sierra : 15.12 UTC — In der vergangenen Woche lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Aquariumzimmer . Audiacity . Bodymind . Bienenschwarmmaschine . Boosterimpfung . Spieldosensammlung . Selberdenken . Taucherhandzeichen . Taschkent . Tagmensch . Rüsselrosen . Sandwellenwinde . Schlafduft . Parabelbahn . Nashornkäfer . Nachtstraßenmuseum . Nomadland . Notknopfseile . Makitage . Lichtfangmaschine . Lichtenbergfalter . Instanzname . Holzstegfeder . Kiemenmädchen . iMovie . Itinerar . Höhlenachtbild . Kuppelwerk . Flamingobeine . Feneon . Geisterflotte . Emotionsregulation . Erzählräume . Dronenkamera . Fakekinderwagen . Dauerschlafen . Drohnenleuchten. — stop
Aus der Wörtersammlung: elle
irgendwo nahe mariupol
delta : 14.32 UTC — Auf Luftbildfotografien dieses Winters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein dieses menschliche Wesen. Oder doch vielleicht sichtbar im Sommer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Garten Himbeeren pflückt. Es ist ein wilder Garten geworden, weil Olga den Gewächsen ihres Gartens nicht länger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er ruht im Wohnzimmer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in diesem Winter, 8 Jahre jünger, war das mit dem Gehen bereits schwer geworden, weil er von einem Splitter harten Holzes in die Hüfte getroffen worden war, als eine Granate in einem Februar im Garten des Nachbarn explodierte. Der Nachbar lag drei Tage reglos auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr lebte. Dann hörte der Krieg auf. Nein, der Krieg entfernte sich, war jedoch nah genug geblieben, dass man ihn hören konnte und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fenster hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Keller gestiegen ist. Sehr steile Treppe. Es ist hell da unten, weil eine Kamera der alten Frau in den Keller folgte. Ein Mann trägt diese Kamera auf seiner Schulter, ein weiterer Mann trägt grelles Licht, eine Frau stellt Fragen, Olga antwortet: Wenn der Krieg wieder zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und seinen Vater in den Keller tragen. Dort wird es stehen, genau dort, wo die Zwiebeln liegen. Hier werden wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hängen Fäden, auch schneeweiße Gebeine, Spinnen, die Olga noch immer fürchtet, so, stelle ich mir vor, könnte das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kamera. Ich betrachte ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurückziehen kann, weil ich den Film angehalten habe auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes. — stop

tokio
marimba : 22.28 UTC — Es ist spät geworden, beinahe Nacht. Auf einem Bahnsteig unter dem Flughafen warten Reisende, sitzen auf dem Boden, auf Koffern, auf Bänken, stehen, lehnen aneinander oder drehen sich auf engem Raum um die eigene Achse, schlafwandelnde Tänzer, die gerade noch in Madrid oder Tokio gewesen sind. Sie alle tragen ein Papiersegel vor dem Mund, manche von hellblauer Farbe, manche Weiß, andere in Tönungen, die für Mundsegelfarbe neu erfunden sind, grün, gelb, rot. Ein Mann spaziert dort auf und ab. Er nimmt den Weg entlang der Bahnsteigkante, balanciert vor dem Abgrund, als würde er riskantes Gehen lange Zeit geübt haben. Und wie er an mir vorbeikommt, höre ich ihn sprechen: Dieses Corona – Virus! Reine Erfindung, das ist verrückt, das Virus müsste man doch sehen! Ihr seid alle nicht bei Trost! — So formulierend spaziert er den langen Bahnsteig auf und ab. Seine Stimme spricht sanft, vielleicht ein wenig zornig, weil er bemerkt, dass man ihm nicht zuhört, dass ihm niemand antworten möchte, vielleicht sagen: Ja, mein Herr, das Corona — Virus ist tatsächlich eine reine Erfindung. Wir hören jetzt auf mit der Erfindung. Alles wird gut! — Und dann kommt der Zug. Auch der Mann steigt in den Zug. Ich sitze, ich warte, ich würde ihn gern fotografieren, eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, einen Herrn, der flüchtet und doch bleibt. Einmal, kurz, meinte ich seine Stimme zu hören. — stop
krim : lichtbild no 3
romeo : 8.52 UTC — Associated Press veröffentlichte vor wenigen Jahren eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen, vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
aus dem vogelzimmer
olimambo : 22.15 UTC — Nehmen wir einmal an, ein Rabenkakadu lebte mit mir unter einem Dach. Was würde er in mir sehen? — Vielleicht ein Wesen, das niemals fliegt. — stop
dschungelfäden
lima : 18.30 UTC — Eine seltsame Vorstellung vielleicht: In dem Bild dieser Vorstellung würde jede digitale Verbindung unserer handlichen Telefone je zu einem Faden werden oder einem Seil, sodass wir uns in unseren Städten kaum noch von einem Ort zu einem anderen Ort bewegen könnten. — stop
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Die Menschenrechtsanwältin Hoda Abdelmoniem wird seit mehr als drei Jahren aufgrund ihrer Menschenrechtsarbeit willkürlich festgehalten. Nachdem sie 35 Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie von der Obersten Staatsanwaltschaft vor das Notstandsgericht (ESSC) zitiert. Ihr wird vorgeworfen, einer “terroristischen Vereinigung” beigetreten zu sein, sie finanziert und unterstützt zu haben. Außerdem legt man ihr zur Last, über eine Facebook-Seite mit dem Namen “Egyptian Coordination for Rights and Freedoms” Falschnachrichten über Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte verbreitet zu haben, um Gewalt gegen staatliche Einrichtungen zu schüren. Diese Vorwürfe beziehen sich auf ihre Arbeit für die Menschenrechtsorganisation Egyptian Coordination for Rights and Freedoms (ECRF). / Die ESSCs, die als Sondergerichte im Falle eines Ausnahmezustands tätig werden, sind für ihre unfairen Verfahren bekannt und ihre Urteile sind nicht anfechtbar. Hoda Abdelmoniems Recht auf eine angemessene Verteidigung wird verletzt, da sie sich mit ihrem Rechtsbeistand ausschließlich vor Gericht treffen darf. Die Fortführung des Prozesses, der am 11. September 2021 begann, wurde auf den 15. Dezember 2021 vertagt. / Bei einer Gerichtsanhörung am 11. Oktober 2021 sagte Hoda Abdelmoniem den Richter:innen, dass ihr im Gefängnis eine Herzkatheteruntersuchung verschrieben wurde und dass eine:r der Mediziner:innen ihre Freilassung aus medizinischen Gründen beantragt habe. Laut des : der Gefängnis-mediziner:in seien jedoch derzeit Verlegungen in Krankenhäuser außerhalb des Gefängnisses aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt. Amnesty International hat jedoch Kenntnis von der Verlegung anderer Gefangener in externe Krankenhäuser seit dem Ausbruch des Coronavirus, einschließlich der kurzzeitigen Verlegung von Hoda Abdelmoniem am 30. November 2020 zur Behandlung eines vermuteten Nierenversagens. Zusätzlich zu ihrer Herzerkrankung leidet Hoda Abdelmoniem an einer Nierenerkrankung, einer arteriellen Thrombose und hohem Blutdruck. Seit ihrer Inhaftierung am 1. November 2018 verweigert ihr die Verwaltung des Frauengefängnisses Al-Qanater jeglichen Besuch und Kontakt mit ihrer Familie. Ihre Angehörigen haben außerdem nach wie vor keinen Zugang zu ihrer Krankenakte, was die Sorge der Familie um ihren Gesundheitszustand noch verstärkt. Die Richter:innen, die ihren Prozess leiten, haben Anträge auf Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung und Familienbesuche bislang abgelehnt.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 4. Februar 2022 hinaus, unter »> ai : urgent action
irkutsk
marimba : 8.12 UTC — Ich beobachtete Filmaufnahmen, die in Irkutsk aufgenommen worden waren. Irgendjemand spazierte eine Straße entlang. Dort Häuser von Holz, Häuser, deren Fenster bis zum Boden reichten. Die Häuser wirkten, als würden sie langsam in den Boden versinken. Das komme, hörte ich, weil die Häuser über keinen Keller und kein Fundament verfügten. Sie seien auch nicht gut isoliert nach unten hin, sodass die Wärme, die Menschen mit Öfen oder ihren Körpern entfachten, den Boden unter den Häusern tauten. In der vergangenen Nacht träumte ich, in einem dieser Häuser selbst zu wohnen. Ich saß auf einem weichen Sofa und erzählte, dass ich geträumt habe, wie ich eine Straße in Irkutsk entlanggehe und filme, indessen ich mich selbst erkenne, wie ich in der Tiefe auf einem Sofa sitze. — stop
auf dem hochseil
romeo : 2.25 UTC — Vor einiger Zeit, als noch Schnee lag, entdeckte ich in einem Karton vor einem Haus auf der Straße zwei Pinguine. Sie waren ungefähr 8 Zentimeter groß und weich. Ich nahm sie mit nach Hause und stellte sie auf ein Fensterbrett. Wie das so ist, waren sie einerseits anwesend, andererseits hatte ich sie so weit aus den Augen verloren, dass ich nicht länger an sie dachte oder sie bemerkte, wenn ich ans Fenster trat. Nun aber habe ich vor wenigen Minuten ein Häufchen winziger Fliegen, es waren 24 Fliegen, leblos zwischen beiden Pinguinen auf dem Fensterbrett entdeckt. Und wie ich mich nähere sehe gerade noch wie eine Spinne sich hinter dem rechten der Pinguine versteckte. Ich holte mir einen Stuhl und wartete. Bald zeigte sich die Spinne, indem sie über einen unsichtbaren Faden zwischen zwei Pinguinköpfen spazierte. In der Mitte ungefähr hielt die Spinne inne. Ich stellte mir vor, wie sie mich vielleicht betrachtete. Es war früher Nachmittag. Und so saßen wir gemeinsam eine Zeit und warteten, dass sich eine weitere Fliege, Fliege No 25, nähern möge. — stop
letzter winter
echo : 8.02 UTC — Joseph prophezeit, dass ich bald mein Leben verlieren werde. Du tust mir leid, sagt Joseph, Du hättest Dich nicht impfen sollen. Alle werden sterben. Alle, die sich geimpft haben, werden in diesem Winter tot geworden sein. Vielleicht hast Du noch eine Chance, wenn Du die Impfung verweigerst. Solltest Du die 3. Impfung nicht verweigern, wirst Du tot sein, da kann Dir niemand helfen, Ihr werdet sterben wie die Fliegen, sagt Joseph. Er spricht am Telefon, aber jetzt will er nicht weiter sprechen, ich habe einige Fragen, aber er möchte partout nicht weitersprechen. Joseph legt auf. Ich glaube, er will mit einem Toten nicht sprechen. Es ist etwas anderes, wenn man nicht genau weiß, wann ein Bekannter sterben wird, vielleicht in zehn Jahren. Aber wenn man weiß, dass ein Bekannter tot sein wird, ehe noch der nächste Frühling gekommen sein wird, da ist das doch so, als würde man gerade schon mit einer Person sprechen, die im Grunde bereits tot ist. — stop