delta : 0.02 — Immer wieder bemerkenswert in der Dämmerung: Der synchrone Auftritt korpulenter Netzspinnen. Von einem Augenblick zum nächsten, sitzen sie im Dutzend in der Meeresluft auf Vornachtgespinsten, um unverzüglich Reparaturarbeiten aufzunehmen. Fast möchte man meinen, sie wären in ihren Tagesverstecken mittels geheimer Signalleitungen miteinander verbunden, so plötzlich tauchen sie in der Dunkelheit auf, lautlos, ohne Geruch, verweben sie Fäden von staubigem Licht. Ich habe den Verdacht, sie könnten, mit sensibelsten optischen Sensoren ausgerüstet, in der Lage sein, feinste Grade von Lichtstärke zu messen. Ich dachte, eine Art der Dauerbeleuchtung, Mitternachtssonne über Manhattan, könnte sie mürbe machen. — stop
Aus der Wörtersammlung: dunkelheit
vor schnee
marimba : 6.18 – Ein Zoologe, L., mit dem ich gestern am späten Abend telefonierte, erzählte von einer Reise nach Grönland im vergangenen Frühling. Er sei eingeladen gewesen an der Besichtigung eines schlafenden Wales teilzunehmen, der in einer tiefen Bucht vor Oqaatsut senkrecht mit dem Kopf nach oben im kalten Wasser schwebte. Ein großartiger Anblick, dieser mächtige Körper umschwärmt von Seehunden, die unter gleichermaßen neugierigen Fischen wilderten. Von der nautischen Gesellschaft der Universität Oslo seien mehrere Kameras eingesetzt gewesen, die den Wal Zentimeter für Zentimeter untersuchten. Erste Hinweise deuteten auf eine möglicherweise noch unbekannte Spezies hin. Man sei am zweiten Tage der Untersuchung behutsam mittels eines Köper-U-Bootes in das Innere des Wals vorgedrungen, habe in die Dunkelheit des Magens geleuchtet, um dort zwei sehr alte Kämme von Elfenbein vorzufinden, ein Kofferradio, drei Rettungsringe ohne Beschriftung, einen Peilsender, sowie fünf Bücher, die merkwürdigerweise von wasserfester Substanz gewesen seien. Am kommenden Sonntag, so L., reise er nach Oqaatsut zurück, der Wal schlafe noch immer, er habe indessen kaum an Körpermasse verloren, was höchst erstaunlich sei. – Freitag. Früher Morgen. Die Luft duftet nach Schnee. – stop
lichtzeituhr
echo : 3.18 — Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
von eichhörnchen
tango : 8.12 — Vor wenigen Tagen hörte ich am Telefon, ein Freund sei wegen eines Postings auf Position Facebook bedroht worden, das war eine Drohung gegen Leib und Leben. Er hatte sich einem Pegida-Fan gegenüber kritisch geäußert, darauf folgende öffentliche Unterhaltungen eskalierten. Mein Freund bemühte sich zunächst, Spuren im Internet, die zu seinem Wohnort führen könnten, zu löschen, eine schwierige Arbeit, sehr viele Spuren waren zu notieren und jede einzelne für sich bedeutete bittende oder fordernde Kommunikation über Eingabemasken mit entsprechenden Webseiten oder Institutionen. Seit zwei Wochen trainiert er Möglichkeiten, sich eines körperlichen Angriffes zu erwehren, nach Einbruch der Dunkelheit verlässt er das Haus durch einen Hintereingang, die Straße vor dem Haus wird von ihm beobachtet, weshalb er zum ersten Mal entdeckte, dass in den Bäumen jenseits der Straße zwei Eichhörnchen wohnen. Heute ist Donnerstag. — stop
von schlafenden händen
