india : 10.02 – Ein lebendes Blatt Papier, nach wie vor heiter, welches aus Millionen mobiler Einheiten oder Persönlichkeiten bestehen würde, könnte immer dann als eine Rechenmaschine betrachtet werden, wenn jedes der zu dem Blatt gehörenden Individuen für sich imstande wäre, zwei oder weitere Zustände, zum Beispiel hell oder nicht hell, anzunehmen und den Status dieser Selbstverfassung mittels einer Sprache an benachbarte Individuen weiterzugeben. Ja, das ist denkbar, eine Rechenmaschine, die sich vorsätzlicher Weise in Luft auflösen und wieder aus der Luft heraus vereinen könnte. — stop
Aus der Wörtersammlung: hören
singende rosen
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : SINGENDE ROSEN
Mein lieber, lieber Jonathan Kekkola, wie ich mich freue über Ihre späte Nachricht! Stolz bin ich und voll Bewunderung, indem ich sehe, wie weit Sie gekommen sind. Ich habe gestern Ihre Eltern besucht, und wir studierten gemeinsam eine Karte Ihrer großen Wanderung dem amerikanischen Süden zu. Das Wasser war kühl, ihre Mutter schien zu frösteln, und Ihr Vater schwebte auf dem Kopf, sodass mir etwas schwindelig wurde, weil ich oben und unten für Momente nicht unterscheiden konnte. Ich hatte auf Sie gewartet, mein Lieber, saß mit einer Melone im Sand und schaute aufs Meer hinaus. Einmal glaubte ich, Sie gesehen zu haben. Ein Mann winkte mir zu, er stand bis zum Hals im Wasser, plötzlich war er verschwunden. Nun, am Ende dieses merkwürdigen Tages, will ich Ihre Frage beantworten. Ja, sie sind gekommen, unsere Geschöpfe, Elefanten, sie sind gekommen, so wie wir sie vorausgesehen haben. Ein glücklicher Moment voller Demut. Ich konnte sie hören, ihr leises Gespräch, Trompetenmusik, den Gesang der Rosen, der von der wandernden Luft in Wellen an Land getragen wurde. Als in der Dämmerung der Wind auffrischte, fuhr ich zurück in die Stadt, eine stundenlange Reise unter Straßen bis rauf nach Woodlawn und wieder zurück. — Alles Gute, alles Liebe! Ihr Louis. Ahoi!
gesendet am
12.05.2010
22.24 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
MELDUNGEN : LOUIS TO MR. JONATHAN NOE KEKKOLA / ENDE
schirme
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : SCHIRME
Rasend, lieber Jonathan, vergeht die Zeit! Ein Jahr ist es nun her, seit ich das erste Mal von Ihnen hörte. Viele Stunden, ganze Tage, Wochen habe ich an Sie gedacht, und doch keine durch belichtete Vorstellung gewonnen. Ihre Augen, hell oder dunkel? Wie werden Sie mir begegnen, mit welcher Stimme sprechen? An diesem schönen Morgen darf ich berichten, dass ich mich gut erholen konnte. Fühle mich wohl in meiner Haut. Sieben Uhr. Sie werden sicher noch schlafen, da drüben in Amerika, und sofort, wenn Sie in Kürze erwachen, einen ersten tiefen Zug kühler Waldluft zu sich nehmen. Ihre Verwunderung, wie immer, dass Sie nicht länger unter Wasser leben, dass Sie frei sich zu bewegen in der Lage sind. Wie oft schon habe ich den Versuch unternommen, mich einzufühlen in ihre Lage, unvollkommen, sagen wir, aber nicht vergeblich, wie ich hoffe, weil Sie bemerkt haben werden, dass ich mich um Sie kümmere, dass ich Fragen stelle, dass ich Sie nicht gedankenlos der Welt überantwortet habe. Noch zweiundzwanzig Tage, mein lieber Kekkola, hören Sie zu! Ich habe Wetterkarten studiert, fürchte, wir werden unter Regenschirmen sitzen. Ihren Eltern im Übrigen geht es gut! Ahoi! Ihr Louis
gesendet am
10.04.2010
6.01 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
wortklangstempel
echo : 0.06 — Da war ein i am frühen Morgen, vielleicht weil ich nach einer langen Traumnacht noch nicht ganz wach gewesen, in das Wort Lebende hineingeraten, sodass das Wort Leibende entstand. Im Zusammenhang einer blühenden Regenkäfergeschichte eigentlich kein verrücktes oder schlampiges Wort, und doch eine merkwürdige Sache, weil ich den kleinen Text zwei- oder dreimal, ehe ich ihn veröffentlichte, prüfte, ohne das nachdrücklich umgestaltende i entdeckt zu haben. Ich spiele nun mit dem Verdacht, dass ich Texte, die ich notiere und kurz darauf wieder lese, zunächst einem Nahzeitspeicher meines Gehirns entnehme, in welchem Wörter oder ganze Sätze eines Textes als scheinbar korrekte Klangstempel im Moment der Zeile erinnert werden. Und dann gehe ich schlafen oder spazieren, beobachte einen Film oder unterhalte mich mit einem Freund oder einer Freundin, Zeit vergeht, in welcher die Stempel meines erfundenen Textes wieder zu Buchstaben, zu isolierten Tönen zerfallen, so dass ich meine Gedanken, meine Wörter und Sätze genau so zu lesen oder zu hören vermag, als wären sie von einem anderen Menschen notiert. Ja, so könnte das sein, so wollen wir das zunächst einmal annehmen. — Noch zu tun in dieser Nacht: Dimensionen der Papiertiere erspüren / µm = 10–6 m = 0,000.001 m. — stop
standardminute
