Aus der Wörtersammlung: lauschen

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von nachthüten

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echo : 6.48 — Es war das ers­te Mal, dass ich ein Hut­ge­schäft betre­ten habe. Es roch sehr gut, es roch nach fei­nen Stof­fen und nach Leder, es roch eigent­lich eher nach einem Schuh­ge­schäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hin­ter dem Tre­sen trug natür­lich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näher­te war er gera­de in ein Gespräch ver­tieft mit einem Herrn, der sich Hüte vor­füh­ren ließ. Er schien über sehr viel Geld zu ver­fü­gen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unver­züg­lich kauf­te. Ein Turm von Hut­schach­teln, so hoch wie der Mann selbst, hat­te sich neben ihm gebil­det. Der Turm wur­de von einem Ange­stell­ten des Ladens fest­ge­hal­ten, damit er nicht stürz­te. Ein wei­te­rer jun­ger Mann klet­ter­te auf einer Lei­ter hin­ter dem Tre­sen vor einem Regal her­um, das aus einem frü­he­ren Jahr­hun­dert zu kom­men schien, das heißt, das Regal war übrig geblie­ben, wäh­rend ande­re Gegen­stän­de der­sel­ben Zeit längst ver­schwun­den waren. Eini­ge Minu­ten nahm kei­ner der Men­schen, die sich in dem Laden befan­den, Notiz von mir, und so konn­te ich die­se klei­ne Geschich­te beob­ach­ten, auch den Aus­füh­run­gen lau­schen, mit wel­chen der Mann, der Hüte kauf­te, sein Ver­hal­ten begrün­de­te. Obwohl auf sei­nem Kopf noch sehr viel Haar zu ent­de­cken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedan­ken dar­über zu machen, wie lan­ge er über sein Haar noch ver­fü­gen wür­de. Er schien damit zu rech­nen, dass er bald kein ein­zi­ges oder nur räu­di­ges Haar auf dem Kopf tra­gen wür­de, dar­un­ter blo­ße Haut, nichts also als sei­nen Kopf, was für ihn nicht akzep­ta­bel sein konn­te. Er woll­te nun vor­sorg­lich Hüte wie Fri­su­ren besit­zen, woll­te nichts ande­res, als mäch­tig sein über sei­ne Zukunft, vor­be­rei­tet, sagen wir. Selbst noch nachts, stell­te er sich vor, soll­te ein Hut sei­nen Kopf bede­cken, wes­we­gen er nach Nacht­hü­ten frag­te, aber so etwas gibt es nicht, oder noch nicht, Müt­zen ja, aber nicht Hüte, nicht Nacht­hü­te, was selt­sam ist, nicht wahr, dass es alles Mög­li­che gibt auf die­ser Welt, aber kei­ne Hüte, die rei­ne Nacht­hü­te sind. Seit ich das Hut­ge­schäft vor Stun­den ver­las­sen habe, den­ke ich dar­über nach, was einen Nacht­hut genau genom­men aus­ma­chen wür­de, was ihn von ande­ren Hüten unter­schei­den wür­de. Es müss­te ver­mut­lich sehr weich sein, das könn­te sein. Sehr viel wei­ter bin ich in mei­nen Über­le­gun­gen bis­lang nicht gekom­men. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schnee­wol­ken nähern sich von Nord­os­ten her. – stop

