romeo : 22.58 — Vor einem meiner Fenster in der Höhe ist heute Abend eine kleine Spinne aufgetaucht, ein Jäger auf dem Fensterbrett, sehr schnell, geschmeidig, gestreifter Pelz, Augen so klein, dass ich sie nicht sehen kann. Mit diesen Augen, die ich nicht sehen kann, beobachtete mich die Spinne vermutlich, während ich in ihrer Nähe am Fenster stand und Sätze wiederholte, die derart verknotet waren, dass ich sie kaum aussprechen konnte. Die Spinne bewegte sich nicht, und ich dachte, vielleicht hörte sie mir zu, hört, was N., die seit zwölf Jahren als Sachbearbeiterin in der Nähe eines Flughafens arbeitet, erzählte, warum nämlich die Begrüßung in der Nacht unter Nachtarbeitern eine seltsame Angelegenheit sein kann. N.’s Aussage zur Folge soll es jeweils nach Mitternacht zu Schwierigkeiten deshalb kommen, weil man bis zur Mitternachtsstunde noch einen Guten Abend wünschen könne, indessen eine Person, der man im Aufzug begegne, in den ersten Minuten eines neuen Tages bereits mit einem fröhlichen Guten Morgen zu begrüßen sei, obwohl doch der nächste Morgen mit Licht oder Aussicht auf Feierabend zu diesem Zeitpunkt noch viele Stunden weit entfernt sein müsste. Ein eigentümliches Gefühl, sagte N., das dieser vorauseilende Morgen inmitten der Nacht noch nach Jahren in ihr erzeuge. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass inmitten der Nacht die Nacht selbst in einer Begrüßungsformel nicht angesprochen werden kann, weil die Formulierung Gute Nacht im allgemeinen Abschied bedeutet unter Menschen, die zur üblichen Wachzeit existieren, obwohl man doch im Moment des Abschiedes vielleicht gerade Stirn an Stirn in einem Bett liegt, man macht die Augen zu und schläft, sofern man glücklich und zufrieden ist. Zwei Schlafende. Es ist so, als wären sie beide verreist, als wären sie beide nicht anwesend, nicht erreichbar, auch nicht für sich selbst, weil ein Schlafender niemals zuverlässig in der Lage sein wird, sich persönlich zu wecken, ohne vorbeugend externes Glockenwerk programmiert zu haben. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte. — stop
Aus der Wörtersammlung: Feier
PRÄPARIERSAAL : schlafgänger
charlie : 6.54 — Otto Lilienthal soll als junger Mann ein Schlafgänger gewesen sein wie mein Vater. Ich erinnere mich, dass er einmal erzählte, er habe während früher Forschungszeit sein Bett mit einem „leichten Mädchen“ geteilt. Nachts schlief er auf ihrem Lager, tags sie auf dem Lager meines Vaters. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie sind sich, wenn ich mich nicht irre, persönlich nie begegnet sein, aber ihren Gerüchen, Wärme, einem Körperabdruck, Haar. — Kurz vor Sonnenaufgang. Gerade eben lese ich einen E‑Mailbrief June’s, 22. Sie schildert in lakonischer Weise ihre Erfahrung eines Präpariersaales: > Der Tag des ersten Testates: Nervosität, Übelkeit, bestanden! Glücksgefühle, ab nach Hause, schlafen! Jetzt alles tun außer lernen. Oh, es ist schon spät, verdammt, was muss ich morgen eigentlich machen? Das werd ich in der S‑Bahn schon noch herausfinden. Dann der erste Tag des neuen Abschnitts: Arm oder doch der Kopf? Was muss ich eigentlich tun? Ich hätte mir das gestern doch noch ansehen sollen, meine Assistentin wird mir schon helfen, erst mal das Fett abtragen, da kann ich nicht viel falsch machen. Was muss ich eigentlich finden? Ach, das finde ich morgen auch noch! Endlich nach Hause! – Der 2. Tag: Was habe ich heute zu unternehmen? Verdammt, warum meint mein Assistent, dass es nicht gut ist, dass ich diesen kleinen Hautnerv noch nicht gefunden habe. Feierabend! — Der 3. Tag: Nachtarbeit, müde! — Der 4. Tag. Ich bin schon wieder nicht vorbereitet, ich hatte so viel nachzuholen, bald ist wieder Testat und ich kann noch nicht einmal mein eigenes anatomisches Gebiet erklären. – 5. Tag, zwei Tage vor dem zweiten Testat: Panik! Ich hab überhaupt keine Ahnung. Ich muss noch so viel lernen, dass das alles niemals in meinen Kopf gehen wird. Ich habe zwar schon sehr viel gelernt, aber ich habe alles, was ich lernte, schon wieder vergessen. — 6. Tag, letzter Tag vor dem Testat: Ich glaube, mein Präpariergebiet kann ich jetzt inwendig und auswendig, aber ich habe keine Ahnung vom Bein! Wenn ich über das Bein gefragt werde, dann falle ich durch! Ich muss noch dringend das Bein lernen! Nein, das lern ich jetzt nicht mehr. Mut zur Lücke. Nacht! — stop
east village : gehschläfer