delta : 6.05 — Wie ich abends im Warenhaus eine moderne Standardminute erlebte, das will ich rasch noch berichten, eh mir die Augen zufallen, müde vom Wundern. Eine ganze Minute also. In dieser Minute, an ihrem Anfang genauer, befindet sich eine Kassiererin mittleren Alters, unruhig sind Augen und Mund, und ihre flatternden Hände, Werkzeuge, die Waren über Lichttaster ziehen. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr langsam bewegt, ein wahres Reptil, würdevoll, bedächtig. Ein wenig zerstreut scheint sie zu sein, hebt immer wieder den Blick, beobachtet scheu die Bewegung des Bandes, die Reise ihrer persönlichen Ware: eine Schachtel Pralinen, ein Fläschchen Jägermeister, Salzstangen, drei Dosen Katzenfutter, ein duzend Schokoladenostereier in Grün, in Gelb, in Rot, und ein weiteres Fläschchen noch hinterher. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ist es schon zu spät. Zwei Aprikosensafttüten schieben sich, einem Eisbrecher ähnlich, in den wartenden Bezirk der alten Frau hinein, falten Eier, Salzstangen und andere Warenteile steil zur Seite. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höflich um Geduld bittet, um Nachsicht, eine freundliche, eine herzerwärmende Stimme, und das Geräusch einer Flasche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun aufrichtet, wie ihre hellen Augen meine Hände beobachten, die versuchen, weiteres Unglück abzuwenden. Ungläubig schaut sie mich an, dann das Förderband entlang, das weitere Waren voran transportiert. Ja, bald stehen wir und staunen zu zweit, und auch die Verkäuferin ist zur mitfühlenden Beobachterin geworden. Sie lurt zum Warenstrom hin, der über die Kante der Rollbandtheke in die Tiefe stürzt. Ihre Hände, diese seltsamen Hände, sie arbeiten weiter und weiter, schieben und schieben, als führten sie ein eigenes Leben oder gehörten schon der Maschine mit ihrem Rotlichtaugengehirn. stop. Minute zu Ende. stop. Guten Morgen. — stop
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe einem Haus, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, – ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: „Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt, da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt, mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann Dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis.“
hydra No 2
lima : 22.55 — Es schneit angeblich, mag es schneien. Über dem Schnee und seinen Wolken scheint der Mond. — Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs samtig heiße, flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht er, steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? — stop
animals
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : ANIMALS
Gestern, stellen Sie sich vor, habe ich die erste Fotografie eines Papiertierchens entgegengenommen. Sie zeigt das kleine Wesen, wie es sich durch die Luft eines abgedunkelten Labors bewegt. Bin voller Freude, habe den halben Tag herumgetanzt, sollte langsam zur Ruhe kommen. Eine Kopie der Aufnahme ist für Sie beigefügt. Sieht das nicht kraftvoll aus, eine Persönlichkeit, ein Wunder! Ich komme meinen Träumen nun endlich näher, meinen Wünschen, meinen Geschichten in der Wirklichkeit. Nehmen wir einmal an, lieber reisender Freund, ein Bogen lebenden Papiers in der Größe 15 x 30 Zentimeter würde aus 750000 Tieren bestehen, ja, und nehmen wir einmal an, dieses Papier würde schon jetzt in unserer Welt existieren, dann würden vor uns auf einem Schreibtisch 750000 kleine Herzen schlagen. Da muss doch irgendein Geräusch wahrzunehmen sein, so viele Herzen in nächster Nähe auf engstem Raum. Auch einen Hauch von Luft wird man wohl spüren, eine Strömung, weil sie alle durcheinander atmen. — Ahoi! Ihr Louis
gesendet am
06.02.2010
23.55 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
brooklynites
tango : 6.03 – Das langsame Durchqueren einer nächtlichen Landschaft fremder Stimmen: Ten-four. David-David. Woman, black, in confusion. 75, Varickstreet. 12th floor. Ten-four. Ten-four. Sergeant? — Ich hatte, meiner neuen Leidenschaft folgend, den Klängen des New Yorker Polizeifunks zuzuhören, gegen Mitternacht eine Verbindung über den Atlantik hergestellt. Wie das dann genau gekommen sein mag, all das Flüstern in der Dunkelheit, kann ich nicht sagen, vielleicht war zu einer Zeit, da ich noch wach gewesen war, meine transatlantische Übertragung für zwei oder drei Stunden unterbrochen gewesen, oder man schwieg in New York, weshalb ich die geöffnete Verbindung vergessen haben könnte. Ich schlief jedenfalls ein gegen zwei Uhr, müde geworden vom Denken, und wie ich so schlief, kehrten die Stimmen zurück, ich träumte Geräusche, die in der amerikanischen Sprache plauderten. Ten-Four. Ten-four. Auch meine eigene Stimme, sie berichtete von einer Wanderung durch Brooklyn, war in der Dämmerung deutlich zu hören gewesen. Ein schnelles, ein rasendes Sprechen, Louis, als hinge sein Leben davon ab. Dann fehlte ihm ein Wort, ein entscheidendes Wort. Von suchender Stille erwacht. — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop