Aus der Wörtersammlung: film

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murmansk

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romeo : 0.15 — Ich war im Zug ges­tern Abend in Mur­mansk gewe­sen. Am Hafen saß ich, und das Eis auf dem sich sanft bewe­gen­dem Meer schin­del­te zu mei­nen Füßen. Ein ros­ti­ges U‑Boot war da noch und jun­ge Matro­sen, sie spiel­ten mit Äpfeln und wink­ten. Indem ich so war­te­te und die Geräu­sche des Eises und die Stim­men der See­leu­te bewun­der­te, flat­ter­ten Koli­bris um mei­nen Kopf her­um. Sie tru­gen win­zi­ge Pelz­müt­zen und Pelz­ja­cken und ihre Flü­gel brumm­ten in der glas­kla­ren Luft nor­di­scher Mit­tags­stun­de. Dann wach­te ich auf, fuhr in einer Stra­ßen­bahn spa­zie­ren, öff­ne­te mei­nen Kof­fer und schon ist Mit­ter­nacht gewor­den. Ob ich viel­leicht noch immer schla­fe, noch immer träu­me? — stop

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transistoren

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hima­la­ya : 0.02 — Wie wür­de Han­nah Are­ndt über das Wag­nis der Öffent­lich­keit for­mu­lie­ren in unse­rer Zeit, in einer Zeit, da Men­schen ohne jede Scheu und in gut begrün­de­ter Vor­aus­sicht, zutiefst ver­letzt zu wer­den, mit Wor­ten, Bil­dern, Fil­men öffent­lich in intims­te Win­kel ihrer See­len leuch­ten? Ein­mal, als Com­pu­ter noch mit­tels Tran­sis­tor­röh­ren rech­ne­ten, bemerkt sie mit ihrer tie­fen, rau­en Stim­me, das Wag­nis der Öffent­lich­keit sei für eine Per­son nur mög­lich im Ver­trau­en auf die Mensch­lich­keit der Men­schen selbst. — stop

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hilde domin

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romeo : 22.02 — Atem­los eine Kame­raluft­rei­se der jun­gen Fil­me­ma­che­rin Anna Dit­ges beob­ach­tet. Zwei Jah­re lang film­te sie ihre Begeg­nun­gen mit Hil­de Domin. Als ich mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne aus­schal­te­te, war ich voll Glück und Freu­de, und ich dach­te, dass ich mich ver­mut­lich ver­liebt habe, in den Film, in die jun­ge Fil­me­ma­che­rin, oder nein, ich glau­be, ich habe mich in Hil­de Domin ver­liebt. Und wie ich die­se Zei­len gera­de schrei­be, den­ke ich, dass Hil­de Domin, soll­te sie mir über die Schul­ter sehen, viel­leicht sagen wür­de: Aber das geht doch nicht, das ist unhöf­lich, so nah her­an­zu­kom­men. – Ich saß im Park am Nach­mit­tag, folg­te einer Spin­ne, die auf Buch­sei­ten turn­te und las in Hil­de Dom­ins Gedich­ten: Wer es könn­te / die Welt / hoch­wer­fen / dass der Wind / hin­durch­fährt. Ihre von der Zeit gezeich­ne­te Hand, die im Film genau die­se Zei­len mit einem Blei­stift auf ein Blatt notier­te. Wie sie sagt zur jun­gen Frau hin­ter der Kame­ra: Wir sehen uns ger­ne an, weil wir uns mögen. — stop

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hydra

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sier­ra : 20.34 — Eine Film­da­tei exis­tiert seit Jah­ren im Gedächt­nis mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne. Ich habe die­se Datei noch nie geöff­net. Sie soll Bil­der ent­hal­ten, die den gewalt­sa­men Tod des Jour­na­lis­ten Dani­el Pearl vor lau­fen­der Kame­ra zei­gen. Immer wie­der der Gedan­ke, die Fra­ge, was ich unter­neh­men, was ich füh­len, wie ich leben wür­de, wenn ich wüss­te, dass Bil­der des Todes eines von mir gelieb­ten Men­schen, sei­ne Ernied­ri­gung, sei­ne Ver­zweif­lung betrach­tet wer­den oder betrach­tet wer­den könn­ten von Aber­tau­sen­den wil­der und frem­der Augen­paa­re. — Kann man mit einer Hydra ver­han­deln? — stop

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bellevue

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ulys­ses : 6.08 — Vor Jah­ren ein­mal ent­deck­te ich nach stun­den­lan­ger Suche in den Archi­ven der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek eine Foto­gra­fie auf einem Mikro­film­strei­fen und ich wuss­te sofort, dass ich die­ses Licht­bild besit­zen muss­te. Ich bat eine Biblio­the­ka­rin, aus dem Mate­ri­al das Bes­te her­aus­zu­ho­len, höchs­te Auf­lö­sung, wes­we­gen ich bald einen klei­nen Sta­pel Papiers ent­ge­gen­neh­men konn­te, den ich im Arbeits­zim­mer an einer Wand zum Bild zurück sor­tier­te, zur Ansicht einer Stra­ße des Jah­res 1934 prä­zi­se, einer Stra­ße nahe des Bel­le­vue Hos­pi­tals zu New York. Stau­bi­ge Bäu­me, eilen­de Men­schen­schat­ten, die Sil­hou­et­te einer alten, in den Kno­chen gebeug­ten Frau, der Wagen eines Eis­ver­käu­fers, ros­ti­ge Hydran­ten, die sprö­de Stein­haut der Stra­ße, zwei Vögel unbe­kann­ter Gat­tung, Spu­ren von Hit­ze, und ich erin­ne­re mich noch gut, dass ich eine Zei­le von links nach rechts auf das Papier notier­te: Die­se Stra­ße könn­te Mal­colm Lowry über­quert haben, an einem Tag viel­leicht, als er sich auf den Weg mach­te, sei­nem Kör­per den Alko­hol zu ent­zie­hen. Und weil ich schon ein­mal damit begon­nen hat­te, das Bild zu ver­fei­nern, zeich­ne­te ich in Wor­ten wei­te­re Sub­stan­zen auf das Papier, Unsicht­ba­res oder Mög­li­ches. Einen Schuh notier­te ich west­wärts: Hier flüch­tet Jan Gabri­el, weil sie Mr. Lowrys Lie­be nicht län­ger glau­ben konn­te. Da lag ein Notiz­buch im Schat­ten eines Bau­mes und ich sag­te: Die­ses Notiz­buch wird Mal­colm Lowry fin­den von Zeit zu Zeit, er wird es auf­he­ben und mit zit­tern­den Hän­den in sei­ne Hosen­ta­sche ste­cken. Schon segel­ten fie­bern­de Wale über den East River, der zwi­schen zwei Häu­sern schim­mer­te, ein Schwarm irrer Bie­nen tropf­te von einer Fens­ter­bank, und da waren noch zwei Mäd­chen, bar­fuß, – oder tru­gen sie doch Strümp­fe, doch Schu­he? — sie spiel­ten Him­mel und Höl­le, ihre fröh­li­chen Stim­men. Ich geste­he, dass Dai­sy und Vio­let nicht damals, son­dern in die­ser letz­ten Stun­de einer hei­te­ren Arbeits­nacht ins Bild gekom­men sind. — stop

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am viktoriasee

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lima : 5.18 — Am Vic­to­ria­see Men­schen, jun­ge Men­schen und alte Men­schen, wie sie sich durch modern­de Abfäl­le einer Fisch­fa­brik wüh­len. Gel­be Augen. Salz­wun­de Hän­de. Ver­ei­ter­te Füße. Bauch­bal­lo­ne. stop. Beob­ach­te­te zum fünf­ten Male den Doku­men­tar­film Dar­wins Alb­traum war­um? Kurz dar­auf notier­te ich: Licht fällt in klei­nen Pake­ten vom Him­mel. Und ich dach­te noch, das geht heu­te nicht, solch ein Satz doch nicht nach jenem Film in die­ser Nacht. Lan­ge Zeit schon ist von afri­ka­ni­schen Eis­fi­schen zu erzäh­len, von Luft­rei­sen­den in rus­si­schen Waren­trans­port­flug­zeu­gen gegen den Nor­den zu, von all dem Elend erzäh­len, das sie bewir­ken, vom Hun­ger, von dem ich mit eige­nen Ohren hör­te, von Nil­barsch­fi­lets, vom rasen-höl­zer­nen Fleisch auf kost­ba­ren Tel­lern euro­päi­scher Sand­ma­nu­fak­tu­ren. stop. Wie erzäh­len? stop. Wem erzäh­len? stop. Bald wie­der Däm­me­rung. stop. Licht fällt in klei­nen Pake­ten vom Him­mel. — stop

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jonglieren

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char­lie : 3.05 — Das Wort weicht nicht vor dem Wort, son­dern vor dem Text zurück. — Eine merk­wür­di­ge Erfah­rung. — Ich neh­me das Wort REGENKÄFER aus einem Text her­aus, lege es auf ein Blatt Papier und suche wei­te­re Wör­ter. Solan­ge Zeit suche ich, bis das WORT zufrie­den gewor­den ist. Dann mache ich eine Pau­se, beob­ach­te einen Film, der vom Vic­to­ria­see erzählt, schla­fe ein, wache auf, gehe zum Schreib­tisch zurück und neh­me das Wort ERINNERUNG aus einem Text her­aus, lege es auf ein Blatt Papier und suche so lan­ge Zeit wei­te­re Wör­ter, bis das WORT zufrie­den gewor­den ist. — Ich notie­re: Zwei Uhr und acht­zehn Minu­ten. Wie­der habe ich bemerkt, dass sich die Zeit rück­wärts nur in klei­nen oder gro­ßen Sprün­gen ein­neh­men lässt. Die Zeit mag sich nicht in die Ver­gan­gen­heit spu­len. — stop

