charlie : 0.15 — Er habe, erzählte mein Vater, kurz nach dem Krieg ein Radio gebaut, einen Kurzwellenempfänger, um die Sender der amerikanischen Befreiungsarmee empfangen zu können. Er hoffte, Benny Goodman hören zu können, Gene Krupa, Glenn Miller, Duke Ellington, alle jene großartigen Musiker. An diese Geschichte erinnerte ich mich, während ich gestern durch den warmen Tag spazierte, Spinnen seilten von den Bäumen, Spechte mit roten Köpfen segelten über die Wege am Fluss, Dioden, Widerstände, der Geruch von Zinn, das Glimmen einer Lötkolbenspitze. Plötzlich die Vorstellung, mein Vater könnte in den Stunden meines Spazierganges irgendwo da oben jenseits der Baumkronen in einem hellen Zimmer sitzen, auf einem weißen Stuhl an einem weißen Tisch. Wie er sich nach vorn beugt, wie er ein Radio konstruiert, einen sensiblen Detektor, um unsere diesseitigen Stimmen wahrnehmen zu können. Dampf stieg auf, ein heller, dünner Faden. Kaum hundert Meter war ich weitergekommen, da war aus der Vorstellung eines Radios die Hoffnung eines Funkgerätes geworden. — stop
Aus der Wörtersammlung: innen
luftzungen
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LUFTZUNGEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Was für ein stürmischer Morgen hier bei uns in Mitteleuropa. Wetter, wie ich es mir wünsche in diesen Tagen. Eiskörner pfeifen durch die Luft, Wolkendämmerung. Ich vermute, Ihr werdet bemerkt haben, mein Vater ist gestorben. Drei Stunden war ich noch an seinem Bett gewesen, habe von Bildern eines nahen Sees berichtet, den ich vom Zimmer des Hospitals aus sehen konnte. Ein Schaufelraddampfer fuhr hin und her, der Wind schrieb mit Luftzungen schimmernde Spuren ins Wasser, Möwen segelten über den Uferbäumen. Wie mein Vater gestorben ist, war es noch hell, die Sonne nicht untergegangen, weiß der Himmel, ob er sie zu erkennen vermochte, sein Blick war ein Blick, wie ich meinte, der schon nach innen sich richtete. Wenn ich Euch sage, es ist nicht wirklich begreifbar, nicht wirklich fühlbar, dass ein geliebter Mensch nie wieder neben uns am Tisch sitzen wird, werdet Ihr vielleicht verstehen, wovon ich spreche. Dieses Niewieder macht einen Eindruck von Unwirklichkeit, von Unwirksamkeit, als würde man versuchen, eine Trompete vom Schallbecher her zu bespielen. Und doch, nach und nach werde ich ruhiger, ich schlafe tief, träume seltsame Geschichten. Ja, so ist das, liebe Daisy, liebe Violet. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis — stop
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22.04.2012
7.05 MEZ
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trillerpfeife
alpha : 8.25 — Vor einem Jahr im Frühling, während eines Spazierganges, erzählte eine Freundin vom Tod ihres Vaters. Dass sie sich lange Zeit vorbereitet habe. Ihn manchmal betrachtete, als sei er schon nicht mehr anwesend, eine Vorstellung, eine Erinnerung. Sie habe ihn dann berührt, um sich zu orientieren. In den letzten Jahren seines Lebens habe ihr Vater vorwiegend geschlafen. Er konnte die Berge vor seinem Fenster nicht mehr sehen, obwohl er noch gute Augen hatte, eine Bewegung, als würde er seinen Blick nach innen richten. Als dann der Vater tatsächlich gestorben war, sei nichts so gewesen, wie sie es sich ausgemalt hatte. Man könne sich, sagte sie, nicht vorbereiten, es sei ein sehr merkwürdiges Gefühl, ein Passagengefühl, wie auf einer wilden Schaukel fliegend. – Die Schuhe meines Vaters an diesem Morgen. Der Sessel, in dem er saß. Sein Fotoapparat. Seine Computermaschine. Sein Radio. Seine Brille. Die Trillerpfeife, mit welcher er uns um Hilfe rufen konnte. Seine Uhr. — stop
das licht eines nahenden todes
charlie : 15.14 — Wie ein nahender Tod in den Bewegungen der Menschen auf Hospitalfluren, in Gesprächen, Nachrichten, Telefonaten, auch in den Blicken pflegender Schwestern und behandelnder Ärztinnen nach und nach erscheint. Das Licht des kommenden Endes wird sichtbar im Leiserwerden der Stimme des Sterbenden, ein Mund, der sich öffnet wie der Mund eines jungen Vogels, nach Luft suchend, nach etwas Wasser, Tee, Aprikose. Letzte zärtliche Berührungen, die Kühle der Glieder, wandernde Farben der Haut, liebevolle Sätze von Dank, Klagen, Weinen, Gebete. Ja, das Licht eines nahenden Todes erscheint nach und nach unaufhaltsam wie das Licht der Farben auf einer Polaroidfotografie erscheint. — stop
indianer
~ : oe som
to : louis
subject : INDIANER
date : mar 30 12 9.28 a.m.
