsternde Menschen wahrgenommen, auch Schlafende auf Sitzbänken oder Stühlen der Cafés. Nun war Stille, kein Traum wurde erzählt. Selten einmal das Geräusch sich bewegender Zeichen auf einer Anzeigetafel. Aus Neuseeland kommend sollte Minuten später ein Flugzeug landen, ein Hinweis wie ein letzter Reflex. Jene über den spiegelnden Boden dahingleitenden Mäuse jedoch, unbeirrt, ob sie sich wunderten über diese eine wartende Person im Saal, die ich selbst gewesen war in einem Moment des Notierens auf meiner flachen Schreibmaschine? Wie ich sie vermisste, Stehschläfer, meine Stehschläfer, welche nicht Vögel sind, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer, die Menschen sind, gegenwärtige Personen, die sich, sollten sie einmal zurückkehren, genau so verhalten werden, wie das Wort, das sie bezeichnet: Sie schlafen im Stehen. — stop
mundsegel
alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau, wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf dem Boden ab und flüchtete. — Das ist doch seltsam, dachte ich heute bald sechs Jahre später. Dieser Text wurde bereits am 14. Oktober 2014 von mir selbst notiert. Ich hatte ihn verlegt. Das papierene Segel erinnerte mich. — stop
zwei wale
marimba : 12.01 UTC — An einem nebligen Abend fuhr ich mit einem Fährschiff nach Staten Island. Ich ging eine Stunde spazieren, kaufte etwas Brot und Käse, dann wartete ich in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Einige Kinder spielten vor einem mächtigen Aquarium, sie tollten um den Glasbehälter herum. Plötzlich blieb eines der Kinder stehen, aufgeregt deutete es zum Aquarium hin. Weitere Kinder näherten sich. Sie schienen begeistert zu sein. Ich schlenderte zu ihnen hinüber, stellte mich neben sie. Da war etwas Erstaunliches zu sehen, da waren nämlich Elefanten im glasklaren Wasser, sie wanderten auf dem sandigen Boden des Aquariums in einer Reihe von Westen nach Osten. Ihre meterlangen Rüssel hatten sie zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das handwarme Glas des Wassergeheges legte. Auch Geräusche, wie ich sie von Mikrofonen kenne, die Walgesänge nahe Grönland aufgezeichnet hatten. Wie ich zur Oberfläche des Wassers hin blickte, entdeckte ich zwei Wale, die durch das Wasser schwebten, sie waren je groß wie eine Faust und stießen etwas Luft aus von Zeit zu Zeit, wie man das von wilden Walen kennt, die so groß sind, dass wir über sie staunen. Manchmal tauchten die kleinen Wale zu den Elefantentieren hin, behutsam näherten sie und schauten sich interessiert unter den Wandernden um, man schien sich natürlich zu kennen. — Ich konnte nicht schlafen. Noch in derselben Nacht fuhr ich nach Manhattan zurück. Ich machte einen Textentwurf für eine Zeitung, obwohl ich noch keine wirkliche Ahnung hatte, wie von den Zwergwalen zu erzählen sei. Ich notierte: Man möchte vielleicht meinen, bei der Gattung der Zwergwale handele es sich um Wale, die dem Wortlaut nach kleiner sind, als ihre doch großen Verwandten, Pottwale oder Grönlandwale, sagen wir, oder Blauwale. Nun sind sie bei genauerer Betrachtung wirklich winzig, nur 8 cm in der Länge. Als man sie in einer künstlich erzeugten Gebärmutter, ebenfalls winzig, heranwachsen ließ, glaubte im Grunde niemand, dass sie lebend zur Welt kommen würden. Plötzlich waren sie da, und verschwanden zunächst in einem Aquarium, das für sehr viel größere Fischwesen angelegt worden war. Nun waren die Wale zu klein, sie verloren sich in den Weiten des Beckens. Man legte zierliche Behälter an, versorgte sie mit Meereswasser, kühlte die Gewässer, sorgte für Wind und Wellen, selbst an Eisberge wurde gedacht, Eis von der Höhe eines menschlichen Fingers, die dort in der künstlichen Naturumgebung einfach so vom Himmel fielen. Jetzt konnte man sie gut sehen, aus der Nähe betrachten. Es waren zunächst drei Wale, sie existierten zwei Jahre, ehe man über eine Ausstellung, demzufolge über ihre Veröffentlichung diskutierte. Bislang hatte man gesagt: Wir dementieren und wir bestätigen nicht. So viel sei bemerkt: Diese winzigen Wale ernähren sich von Plankton, sie lieben Meereswalnüsse, sie tauchen oft stundenlang. Auch wurden Sprünge beobachtet, aber nur selten und nur bei Nachtlicht. Derzeit leben noch zwei kleinen Wale, der Dritte wurde zwecks Erforschung geöffnet.
