Aus der Wörtersammlung: existieren

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echo

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india : 16.32 — Beob­ach­te­te, dass die Wahr­neh­mung eines Gedan­kens stets nur von einem wei­te­ren, einem zwei­ten Gedan­ken aus mög­lich zu sein scheint. — Wie­der die Fra­gen: Exis­tie­ren Satz­zei­chen in der Gedan­ken­sphä­re? Ist es mög­lich, einen ursprüng­li­chen Gedan­ken zu erfin­den? — stop

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schlafkapsel : standby

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oli­mam­bo : 14.28 — In der Stadt New York soll ein Schlaf­kap­sel­haus exis­tie­ren, man bezahlt 50 Dol­lar und darf sich in eine der 2700 Waben legen, die ange­nehm warm gestal­tet sind und gut iso­liert gegen Geräu­sche jeder Art. Oder in Schlaf­zü­gen rei­sen unter der Stadt, abge­dun­kel­te Fens­ter­bo­jen, die Lini­en 12 und 15, ohne je anzu­hal­ten Tag und Nacht. Man könn­te viel­leicht sehr bald ein­mal einen spe­zi­el­len Stoff­wech­sel­kreis­lauf für Men­schen erfin­den, einen spar­sa­men Modus der Ver­bren­nung, eine Vari­an­te, die akti­viert sein könn­te, sobald ein mensch­li­ches Wesen dau­er­haft erwerbs­los zu wer­den droht. Men­schen, frei von Auf­ga­be, wären nun in der Lage, zu exis­tie­ren, ohne nen­nens­wer­te Spu­ren zu hin­ter­las­sen, wür­den kaum noch Nah­rung zu sich neh­men, statt­des­sen schla­fen, län­ger schla­fen, als ande­re Men­schen, die sich in Brot und Arbeit befin­den. Man wünscht, sagen wir, in dem man schläf­rig wird, Zeit zu gewin­nen, Zeit zu über­brü­cken. Gan­ze Land­stri­che, Stadt­tei­le, Kon­ti­nen­te wären in die­ser Wei­se leich­ter Hand in einen Zustand des War­tens, der spar­sa­men, der schmerz­frei­en Dul­dung zu ver­set­zen. — stop
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schneckenkäfer

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romeo : 18.52 — Wie, fra­ge ich, soll­te ein Wesen gestal­tet sein, von dem nie­mand sagen könn­te, ob es sich tat­säch­lich um einen Käfer oder doch eher um eine Schne­cke han­del­te? Wie schwer wiegt in einer defi­nie­ren­den Glei­chung das Vor­kom­men eines Schne­cken­hau­ses? Ist nicht viel­leicht ein Käfer, des­sen geschlos­se­ne Pan­ze­rung die Form eines Schne­cken­hau­ses nach­emp­fin­det, bereits als eine Schne­cke anzu­se­hen, die gera­de noch miss­lun­gen ist? Dür­fen Schne­cken flie­gen? — stop

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herzgeschichte

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hibis­kus : 0.05 — Zu einer Zeit, als mei­ne Mut­ter noch für mich atme­te, beweg­te sich zum ers­ten Mal mein Herz. Bald wur­de ich gebo­ren und lern­te zu schwei­gen, zu sit­zen, zu ste­hen und mei­ne Schu­he zu bin­den, mit Krei­de auf eine Tafel zu schrei­ben und zu lesen, und wäh­rend ich die­se fei­nen Din­ge lern­te, schlug immer­fort mein Herz. Auch am Tag, als ich sie­ben Jah­re alt wur­de, schlug mein Herz so unbe­merkt, wie an allen ande­ren Tagen zuvor, und ich freu­te mich, weil ich an die­sem Tag ein Schach­spiel über­reicht bekam. Der klei­ne Jun­ge, der mir die­ses Schach­spiel schenk­te, war nicht zu mei­nem Fest für Freun­de gekom­men, statt­des­sen kam sei­ne Mut­ter. Sie war blass, nein durch­sich­tig, sie erzähl­te, ihr Sohn kön­ne nicht kom­men, weil sein Herz sehr schwach gewor­den sei. Kur­ze Zeit spä­ter starb der Jun­ge, der bei­na­he mein Freund gewor­den wäre, an die­ser Nach­richt. An jenem Abend, am Abend mei­nes klei­nen Fes­tes, leb­te der klei­ne Jun­ge noch, und ich dach­te an ihn und über­leg­te, was die Wor­te ein schwa­ches Herz viel­leicht bedeu­te­ten. Ich lag also auf dem Bett und hat­te eine Hand auf die Brust gelegt und spür­te den Bewe­gun­gen mei­nes Her­zens nach. Mit geschlos­se­nen Augen, ich erin­ne­re mich genau, konn­te ich Erschüt­te­run­gen füh­len, eine selt­sa­me Erfah­rung. Sehr lan­ge lag ich so rück­lings auf dem Bett und dach­te, dass mein Herz ein star­kes Herz zu sein schien, aber als ich mei­ne Hand zur Sei­te leg­te, war mir für einen kur­zen Moment, als ob mein Herz ste­hen geblie­ben war, weil ich sei­ne Bewe­gun­gen nicht län­ger spü­ren konn­te. Als ich erwach­te, wun­der­te ich mich, dass ich noch immer leb­te, obwohl ich mein Herz ver­ges­sen hat­te wäh­rend der Nacht. Und jetzt, da ich die­se klei­ne Geschich­te notie­re, den­ke ich, dass ich damals viel­leicht, an jenem Abend genau, damit begon­nen habe, mich zu wun­dern. Auch heu­te noch, um vie­le Jah­re älter, wun­de­re ich mich über mein Herz, oder ich wun­de­re mich über Stra­ßen­bah­nen, dass sie exis­tie­ren. Ja, sehr ger­ne wun­de­re ich mich über Straßenbahnen.

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in der subway

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sier­ra : 5.28 – Ich hat­te einen Traum, den ich ver­such­te fest­zu­hal­ten, also in ihm wei­ter­zu­exis­tie­ren, sagen wir ganz ein­fach, ich hat­te den Wunsch, nicht auf­zu­wa­chen. In die­sem Traum saß ich in einem Sub­way­wa­gon unter Men­schen, die einen fröh­li­chen Ein­druck mach­ten, ein Säug­ling wur­de in nächs­ter Nähe gewi­ckelt, ein paar Kugel­fi­sche schweb­ten durch den Raum, über einem offe­nen Feu­er wur­den Eich­hörn­chen gebra­ten, deren Sprung­keu­len in der Hit­ze der Flam­men knis­ter­ten und zisch­ten. Mein Vater saß neben mir und schlief. Und da war eine Frau, die einen Kof­fer auf ihre Knie gelegt hat­te. In die­sem Kof­fer befan­den sich Bücher, sie waren so klein, dass sie jedes der Bücher, das sie betrach­ten woll­te, mit einer Pin­zet­te aus dem Kof­fer heben muss­te. Mit einer wei­te­ren Pin­zet­te blät­ter­te sie um, sah in die­ser Bewe­gung durch ein Mikro­skop, das sie mit einem leder­nen Gür­tel vor ihre Stirn mon­tiert hat­te. Das war ein schwe­rer Appa­rat, wes­halb die Frau über kräf­ti­ge Hals­mus­keln ver­füg­te, die mit jeder Bewe­gung unter ihrer Haut hin und her hüpf­ten, als sei­en sie Tie­re für sich. Von Zeit zu Zeit notier­te die Frau in eines der Bücher, das sie her­vor­ge­holt hat­te. Auch der Stift, mit dem sie schrieb, war so klein, dass er für mei­ne Augen nicht sicht­bar war. Indem die Frau notier­te, for­mu­lier­te sie, ohne je eine Pau­se ein­zu­le­gen, immer nur einen Satz: Bit­te nicht atmen! Bit­te nicht atmen! Sie flüs­ter­te im Übri­gen mit den Ohren. — stop

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whiteout

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papa : 5.44 — Vom Regen­was­ser, das ich hör­te, schläf­rig gewor­den, war ich vom Stuhl gefal­len. Ich hat­te, als ich fiel, bereits in der drit­ten Stun­de ver­sucht, eine Tele­fon­num­mer zu erfin­den, die einer wirk­li­chen New Yor­ker Tele­fon­num­mer täu­schend ähn­lich sein wür­de, das heißt, eine Num­mer, die nicht exis­tiert, aber exis­tie­ren könn­te. Eine schwie­ri­ge Geschich­te! Kaum hat­te ich eine Num­mer ent­wor­fen, eine Zah­len­rei­he, die in kei­nem digi­ta­len Ver­zeich­nis auf­zu­fin­den gewe­sen war, ent­deck­te ich, dass eine Stun­de nach der Erfin­dung alle Mühe schon ver­geb­lich gewor­den sein könn­te. Ich müss­te dem­zu­fol­ge eine Num­mer, die Erfin­dung blei­ben muss, reser­vie­ren, also mel­den, eine Num­mer ohne Tele­fon an ihrem Ende, die vir­tu­el­le Beset­zung eines nume­ri­schen Ortes. Vie­le Fra­gen sind offen am Ende die­ser Nacht. Auch die­se fol­gen­de Fra­ge, ob es ehren­voll ist, schla­fen­de Men­schen zu foto­gra­fie­ren? — stop

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malta : manoelstreet

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echo : 22.56 – Im Auf­zug des Hau­ses Man­oel­street No 8 sitzt eine Schne­cke mit gel­bem Gehäu­se auf dunk­lem Fur­nier. Bald wer­de ich erfah­ren, dass es von Höl­zern genom­men wur­de, die Eng­län­der vor lan­ger Zeit nach Mal­ta impor­tier­ten, Bäu­me die­ser Far­be wach­sen hier nicht aus der roten Insel­er­de, aber nied­ri­ge Oran­gen und Zitro­nen­ge­wäch­se. Wenn man abends im Wind, der von der See her in die Stadt spa­zie­ren kommt, in einem der klei­ne­ren Parks lan­ge genug war­tet, kann man die Früch­te fal­len hören, wei­che, seuf­zen­de Geräu­sche, kaum wahr­nehm­bar. — Spä­ter Abend. Wäh­rend der Fahrt vom Flug­ha­fen her in einem uralten Bus durch­ge­schüt­telt, habe ich ein Ohr ver­lo­ren. Ich tra­ge es behut­sam in der Hosen­ta­sche den Flur ent­lang zu mei­nem Zim­mer, das von war­mer Far­be ist, eine Tür, die von selbst ins Schloss fällt, ein Bal­kon hin zum Meer, irgend­wo da drau­ßen in der Dun­kel­heit soll es schon lan­ge exis­tie­ren. Still die Stadt an die­sem Abend, weni­ge Stim­men, klap­pern­de Töp­fe, die Glo­cken einer Kir­che zur vol­len Stun­de, nichts wei­ter. Wie ich mein Ohr betrach­te, das auf dem Bett liegt, noch immer knis­ternd vom Sturz­flug aus grö­ßer Höhe kurz nach Sizi­li­en unter Tur­bu­len­zen hin­durch, die­ser selt­sa­me Ein­druck eines Tage wäh­ren­den Zwi­schen­rau­mes, nicht mehr zu Hau­se und doch schon im Süden ange­kom­men, unwirk­lich, alles ist denk­bar. Seh mich nach Mit­ter­nacht über eine Kat­zen­stra­ße der Stadt Val­let­ta gehen. Das Meer aus nächs­ter Nähe, brau­send aus dem unend­li­chen, dunk­len Raum her­an, fried­lich an die­ser Stel­le zu die­ser Stun­de. — stop
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existenz

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hima­la­ya : 3.38 — Von allen inten­si­ven Lebens­mo­men­ten war einer der Schöns­ten jener gewe­sen, als mich ein Mensch, der mir sehr nahe ist, wie­der­erkann­te. Ein Blitz war ihm nachts in den Kopf gefah­ren, hat­te Bedeu­tun­gen der Gegen­stän­de und Orte und Men­schen der­art umge­schrie­ben, dass er nicht mehr sagen konn­te, wo er sich gera­de befand, dass er einen Baum für eine Bir­ne hal­ten woll­te, einen Fern­seh­ap­pa­rat für den Mond, und mich per­sön­lich für einen wild­frem­den Men­schen, eine Per­son, deren Namen und deren Gesicht er nie zuvor gese­hen haben woll­te. Ein Blick, fremd, kalt. Ein Blick, der nach lan­gen Wochen des War­tens nach­denk­lich wur­de, der wie­der wär­men konn­te, weil er sich der Ver­traut­heit sei­nes Gegen­übers zu erin­nern schien. Wie ich in der Zeit der Ver­lo­ren­heit mit mei­ner Stim­me lock­te, mit Geschich­ten, die wir gemein­sam erleb­ten, klei­nen All­tags­ver­bre­chen, Foto­gra­fien, Musik. Ich bin kein Ande­rer! Und wie der suchen­den Nach­denk­lich­keit Erin­ne­rung folg­te, ein Licht, Iris­bren­nen, das mei­nen Namen noch vor Mund und Stim­me for­mu­lier­te. Und wie ich nach lan­ger Abwe­sen­heit von einer Minu­te zur ande­ren im gemein­sa­men Augen­raum wie­der zu exis­tie­ren begann, davon wird ein­mal zu erzäh­len sein. stop. Heu­te ist Mon­tag. stop. Leich­ter Regen. stop. Drei Uhr zwei­und­fünf­zig in Ben­ga­si, Liby­en. — stop

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man on wire

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nord­pol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Phil­ip­pe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem win­di­gen Tag heim­lich zwi­schen den Tür­men des World­tra­de Cen­ters gespannt wor­den war, mit Balan­cier­stan­ge in Hän­den auf den Rücken legt. Kei­ne Film­auf­nah­men exis­tie­ren von jenem Moment aus nächs­ter Nähe, aber Foto­gra­fien, die im Wis­sen des Win­des und der Tie­fe einen deh­nen­den, einen zer­ren­den Schmerz in mei­nem Kör­per erzeu­gen. Der Seil­tän­zer wur­de fest­ge­nom­men und einem Psych­ia­ter vor­ge­führt. stop. Schnee in Zeit­lu­pe. stop. Ruhe. stop. Der Luft­raum, in dem sich Phil­ip­pe Petit beweg­te, exis­tiert wei­ter fort. — stop
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