Gestern Abend, stürmische See, war Miller mit einer Schachtel Fotografien Noe’s vom Festland zurückgekehrt. Es dunkelte bereits, als er mit dem Segelschiff Esther Valdez zufrieden eintraf. Wir saßen dann die halbe Nacht an einem Tisch, um eine erste Fotografie unter drei Dutzend weiterer Fotografien Noe’s auszuwählen. Noe als Säugling auf einem Wickeltisch liegend. Noe in einer Badewanne mit einem Hütchen auf dem Kopf. Er war damals vier oder fünf Jahre alt gewesen und lachte in die Kamera. Noe zur Karnevalszeit, ein Indianer. Noe wie er ein kleines Mädchen küsst, das größer ist als er selbst. Ein Passbild in Farbe. Noe ist bereits weit über 20 Jahre alt gewesen, mit diesem Bild wollen wir beginnen, und so haben wir Noes Fotografie in Glas gepanzert. Miller machte sich dann nach etwas Schlaf höchstpersönlich auf den Weg abwärts. Er ist in diesem Moment auf Tiefe 250 Fuß angekommen, noch zwei Stunden und er wird Noe erreichen. Miller meldet, er könne Noe bereits erkennen, einen leuchtenden Punkt, sagt Miller, einen gleichmäßig blinkenden Punkt. Noe selbst scheint zufrieden zu sein. Er ist wach, wir hören seinen Atem. Noch vor wenigen Minuten versuchte er seinen Blick nach oben zu richten, aber seine Kräfte sind zu gering, um seinen schweren Anzug bewegen zu können. Er sei nicht mehr der Jüngste, sagte Noe. Er sehne sich nach einer Uhr, setzte er hinzu. — Das Meer ist heute ruhig. Ein sanft blauer Himmel über uns. Nichts an dieser Stelle deutet daraufhin, welch dramatische Geschichte sich unter uns in aller Stille ereignet. Ob Noe sich wieder erkennen wird? — Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
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30.03.2012
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zungenbäume
india : 6.08 — Ein besonderer Baum im nahenden Frühling, erste Knospen faszinierenden Gewebes. Sobald man sich anschleicht, wird man erkennen, nicht Blätter, nicht Blüten, aber Hände, eine Ahnung zunächst, dann deutlich zu erkennen, menschliche Hände im Alter von sechs oder sieben Wochen, wie sie wachsen, wie sie sich entfalten, wie sie mit erster Bewegung beginnen. Auf einem weiteren Baum sprießen Ohren und Nasen, dann wieder Hände, vielleicht weil man gerade sehr viel Hände benötigt. Und Augenbäume, Herzbäume, Nierenbäume, selbst Mund- und Zungenbäume sind denkbar, und weitere schrecklich schöne Kreaturen. — stop
255 jahre
echo : 6.05 — Ich habe Folgendes ausgerechnet. Wenn ich jeden Tag 16 Stunden arbeitete, in jeder dieser Stunden je eine Minute mit einem Menschen sprechen würde, ihm oder ihr die Hand geben, ihm oder ihr in die Augen sehen, dann könnte ich mit 880 Menschen am Ende eines Tages Kontakt aufgenommen haben. Wenn ich nun 255 Jahre in dieser Weise arbeitete, ohne je einen Tag eine Pause einzulegen oder Urlaub zu nehmen, wäre ich schließlich in der Lage, 82 Millionen Menschen persönlich kennenzulernen. Ich sollte möglichst mit älteren Menschen beginnen, sollte nach einem geeigneten, vorzugsweise mobilen Haus für mein Unternehmen suchen, nach Sponsoren, Verpflegung, Warteräumen, einem Stab von Mitarbeitern. Ich stelle mir vor, wie meine begrüßende Hand nach ersten Jahrzehnten der Arbeit sehr hart geworden sein wird, von echsenartiger Haut, auch könnte vielleicht ein gewisses Bedürfnis entstanden sein, morgens bereits vor nahenden Besuchern die Flucht zu ergreifen. — Was wäre nun zu unternehmen mit all den wahren, den erfundenen, den bescheidenen, den großartigen Minutengeschichten, die sich wie Vögel in Schwärmen um mich herum versammelt haben werden? — stop
manhattan : subwayaugen
tango : 0.02 — Ich fahre in der Subway, ein Buch in Händen, in oder über der Stadt unter Menschen sitzend dahin und bändige meinen Blick. Ich kann nun tatsächlich lesen, also abwesend sein. Oder ich kann vorgeben, als ob ich lesen würde. In diesem Fall betrachte ich Buchstaben oder die Seite eines Buches und ihre Zeichen oder das Buch insgesamt. Andere, die in meiner Nähe reisen, betrachten ihre Hände oder ihr Telefon oder eine Zeitung. Wieder andere lesen in der Zeitung, sind demzufolge tatsächlich nicht anwesend oder nur zum Teil anwesend, während ein Auge den Zeilen folgt, trachtet das andere Auge nach innen gerichtet in den kommenden Abend oder auf den vergangenen Morgen zurück. Gestern, auf der Fahrt mit der Linie D von der 96. Straße West nach Coney Island, habe ich ein schönes Buch beobachtet. E.B.Whites Essay Here is New York. stop. Regen. stop. Es ist warm geworden. Manche New Yorker tragen Sommerkleidung für einen Tag, andere Handschuhe. In der Dämmerung in den Pfützen der Straßen wieder blinkende, dampfende Hunde, künstliche Lichtnaturen. Gespenster. — stop
ein erstes wort
nordpol : 22.15 — Ob ich mich einmal an meine kindliche Stimme erinnern könnte? Irgendwo in meinem Kopf sollte sie sich noch befinden, eine Spur, eine Ahnung des ersten Wortes, das ich in meinem Leben ausgesprochen habe. Dort, in der Ahnung genau dieses Wortes, mit der Suche beginnen. — stop
alpenregen
~ : oe som
to : louis
subject : ALPENREGEN
date : okt 31 11 10.52 p.m.
Besten Dank, lieber Louis, für das feine Tonmaterial, das Du uns gesendet hast. Wir haben Deine Alpenregengeräusche am vergangenen Donnerstag zu Noe in die Tiefe übermittelt. Große Freude! Gleichwohl sehnt Noe sich nach wie vor eine Uhr herbei, die wir ihm leider nicht gewähren können. Es ist nun folgendes geschehen. Noe presste, vielleicht zunächst ohne einen Vorsatz, seine rechte Hand gegen die Innenseite seines Taucheranzuges und konnte in dieser Weise Pulse erspüren. Von diesem Moment an zählte Noe die Schläge seines Herzens, er zählte bis er die Zahl 70 erreichte, eine Minute Zeit, seit zwei Tagen immerzu derselbe Prozess der Zählung mit lauter Stimme, eine Demonstration seiner Willensstärke, die uns nach und nach unheimlich wird, Noe, eine Uhr, auch schlafend, dämmernd, träumend, eine Uhr, verdammt, ich war mehrfach versucht gewesen, Noes Mikrophon auszuschalten, Ruhe an Bord, eine Gewalttat, die Bewegung eines kleinen Fingers nur, Stille, und doch nicht Stille, weil ich die Fortsetzung des Zählens in der Tiefe annehmen müsste, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig. Kurz nach 10 Uhr, eiskalte Nacht, aufkommender Wind von Nordwest, wir haben schweren Seegang zu erwarten. Dein OE SOM – Ahoi!
gesendet am
31.10.2011
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