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fingergeschichte

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india : 6.14 — Neh­men wir ein­mal an, irgend­wann in den kom­men­den Jahr­zehn­ten wür­de es mög­lich sein, einen Laden zu betre­ten wie man heu­te eine Apo­the­ke betritt, um sich einen sechs­ten Fin­ger für die rech­te Hand zu bestel­len. Oder ein drit­tes Ohr, oder ein fünf­tes Auge, eines, mit dem man schla­fen könn­te, wäh­rend alle wei­te­ren Augen das Gesche­hen in der nächs­ten Umge­bung über­wa­chen. Was darf es denn bit­te sein, wird man gefragt. Man ant­wor­tet unver­züg­lich: Guten Abend, ich hät­te ger­ne einen Fin­ger, sagen Sie, wann könn­te der Fin­ger einer rech­ten Hand frü­hes­tens fer­tig aus­ge­wach­sen sein? Und schon ist man wie­der auf die Stra­ße getre­ten. Man ist zufrie­den, ja glück­lich, weil man sich schon lan­ge Zeit einen sechs­ten Fin­ger wünsch­te, sie sind nicht ganz bil­lig zu haben, man muss sich einen sechs­ten Fin­ger sehr wohl über­le­gen. Aber wenn man den Fin­ger dann ver­bind­lich bestellt haben wird, ist alles ganz ein­fach gewor­den. Ein oder zwei Wochen, nicht län­ger wird man war­ten, bis man den Fin­ger in sich wach­sen fühlt. Es ist ein schmerz­lo­ser Vor­gang, eine lang erprob­te Sache, man hat schon viel vom Wach­sen der Fin­ger gehört. Der ein oder ande­re Freund ver­fügt bereits über Füße, auf wel­chen man sehr viel bes­ser ste­hen kann, als noch zuvor. Auch sind Men­schen, die über Ohren gebie­ten, mit wel­chen man von den Schul­tern aus die Welt belau­schen kann, längst kei­ne Sel­ten­heit. Irgend­wo im Nor­den soll eine Frau exis­tie­ren, die flie­gen kann, ein Wunsch viel­leicht, Legen­de, aber neh­men wir doch ein­mal an, es wür­den bald Läden exis­tie­ren für flie­gen­de Men­schen, oder Läden für moder­ne Kie­men­we­sen, wenn doch das Was­ser welt­weit gegen die Küs­ten steigt. — Frü­her Mor­gen. Die­ser klei­ne Text wur­de in einer Stra­ßen­bahn notiert. Die Stra­ßen damp­fen. Ich bin sehr schön wach gewor­den, weil ich durch­ge­schüt­telt wor­den bin. Um mich her­um schla­fen noch ein paar sehr müde Men­schen. Es ist eine sehr alte Stra­ßen­bahn. Über uns leuch­tet Glüh­bir­nen­licht. — stop

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sonar

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sier­ra : 11.28 — Im Den­ken von Zeit zu Zeit laut und deut­lich aus­ge­spro­che­ne Wör­ter: Das ist ja unglaub­lich, nein, fan­gen wir noch ein­mal von vor­ne an, was habe ich zunächst gedacht? — Hör­ba­re Sät­ze. Atol­le. — Ich über­leg­te, wie viel Zeit von einem Gedan­ken zum nächs­ten Gedan­ken ver­geht, und was in die­ser Zeit, die ich ohne einen Gedan­ken zu ver­brin­gen mei­ne, eigent­lich geschieht. Ein selt­sa­mes Gefühl, die Vor­stel­lung der Gedan­ken­stil­le. Eine Besich­ti­gung der Luft. War­ten. Lau­schen. — stop

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staten island ferry : prozession

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nord­pol : 5.55 – Eine Geschich­te ist zu erzäh­len an die­sem Mor­gen küh­ler Luft kurz vor Sep­tem­ber. Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich bereits vor­ges­tern, nachts, bei mir zu Hau­se, weil ich mich nicht ent­schei­den konn­te, was ich unter vie­len Din­gen, die zu tun gewe­sen waren, zunächst erle­di­gen soll­te, also mach­te ich alles zur glei­chen Zeit. Ich hat­te eine Enten­brust zu Mor­cheln und Pflau­men gelegt. Außer­dem hat­te ich mir vor­ge­nom­men, ein wei­te­res ana­to­mi­sches Ton­band abzu­hö­ren, eine jugend­li­che Stim­me berich­te­te vom Dach des Kühl­schran­kes aus lei­se vor sich, wäh­rend ich kochend Fern­seh­bil­der eines Hur­ri­kans beob­ach­te­te, der sich auf die Stadt New York zube­weg­te. > Wenn ich von mei­nen Wochen im Prä­pa­rier­saal spre­che, dann spre­che ich ger­ne von mei­ner Traum­zeit. stop > Zu die­sem Zeit­punkt, das ist fest­zu­hal­ten, war ich nicht ganz bei der Sache gewe­sen, nicht wirk­lich in der Nähe der Gedan­ken, die ein jun­ger Mann für mich aus­ge­spro­chen hat­te, ande­rer­seits auch nicht aus­rei­chend kon­zen­triert auf das Gesche­hen jen­seits des atlan­ti­schen Oze­ans. Ein­mal stell­te ich den Ton des Fern­seh­ge­rä­tes lau­ter, wen­de­te die Brust des Vogels in der Pfan­ne und hör­te genau in die­sem Moment, der Schiffs­ver­kehr um Man­hat­tan her­um sei ein­ge­stellt, das war kurz nach Mit­ter­nacht euro­päi­scher Zeit gewe­sen. Ich mein­te außer­dem gehört zu haben, man sei gera­de damit beschäf­tigt, die Fäh­ren der Sta­ten Island Ver­bin­dung den Hud­son River hin­auf, in eine siche­re Umge­bung zu trans­fe­rie­ren. Ein fei­nes Bild, das sich vor mei­nen Augen sofort ent­wi­ckel­te. Acht oran­ge­far­be­ne Schif­fe in einer Rei­he hin­ter­ein­an­der auf dem gro­ßen Fluss, Schif­fe, die sich gewöhn­li­cher­wei­se pen­delnd anein­an­der vor­bei bewe­gen. Ich stürm­te aus der Küche, in der Hoff­nung auf dem Fern­seh­schirm ein Bild zu sehen, das dem gera­de eben noch in mei­nem Kopf ent­wor­fe­nen Bild ähn­lich gewe­sen sein könn­te. Anstatt einer Fähr­ge­schich­te, war nun jedoch vom Regen die Rede, von den Win­den des Hur­ri­kans, die über den feuch­ten Strand nahe der Stadt Oce­an Pines feg­ten. Ein Repor­ter, der tropf­te, ver­harr­te tap­fer, Füße im Was­ser, vor einer Fern­seh­ka­me­ra, die in grö­ße­rer Ent­fer­nung, dem­zu­fol­ge sicher, mon­tiert gewe­sen war. Er hielt ein Mikro­phon in der Hand, das merk­wür­dig fau­chen­de Geräu­sche erzeug­te. Möwen, spit­ze gel­be Schnä­bel in den Sturm gerich­tet, ver­harr­ten in sei­ner Nähe, sie mach­ten einen zufrie­de­nen Ein­druck, authen­ti­sche Tie­re, wäh­rend ich, wei­ter­hin die Pro­zes­si­on der Fähr­schif­fe im Kopf, zurück in die Küche spa­zier­te. Ein selt­sa­mes Gefühl von Nicht­wirk­lich­keit in der Nähe mei­ner Feu­er­stel­le, ein gro­ßes Durch­ein­an­der, das ich zu sor­tie­ren ver­such­te, in dem ich bis in den frü­hen Mor­gen des Sonn­tags hin­ein, auf allen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Kanä­len ver­geb­lich Bewei­se dafür zu fin­den such­te, dass Fähr­schif­fe der Sta­ten Island Ver­bin­dung sich tat­säch­lich an die­sem spä­ten Sams­tag­abend, als ich mich nicht ent­schei­den konn­te, auf dem Hud­son River strom­auf­wärts beweg­ten. — stop. — Ende der Geschich­te. — stop

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segelohren

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india

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : SEGELOHREN

Lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let! Kühl ist die Luft gewor­den in den ver­gan­ge­nen Tagen. Als ob Herbst gewor­den sei, so eine Luft vol­ler Regen und Wind. Auf der Stra­ße lau­fen Men­schen her­um, die haben sich Trop­fen­fän­ger unter ihre Nasen gebun­den, die wund sind und geschwol­len. Ich selbst noch wohl­auf, was viel­leicht dar­in begrün­det sein könn­te, dass ich bereits jetzt schon kräf­ti­ge Wan­der­schu­he tra­ge für den kom­men­den Win­ter in New York. Will Euch eine Geschich­te notie­ren, an die­sem schö­nen, nas­sen Sonn­tag, die ich tat­säch­lich genau­so erlebt habe, wie ich sie erzäh­le, ob Ihr mir nun glau­ben wer­det oder nicht. Stellt Euch ein geräu­mi­ges Zim­mer vor. Ein gutes Dut­zend Ohren pro­pel­ler­ten dort durch die Luft, sie waren Gäs­ten ent­kom­men, die in nächs­ter Nähe eines Rund­funk­emp­fän­gers Platz genom­men hat­ten, um Ella Fitz­ge­rald zu lau­schen: It Don’t Mean a Thing If It Ain’t Got That Swing. Ein merk­wür­di­ger Anblick war das gewe­sen, bald lagen kämp­fen­de Ohren in Schich­ten über zwei Laut­spre­chern des Radi­os, wie Foot­ball­spie­ler, sagen wir, eine ran­geln­de Ban­de zwit­schern­der Ohren, so dass in dem Zim­mer der Ver­samm­lung vom Kon­zert kaum noch etwas zu hören gewe­sen war, als die­se Geräu­sche des Kamp­fes. Man kämpf­te auch dann noch ver­bis­sen wei­ter, als das Radio längst aus­ge­schal­tet wor­den war, ver­mut­lich des­halb, weil man mein­te, die nun auf­tre­ten­de Stil­le sei nicht wirk­lich vor­han­den. Ich habe drei Stun­den in der Beob­ach­tung des Tumul­tes zuge­bracht. Dann bin ich nach Hau­se zurück ohne mei­ne Ohren. Seit­her war­te ich gera­de­zu taub gewor­den auf ihre Rück­kehr. Bis bald ein­mal wie­der. Cuc­cur­ru­cu! – Euer Louis