nordpol : 2.32 — Der Fotograf Raymond C. erzählte folgende Geschichte. Er habe einige Wochen auf Fährschiffen gearbeitet, die unentwegt seit über einem Jahrhundert zwischen den Inseln Manhattan und Staten Island pendeln. Während der ersten Woche seiner Schiffreise habe er versucht, in der Dunkelheit die Silhouette Brooklyns zu fotografieren, das sei keine leichte Sache gewesen: Du musst Dir vorstellen, diese schönen orangenfarbenen Schiffe liegen zwar schwer im Wasser, und doch taumeln sie seitwärts und auf und ab dahin. Ich habe nach einigen Tagen bereits aufgegeben, richtete mein Objektiv nun gegen das Wasser, fotografierte Treibgut in nächster Nähe, das mit dem Hudson River stromabwärts reiste. Wenn du lange Zeit durch den Sucher deiner Kamera ins Wasser blickst, wirst du dich über Regenschirme, Kinderwagen, Autoreifen, Matratzen nicht länger wundern, es ist so, als gehörten sie wie kleinere und größere Seevögel natürlicherweise in den Fluss. Ich habe Flaschen portraitiert, tote Katzen, Schaufensterpuppen, man muss gut aufpassen, rechtzeitig auf den Auslöser drücken, die Schiffe fahren schnell, einmal sei ein Mann über Bord gesprungen. An einem Juniabend, fuhr Raymond fort, habe er sich nach erfolgreicher Arbeit müde auf eine Bank des Promenadendecks der John F. Kennedy gesetzt, er sei dort für einen Augenblick eingeschlafen und habe in diesem Moment des Schlafens mit der Fotokamera in der rechten Hand ohne Vorsatz seine linke, also seine schlafende Hand fotografiert. Raymond entdeckte diese so seltene wie unerwartete Aufnahme, während er in der Metro heimwärts fuhr. Nachts, in seinem Ateliers in Queens, habe er sich dann an seinen Küchentisch gesetzt, habe seine Kamera auf ein Stativ geschraubt und über der Tischplatte in Stellung gebracht. — stop
von zeppelinkäfern
marimba : 2.28 — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. Das war gegen 2 Uhr gewesen. Ich beobachtete aus mehreren Metern Entfernung wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag bei großer Hitze. — stop
sommernacht
delta : 4.15 – In der vergangenen Nacht habe ich wieder einmal das Käferwerfen geübt. Angenehme Stunden. Benny Goodman Live at Carnegie Hall. Folgende Käfer habe ich aus dem Fenster geworfen: 1 blauen Spitzmausrüsselkäfer gegen Mitternacht, 4 Marienkäfer von 1 Uhr bis 2 Uhr, 1 seidigen Glanzrüssler um kurz nach 3, gegen 4 Uhr dann 1 scharlachroten Feuerkäfer. Jedweder aus dem Fenster geworfene Käfer war sofort wieder zu mir zurückgekehrt, entweder weil er ein weiteres Mal in die Luft geworfen werden wollte oder weil das Licht von meinen Zimmern her so schön warm in der Dunkelheit leuchtete. – stop
ein alter mann
sierra : 4.03 — Auf dem Meer irgendwo. Muss Nacht sein, kaum Licht. Die Luft ist feucht und warm, ich bin nicht im Wasser, könnte sein, dass ich fliege, ein Brummen oder Summen ist zu hören. Bienen sind in der Luft, umkreisen ein Schiff, tausende Fingerluken im Rumpf, dort fliegen Bienenwesen ein und aus. Manche kommen aus der Dunkelheit heran, andere fliegen in die Dunkelheit davon. Ihre Köpfe leuchten, sie scheinen über Lampen zu verfügen, Finger von Licht, die durch die Dunkelheit zittern. Was da summt, Propeller vielleicht. Ich mag nicht schwimmen, denke immer wieder, ich will nicht ins Wasser fallen. Dann bin ich plötzlich in einer Wohnung im 12. oder 14. Stock eines Hauses nahe Central Park, auch hier Propellerbienen. Ich stehe nahe eines Fensters, lehne an einer Wand. Ich glaube, ich selbst habe das Fenster geöffnet. Im Zimmer lungern Stühle herum, auf dem hölzernen Boden eine Linie von blauer Farbe, sie kommt aus einem weiteren Zimmer, führt durch das Zimmer in dem ich warte, in ein anderes Zimmer. Atemgeräusche. Ein alter Mann, weiße Haut, kommt heran, läuft auf der blauen Linie, er ist unbekleidet, trägt nur ein Paar Turnschuhe. Der Mann herrscht mich an, ich solle das Fenster schließen. Auch um seinen Kopf herum Bienen, ein Schwarm, sie wollen auf ihm landen, dann lange Zeit Ruhe, Sirenenlaute, dann wieder das Geräusch des Atems, das näher kommt. Aufgewacht bin ich gegen zwei. — stop
bumerangkäfer no 2
echo : 3.01 — Heute Nacht erlebte ich ein lustiges Déjà-vu. Das war ungefähr so gewesen, dass ich in dem Moment des Déjà-vus gerade bei geöffneten Fenstern Schiffe beobachtete, die auf meinem Bildschirm durch einen weit entfernten Hafen pendelten in echter Zeit. Es war kurz nach zwei Uhr, da landete ein Marienkäfer auf meiner linken Wange. Ich konnte mich, wie schon im vergangenen Jahr, nicht entscheiden, ob das vielleicht ein Zufall gewesen war. Indem ich das rechte Auge schloss, aber mit dem linken Auge soweit wie möglich nach unten sah, konnte ich die halbkugelförmige Wölbung seines Rückens erkennen. Und ich spürte eine leichte Bewegung, der Käfer schien mich zu betasten. Natürlich überlegte ich sofort, ob es sich bei diesem Käfer nicht um ein ferngesteuertes Wesen handeln könnte, das mich besuchte, um Proben von meiner Körperoberfläche aufzunehmen. Nach einigen Minuten veränderte der Käfer seine Position, er ging zu Fuß, kletterte an mir herab, saß für einige Minuten an meinem Hals, dort konnte ich ihn weder sehen noch spüren, um kurze Zeit später auf meinem Hemd zu erscheinen, wo er sich sehr wohlgefühlt haben mochte, weil er dort eine gute Stunde seiner Lebenszeit verbrachte. Vielleicht hatte der Käfer geschlafen, oder sich von Strapazen erholt, die mir unbekannt. In diesem Moment nun, da ich meinen Text notiere, sitzt der in Wörtern vermerkte Käfer am linken unteren Rand des Bildschirmes meiner Schreibmaschine. Er presst sich fest an das Gehäuse. Weitere Käfer sitzen an den Wänden, es sind ein gutes Dutzend, auch Käfer mit gelbem Gehäuse sind darunter. Gestern habe ich beobachtet, dass gelbfarbene Käfer mit vierundzwanzig Punkten, wenn ich sie behutsam in eine meiner Hände setze und in die Dunkelheit werfe, sofort wieder zurückkommen. Man könnte sagen, dass es sich bei dieser Art um Bumerangkäfer handeln könnte. In diesem Jahr tragen sie Streifen. — stop
bohumil hrabal
tango : 6.56 — Ich beobachte meinen Fernsehbildschirm. Er ist so flach, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von Kriegsvorbereitungen, von chirurgischen, begrenzten Luftschlägen erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Wirklich, wahrhaftig ist dieses seltsame, schmerzende Gefühl, das ich bei dem Gedanken empfinde, man könnte die Armee des Diktators Baschar al-Assad bombardieren, seine Flughäfen, seine Flugzeuge, Raketen. Es ist ein zufriedenes, zustimmendes Gefühl, ein Reflex, wie ich so in meiner friedlichen, sicheren Wohnung sitze, eine Tasse Kaffee in der Hand. Bald wandere ich in die Küche und brate mir einen Fisch, eine kleine Dorade. Ich höre die Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Vögel fliegen vorüber. Auf der Scheibe eines Fensters sitzt ein Marienkäfer und nascht von den Resten einer Wespe, die ich einen Tag zuvor tötete, weil sie sich in der Dunkelheit meinem Bett näherte. — stop