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elefanten

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zou­lou : 8.30 — In der ver­gan­ge­nen Nacht träum­te ich eine lus­ti­ge Geschich­te, das heißt, ich träum­te mich in ein Bild, das mir bekannt zu sein schien, wes­halb ich ein Selbst­ge­spräch führ­te, in etwa so, als wür­de ich einen Film kom­men­tie­ren. Als ich wach gewor­den war, erin­ner­te ich mich, vor eini­ger Zeit eine Traum­ge­schich­te auf­ge­zeich­net zu haben, die von selt­sa­men Men­schen­oh­ren erzähl­te. Und tat­säch­lich habe ich die­se Geschich­te und mit ihr den Traum der ver­gan­ge­nen Nacht soeben wie­der­ge­fun­den, sodass heu­te Mor­gen nichts zu tun ist, als die Wie­der­ho­lung des Trau­mes von den selt­sa­men Ohren und sei­nen Zei­chen­schat­ten auch an die­ser Stel­le zu doku­men­tie­ren. Ich saß also vor län­ge­rer Zeit und noch vor weni­gen Stun­den > in einem Café nahe einem Meer unter Män­nern, die Go oder etwas ande­res spiel­ten mit klei­nen, run­den, bern­stein­far­be­nen Stei­nen. Die Luft an die­sem Ort war heiß und tro­cken, des­halb wun­der­te ich mich nicht, dass die Män­ner, die von hohem Alter gewe­sen waren, sich mit gewal­ti­gen Ohren Luft zufä­chel­ten in der Art und Wei­se der Ele­fan­ten. Selt­sa­me Geräu­sche waren zu hören, schwe­re, knar­zen­de Töne, als wür­de an höl­zer­nen Schrau­ben gedreht. Und doch war die Haut der Ohren so fein, dass man durch sie hin­durch sehen konn­te. Sobald sie hin­ter den ver­wit­ter­ten Köp­fen zusam­men­schlu­gen, wur­den die Augen der Her­ren zu Schlit­zen, beweg­ten sich die luf­ti­gen Häu­te zurück, öff­ne­ten sie sich. Hin­ter dem Tre­sen däm­mer­te ein wei­te­rer Mann, der hat­te sich mit sei­nem Per­ga­ment das Gesicht zuge­deckt. Ich betrach­te­te ihn eine Wei­le, und schon war ich, noch im Ste­hen, dem heu­ti­gen Tag zu ein­ge­schla­fen. – Guten Mor­gen! Heu­te ist Sonntag.

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mrs. callas zählt schneeflocken

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marim­ba : 0.01 — Wenn Mrs. Cal­las Schnee­flo­cken zählt, will sie jede Flo­cke mit ihren Zei­ge­fin­gern berüh­ren. Aus der Ent­fer­nung betrach­tet, könn­te man dann mei­nen, Mrs. Cal­las wür­de sich mit nicht sicht­ba­ren Engeln unter­hal­ten, oder mit Engeln, die so klein sind, dass sie für das Licht nicht ins Gewicht fal­len. Ja, wenn Mrs. Cal­las Schnee zu zäh­len wünscht, spricht sie mit ihren Hän­den mit der Luft. Sie ist sehr schnell in die­ser Bewe­gung des Spre­chens und sie ist glück­lich, habe ich den Ein­druck, ein Mäd­chen, wie sie am klei­nen See des Pal­men­gar­tens auf Zehen­spit­zen steht und so herz­lich lacht, dass die Rei­her ange­flo­gen kom­men, die eigent­lich längst schon nach Afri­ka abge­reist sein soll­ten. Ich glau­be, flüs­tert sie, jetzt habe ich den Über­blick ver­lo­ren. Wir sind dann noch her­um­spa­ziert zwei Stun­den und haben dis­ku­tiert, was Mrs. Cal­las an Bord der Sea­town gern tra­gen wür­de, etwas Leich­tes natür­lich, wegen der schwü­len Hit­ze, die zu erwar­ten sein wird, weil wir uns das so aus­ge­dacht haben von Zeit zu Zeit, das Inven­tar einer Welt, die eigent­lich nicht exis­tiert. — stop

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