gesen­det am
03.07.2011
20.05 MESZ
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lou­is to dai­sy and violet »

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salamander

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echo : 16.22 — Das erfin­den­de Schrei­ben scheint ein Vor­gang des War­tens zu sein. Immer wie­der fällt etwas zu mir her­ein, ohne dass ich sagen könn­te, war­um gera­de die­ses und war­um gera­de jetzt. Merk­wür­di­ge Ver­schie­bun­gen der Spra­che in der Nähe ana­to­mi­scher Arbeit, indem ich, bei­spiels­wei­se, von inne­rer Schön­heit spre­che. stop. Nach­mit­tag. stop. Leich­ter Schnee­fall. stop 

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blattlicht

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lima : 0.01 — Und schon ist wie­der März gewor­den. War­me Luft pfeift übers Dach, und Blät­ter, Blät­ter von Son­nen­licht, sie schau­keln vorm Fens­ter. So fein sind sie gewirkt, dass nichts sie zu berüh­ren ver­mag als mei­ne Gedan­ken. Höchs­te Zeit von kleins­ten Wesen zu erzäh­len, wie man sie fin­det, da sie doch unsicht­bar sind, und wie man mit ihnen spre­chen oder rei­sen oder gemein­sam war­ten könn­te, sobald man ihnen begeg­net sein wird. — Papie­re­ne Herzen.
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5th avenue

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romeo : 18.52 — Im Traum ver­gan­ge­ne Nacht mit Geral­di­ne im Cen­tral Park spa­ziert. Ich erin­ne­re mich, es schnei­te. Ein Regen­schirm­tier­chen schweb­te frös­telnd über uns, und ich wun­der­te mich, dass Geral­di­ne das Wesen, das sich lang­sam um die eige­ne Ach­se dreh­te, nicht zu bemer­ken schien. Das lag viel­leicht dar­an, dass sie in einer pau­sen­lo­sen Art und Wei­se erzähl­te, als ob sie ahn­te, dass wir jeder­zeit erwa­chen und dann nie wie­der zuein­an­der­fin­den könn­ten. Im übri­gen beweg­te sie sich rück­wärts hüp­fend vor mir her, war som­mer­lich geklei­det, froh und glück­lich. Ich glau­be, ich habe in die­sem Traum zum ers­ten Mal Geral­di­nes Stim­me gehört und ihr Lachen. Sie berich­te­te, dass sie in der Nähe des Hau­ses, in dem sie vor ihrer Rei­se nach Euro­pa gemein­sam mit ihren Eltern und ihrer Zwil­lings­schwes­ter wohn­te, Audrey Hepb­urn bei der Arbeit an dem Film Break­fast at Tiffany’s beob­ach­ten konn­te, und dass sie die­se Schau­spie­le­rin sehr bewun­dern wür­de, aber doch viel lie­ber For­sche­rin sein wol­le. Kurz dar­auf weck­te mich eine Feu­er­wehr­si­re­ne und ich war erleich­tert, dass mir im Traum Geraldine’s Schick­sal nicht bekannt gewe­sen war. – Heu­te ist also Sonn­tag, und es schneit schon wie­der. Vor weni­gen Minu­ten habe ich etwas ent­deckt, über das ich mich freue. Ich habe bemerkt, dass in mei­nem Leben das pres­sen­de Den­ken immer sel­te­ner, das lau­schen­de Den­ken hin­ge­gen immer häu­fi­ger zur Anwen­dung kommt. Guten Abend, gute Nacht!