marimba : 0.18 — So, stell ich mir vor, könnte das sein. Es ist Abend geworden, Zeit das Büro zu verlassen. Man tritt vor das Gebäude, in dem man seine Tage fristet, setzt sich ein elektrisches Häubchen auf den Kopf und schon schließt man die Augen und schläft und geht in dieser Weise schlafend auf Wegen nach Hause, die für schlafende Menschen vorgesehen sind. Niemand würde je auf die Idee kommen, einen schlafenden Pendler zu wecken. Drei Stunden, sagen wir, im Tiefschlaf schreitet man die 5th Avenue downtown, biegt bald in die 23. Straße ein, folgt ihr, weiß der Himmel wovon man gerade träumt, bis zur 1st Avenue, um kurz darauf in der 20. Straße zu landen, Haus No 431, dort wird man geweckt und findet sich im Aufzug wieder, wie frisch gebadet im Kopf, um eine Nacht reicher geworden, zu feiern, zu lieben, mit Kindern zu spielen. Am nächsten Morgen macht man sich wieder auf den Weg, setzt sich sein Häubchen, und auch die Kinder setzen sich ihre Häubchen auf den Kopf, und so weiter und so fort. Irgendwo sollte eine zentrale Station existieren, die Schlaf und Schritte jener schlummernden Menschen steuert. — stop
hummergeschichte
india : 6.32 — Ein Solarisschiff, von dem ich träumte, war derart nahtlos in ein düsteres Stadthaus von enormer Größe montiert, dass niemand, der nicht in Kenntnis gesetzt worden war, seine Existenz wahrzunehmen vermochte. Natürlich spielte die Fahrstuhlanlage eine bedeutende Rolle. Dort war eine zentrale Achse des Raumkreuzers hineingedacht, umgebende Wohnungen gehörten dazu, Teile der Küchen, Bäder, Flure, Wohnzimmer, auch weiter entfernte Abteilungen des Gebäudes, in dem allerorten Wasser von den Decken tropfte. An einem Abend, von dem ich präzise träumte, wurden wohnungsweise rauschhafte Feste unter Regenschirmen gefeiert. Sie dienten einem einzigen Zweck, weltraumreisende Menschen nämlich von zurückbleibenden Menschen zu separieren. Ich konnte im Traum den ein oder anderen Bewohner des Hauses leicht narkotisiert von einem Apartment in das nächste wandeln sehen. Als ich erwachte, hockte ein kleiner blauer Hummer an der Wand meines Zimmers. — stop
malta : carmelite church
delta : 22.07 – Als er mich über die Straße kommen sieht, erhebt sich der alte Mann von dem Stuhl vor der Tür seines Hauses. Sofort, schon von Weitem, hat er mich wiedererkannt, vielleicht an dem roten Pullover, den ich über meinen Schultern trage oder an meinem Gang. Jetzt folgt er mir grußlos in die Kirche an der Old Mint Street, deren Kuppelbau die Silhouette der Stadt Valletta weithin prägt. Gestern noch haben wir ein kleines Gespräch geführt vor dem Gotteshaus, das dem alten Mann kostbar zu sein scheint, ein Ort, den er zu schützen versucht, vor Personen wie mir beispielsweise, die kommen und gehen wie sie wollen, ohne je einmal zu fragen, ob es statthaft sei, an diesem heiligen Ort zu fotografieren. Jetzt will er mich prüfen, will mein Versprechen genauer, das ich gegeben habe, prüfen, ob ich es einhalte, ob ich glaubwürdig sei. Und so sitze ich bald unweit des Altars, der alte Mann ein paar Reihen hinter mir, und überlege, ob es möglich sein könnte, in dieser Kirche ein Aquarium zu errichten, ein Glasgehäuse von enormer Größe, in dem Kiemenmenschen schweben und somit in der Lage sein würden, an heiligen Feiern unter Lungenmenschen teilzuhaben. Lange Zeit sitze ich fast bewegungslos, dann beginne ich einige Sätze in mein Notizbuch zu schreiben, fertige eine Zeichnung an, einen Grundriss in etwa, der Kirche und einiger Positionen, da ein Aquarium zu errichten sinnvoll wäre. Und wie ich so leise vor mich hin arbeite, kaum wage ich zu atmen, höre ich, wie der alte Mann hinter mir sich erhebt, er kommt an mir vorüber, bleibt einige Minuten in meiner Nähe stehen, verbeugt sich bald vor dem Altar und verlässt die Kirche durch einen Seiteneingang. — Sonntag. Ich habe heute Bäume entdeckt, die mit ihren weichen Blättern seltsame Nüsse bebrüten. — stop
kairobildschirm
nordpol : 16.15 — Die Welt der großen Koffer, die Welt der grundsätzlichen Diskurse kommt in Bewegung. Das Vermögen, Lesen und Schreiben zu können, die Freiheit des Denkens, Sprechens, Glaubens, Brot und Zuckerpreise, Korruption, Selbstbestimmung, die Glaubwürdigkeit westlicher Politik, westlicher Kultur. Auf dem Tahrirplatz wird getanzt, man betet, man feiert Hochzeit, man reicht Wasser, versorgt Wunden, bewacht den Schlaf der Schlafenden. Bedeutendes geschieht. stop. Eine Welle. stop. Zuhören. stop. Lernen. stop.
bryant park
sierra : 8.57 — Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafes, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief vorlesen könne, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte solange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Cafe am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Cafe Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine sehr schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich seh gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. — stop