nahe uummannaq
marimba : 16.11 UTC — Gestern ist mir etwas Lustiges mit mir selbst passiert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde. Der vorgestellte Eisbär sollte ein ernst zu nehmender Eisbär sein, ungefähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf seine Hinterbeine stellt. Ich stand also in meinem Zimmer und überlegte, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde, der gerade noch unter meiner Zimmerdecke Platz finden würde. Plötzlich saß ich auf dem Boden und fand diese Haltung angesichts eines Polarbären in meinem Zimmer sehr angemessen. Kurz darauf wurde ich gefressen. Ich meine mich erinnern zu können, der Bär begann mit der Schulter, meiner rechten. — stop
auf dem ahornboden
von zeichenfühlern
delta : 7.16 UTC — Ich träumte einen Mann, der in einer staubigen Stadt auf einem Schemel vor einer Schreibmaschine hockte. Der Mann schien zu warten, mit geschlossenen Augen oder schlief. Sobald sich jemand näherte und sich vor den Mann hin auf einen weiteren Schemel setzte, hob der Mann die Schreibmaschine vom Boden auf und setze sie auf seinen Oberschenkel ab, dann lauschte er. Nach wenigen Sekunden hob er eine Hand, um eine Sprechpause zu bewirken. Es war eine mächtige Geste, die Vögel hörten auf zu singen, und der Wind und die Automobile schwiegen. In dieser Stille, die ihm persönlich zu gehören schien, begann er unverzüglich die Tasten seiner Schreibmaschine mit winzigen, runden Papieren zu bekleben, zeichnete sodann mit roter Farbe Zeichen auf die Papiere, um kurz darauf mit einer zarten Handbewegung, den vor ihm Wartenden zu ermuntern, weiterzusprechen. Vorsichtig tippte er nun Zeichen um Zeichen in die Tasten, sie waren von zahllosen Papieren derart erhöht, dass sie wie Fühler eines Schreibmaschinentieres wirkten, die mit jeder Berührung einer der Tasten federnd sich hin und her und auf und ab bewegten. — stop
bauci
tango : 10.28 UTC — Regen gestern, ein Regen, der sprühte, beinahe Nebel. Ich spazierte im Park. Kaum ein Mensch war unterwegs im Park, von dem ich nicht erzählen darf, wo er sich präzise befindet, damit niemand sagen kann, wo präzise ich selbst mich befinde. Ich hatte mir einen Regenschirm gekauft für Regenzeit, einen, den ich auch als Schneeschirm verwenden könnte, einen robusten Schirm, etwas größer im Umfang, als gewöhnliche Schirme, einen Schirm, der bewirkt, dass es schneien wird, sobald man ihn zur rechten Zeit hervorholen wird. Ich spazierte also und las in Italo Calvinos Sammlung der unsichtbaren Städte. Bald stellte ich mir vor, wie ich in diesem Moment des Lesens nach sieben Tagen Fußmarsches durch ausgedehnte Wälder eine Stadt erreiche, die ich nicht sehen kann, Bauci, aber ihre dünnen Stelzen, die sich in großen Abständen von der Erde erheben und über den Wolken verlieren, (sie) tragen die Stadt. Man gelangt mit Leitern hinauf. / Auf der Erde erscheinen die Einwohner selten. Sie haben schon alles Notwendige oben, und kommen lieber nicht herunter. Nichts von der Stadt berührt den Boden, ausgenommen diese langen Flamingobeine, auf denen sie ruht, und an hellen Tagen ein durchbrochener, eckiger Schatten, der sich auf dem Blätterwerk abzeichnet. / Drei Hypothesen stellt man über die Einwohner von Bauci auf, dass sie Erde hassen, dass sie einen solchen Respekt vor ihr haben, jede Berührung zu meiden, dass sie sie lieben, wie sie vor Ihnen gewesen, und nicht müde werden, sie mit abwärts gerichteten Ferngläsern und Teleskopen Blatt für Blatt, Stein um Stein, Ameise um Ameise zu mustern, und fasziniert ihre eigene Abwesenheit zu betrachten. — stop / aus: Italo Calvino Die unsichtbaren Städte, Frankfurt 20134
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen, unter dem klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop