Aus der Wörtersammlung: leere

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eine unerhörte geschichte

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alpha : 6.20 — Eine uner­hör­te Geschich­te soll am ver­gan­ge­nen Sams­tag­abend auf der Sta­ten Island Fäh­re MS John F. Ken­ne­dy ihren Aus­gang genom­men haben. Das Schiff war auf dem Weg zurück nach Man­hat­tan gewe­sen, als drei jun­ge Män­ner eine jun­ge Möwe lock­ten, und zwar mit hand­war­men Rosi­nen, die sie dem Tier, das auf einer Reling saß, vor die Füße war­fen, so dass es sich auf den Boden begab, wo es gefan­gen wer­den konn­te. Bei den jun­gen Män­nern han­del­te es sich um Timo­thy Waken, Bill L. Ander­son, sowie Max Aurel Ste­ven­son, alle drei leben in Brook­lyn von Kind­heit an. Sie waren wohl stolz auf ihr Han­deln gewe­sen, weil sie sich film­ten, wäh­rend sie das erschro­cke­ne Tier mit selt­sa­men Bäl­len zwangs­wei­se füt­ter­ten, Bäl­len, die prall mit Heli­um oder einem ande­ren leich­ten Gas gefüllt wor­den waren, wes­halb das Tier, als man es wie­der in die Frei­heit ent­ließ, wild zu schrei­en begann, ver­mut­lich des­halb, weil es bald bemerk­te, dass sich das Ver­hal­ten sei­nes Kör­pers in der Luft stark ver­än­dert hat­te. Die Möwe konn­te nicht mehr lan­den, immer wie­der fass­ten ihre Füße ins Lee­re, wenn sie nach der Reling der John F. Ken­ne­dy grei­fen woll­te. Einen Ver­such nach dem ande­ren unter­nahm die trau­ri­ge Krea­tur, bis sie im letz­ten Moment vor töd­li­cher Erschöp­fung doch noch erfolg­reich war. Nun aber muss­te sich die Möwe fest mit dem Schiff ver­bin­den, um nicht sofort wie­der auf­zu­stei­gen, ihr Bauch war rund, sie schien star­ke Schmer­zen zu haben und sich zu fürch­ten vor den jun­gen Män­nern, die sie film­ten, die ihr mit einem Schein­wer­fer ins Ant­litz leuch­te­ten. Die Möwe hat­te eine rosa Zun­ge, sie war zu die­sem Zeit­punkt die ein­zi­ge Möwe noch an Bord, alle ande­ren Tie­re waren west­wärts nach New Jer­sey geflüch­tet. Gegen 10 Uhr und drei­ßig Minu­ten, kurz bevor das Fähr­schiff Man­hat­tan erreich­te, ver­lie­ßen die Möwe ihre Kräf­te. Mit einem lei­sen, ver­zwei­fel­ten Ton lös­te sie sich vom Schiff. Sie war so schwach, dass sie die Flü­gel hän­gen ließ und lang­sam, wie ein Zep­pe­lin den Bat­tery Park in 25 Fuß Höhe durch­quer­te. Ein leich­ter Wind trieb das Tier die Sixth Ave­nue nord­wärts, wo es mehr­fach von Zeu­gen gesich­tet wur­de, ent­we­der von den Fens­tern der Wohn­häu­ser aus oder vom Boden her. Kurz vor Mit­ter­nacht wur­de die Feu­er­wa­che nahe Washing­ton Squa­re Park alar­miert. Dort genau, in die­sem Park, wur­de die Möwe schließ­lich vom Him­mel geholt. Behut­sam wur­de das Tier in den Arm genom­men. Es hat­te die Augen geschlos­sen und war voll­stän­dig stumm. — stop

polaroidzimmerlicht

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depesche aus neuseeland

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ulys­ses: 6.58 — Viel­leicht liegt die Foto­gra­fie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flug­ha­fen mit ihrem Han­dy von mir mach­te, gera­de eben in Neu­see­land auf einem Holz­tisch in der Küche ihres Hau­ses, dun­kel­grü­ne Wei­den, Scha­fe vor den Fens­tern. Ja, viel­leicht, das ist denk­bar. Sicher ist, dass die­se Auf­nah­me tat­säch­lich gemacht wur­de, und dass ich auf ihr ver­mut­lich etwas unru­hig wir­ken könn­te, weil ich Rahel so vie­le Jah­re nicht gese­hen hat­te, wie sie plötz­lich vor mir sitzt, ein Geist sozu­sa­gen, ich glaub­te, sie sei längst gestor­ben. Man hat­te mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plau­si­bel, so wie Rahel leb­te. Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de war sie in dem Moment der Nach­richt ihres Able­bens nach Jah­ren voll­kom­me­ner Abwe­sen­heit, wie­der zu einer Anwe­sen­den gewor­den, eine Tote nun mit einem Sta­tus. Jah­re war sie ein Nichts gewe­sen, weder da noch dort, eine Lee­re. Und plötz­lich saß sie in mei­ner Gegen­wart im Zug und nann­te mich beim Namen. Sie wun­der­te sich, sie frag­te: War­um siehst Du mich so selt­sam an? Ich ant­wor­te­te, dass ich über­rascht sei. Lie­be Rahel, sag­te ich, ich kann noch nicht glau­ben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigent­lich hören zu kön­nen. Lei­der war kaum Zeit für ein Gespräch gewe­sen, ehe Rahel aus dem Zug stür­men wür­de, um das Nacht­flug­zeug nach Sin­ga­pur noch zu errei­chen. In die­ser Zeit, die nur Minu­ten dau­er­te, erzähl­te sie, dass sie damals, vor vie­len Jah­ren, nach Neu­see­land gereist und dort geblie­ben sei. Sie habe Euro­pa bei­na­he ver­ges­sen, sie sei nur des­halb zurück­ge­kom­men, weil ihre Mut­ter gestor­ben war. Stolz erwähn­te sie, dass sie zwei Töch­ter habe, und ich stel­le mir nun vor, wie sie viel­leicht in die­sem Moment, da ich mei­nen Text notie­re, jene Foto­gra­fie gemein­sam betrach­ten, die auf dem höl­zer­nen Tisch der Küche in Neu­see­land liegt, aus­ge­druckt in schwar­zer und wei­ßer Far­be, das Gesicht eines Man­nes, der staunt, der im Grun­de glaubt, zu träu­men. Ges­tern war die­ses Bild zu mir gekom­men, durch Luft, sagen wir, Signa­le. Ich hör­te, wie mein Tele­fon ein Geräusch mach­te, als die Foto­gra­fie voll­stän­dig ein­ge­trof­fen war. Unter dem Bild war eine klei­ne Notiz zu fin­den. Rahel schrieb: Lie­ber Lou­is, ich freu mich sehr, Dich gese­hen zu haben. Ich glaub­te, Du wärest nicht mehr unter uns. Mel­de mich wie­der. r. — stop

ping

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rom : umberto ecco

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alpha : 22.57 — Der Mann hin­ter dem Tre­sen ist ein freund­li­cher Mann, unra­siert, akku­rat gebü­gel­tes wei­ßes Hemd, ein hüb­sches, jun­ges Gesicht, das an den Wän­den auf zahl­rei­chen Foto­gra­fien wie­der­zu­fin­den ist, ver­mut­lich des­halb, weil man sich mit ihm zei­gen woll­te, abge­lich­tet sein, sagen wir, berühm­te Men­schen und ein­fa­che Men­schen, die ich nicht aus­ein­an­der­hal­ten kann, weil ich die berühm­ten Men­schen der Stadt Rom nicht ken­ne. Sie lächeln an der Sei­te des jun­gen Man­nes ste­hend, man­che schei­nen viel­leicht betrun­ken zu sein. Aber einen der foto­gra­fier­ten Män­ner habe ich schon ein­mal gese­hen, es han­delt sich bei die­sem Herrn um Umber­to Ecco. Der Schrift­stel­ler zeigt sei­ne Zäh­ne, er lacht in die Kame­ra. Umber­to Ecco scheint an die­sem Abend, der einem Stem­pel­auf­druck zufol­ge drei Jah­re zurück­liegt, äußerst gut gelaunt gewe­sen zu sein. Viel­leicht hat­te er gera­de einen die­ser herr­li­chen Espres­sos getrun­ken, wie ich an die­sem Mor­gen. Es war ver­mut­lich Win­ter gewe­sen, Umber­to Ecco trägt einen Hut und einen Man­tel mit einem Pelz­kra­gen. Oder es war Som­mer und Umber­to Ecco hat­te sich in der Jah­res­zeit ver­tan. Wie­der ist es sehr warm heu­te. Eine Ambu­lanz rast an der weit­ge­öff­ne­ten Tür des Cafes vor­bei, man kann das Geräusch der Sire­nen der Not den gan­zen Tag über ver­neh­men. Aber nachts ist es still in die­ser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Men­schen, die sie bewoh­nen. Es riecht nach war­mem Schin­ken in die­sem Moment. Auf dem Dis­play mei­nes Foto­ap­pa­ra­tes sind Säu­len zu sehen und Durch­leuch­tungs­ma­schi­nen und hun­der­te lee­re Plas­tik­fla­schen, Sub­stan­zen, die man nicht mit in die gro­ße, kal­te Kir­che am Peters­platz neh­men darf, sie könn­ten explo­die­ren. Ich hebe den Foto­ap­pa­rat leicht an und foto­gra­fie­re Umber­to Ecco, sodass er jetzt zwei­fach im Pelz­kra­gen exis­tiert. Wenn ich mir nicht vor­ge­nom­men hät­te, das Pan­the­on zu besu­chen, ich wür­de gern war­ten, Tage, Wochen, um nach­zu­se­hen, ob Umber­to Ecco zurück kom­men wird. Ich habe bemerkt, dass mei­ne Ohren knis­tern wenn ich Kaf­fee trin­ke in Rom. — stop
ping

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lichtluftnetz

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india : 2.05 — Ich habe das Haus ver­las­sen. Es ist Nacht. Der Wind raschelt in den Blät­tern der Kas­ta­ni­en­bäu­me. Gera­de eben ist die letz­te Stra­ßen­bahn des Abends an mir vor­über gefah­ren, ein lee­res Gehäu­se, nur der Fah­rer war zu sehen gewe­sen. Ich sit­ze in einem Häus­chen einer Hal­te­stel­le, weil ich nach einer Erschei­nung suche. Ich hal­te mei­nen klei­nen Com­pu­ter in der einen Hand, mit der ande­ren navi­gie­re ich den Maus­zei­ger über den Bild­schirm, auf dem schon ein paar zar­te, stau­bi­ge Fal­ter sit­zen. Wenn ich die Anwei­sung gebe, Netz­werk­ver­bin­dun­gen anzu­zei­gen, die sich in mei­ner Nähe befin­den, ist da eine, die einen beson­de­ren Namen trägt: Licht­luft­netz. Die­ses Netz­werk exis­tiert seit unge­fähr drei oder vier Wochen. Es ist mit­tels eines Pass­wor­tes geschützt. Irgend­je­mand muss also das Wort Licht­luft­netz als Bezeich­nung für ein neu­es Netz­werk ein­ge­ge­ben haben. Eine fei­ne Erfin­dung. Wenn ich auf und ab gehe, kann ich sehen, dass sich die Signal­stär­ke des Netz­wer­kes ver­rin­gert oder ver­grö­ßert, ein nicht sehr star­ker Sen­der. Ich hat­te für einen Moment die Idee, dass viel­leicht über mir in den Bäu­men eine Per­son mit einem Com­pu­ter heim­lich woh­nen könn­te. Ich habe, man wird mich viel­leicht für ver­rückt erklä­ren, geru­fen: Hal­lo! Ist da jemand? Bis­her  war mein Rufen ver­geb­lich gewe­sen. Und so sitz ich nun ganz still und ver­su­che, mich mit jenem Netz­werk in Ver­bin­dung zu set­zen. Ich habe den Ver­dacht, dass ich bereits beob­ach­tet wer­de. Es ist eine wirk­lich schö­ne Nacht. So fried­lich. — stop
ping

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zerstreuung

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mari­ma­ba : 6.36 — In einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die den Schrift­stel­ler Jona­than Fran­zen fünf Tage lang wäh­rend einer Lese­rei­se beglei­tet, fol­gen­de berüh­ren­de Sze­ne, die sich im New Yor­ker Arbeits­zim­mer des Autors ereig­net. Jona­than Fran­zen hält sei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein preis­wer­tes Dell – Note­book, vor das Objek­tiv der Kame­ra. Er deu­tet auf eine Stel­le an der Rück­sei­te des Gerä­tes, dort soll frü­her ein­mal ein Fort­satz, eine Erhe­bung zu sehen gewe­sen sein. Er habe die­sen Fort­satz eigen­hän­dig abge­sägt. Es han­del­te sich um eine Buch­se für einen Ste­cker. Man konn­te dort das Inter­net ein­füh­ren, also eine Ver­bin­dung her­stel­len zwi­schen der Schreib­ma­schi­ne des Schrift­stel­lers und der Welt tau­sen­der Com­pu­ter da drau­ßen irgend­wo. Jona­than Fran­zen erklärt, er habe sei­nen Com­pu­ter bear­bei­tet, um der Ver­su­chung, sich mit dem Inter­net ver­bin­den zu wol­len, aus dem Weg zu gehen. Eine über­zeu­gen­de Tat. Im Moment, da ich die­se Sze­ne beob­ach­te, bemer­ke ich, dass die Ver­füg­bar­keit von Infor­ma­ti­on zu jeder Zeit auch in mei­nem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zer­streu­ung, Belie­big­keit erzeu­gen kann. Ich schei­ne in den Zei­chen, Bil­dern, Fil­men, die her­ein­kom­men, flüs­sig zu wer­den. Dage­gen ange­neh­me Gefüh­le, wenn ich die abge­schlos­se­ne Welt eines Buches in Hän­den hal­te. Frü­her ein­mal, sobald ich spa­zie­ren ging oder auf eine Rei­se, zur Arbeit, ins Thea­ter oder sonst wohin, ver­ließ ich nie­mals das Haus, ohne eines mei­ner zer­schlis­se­nen Unter­wegs­bü­cher mit mir zu neh­men. Wenn ich ein­mal doch kein Buch in der Hand oder Hosen­ta­sche bei mir hat­te, sofort das Gefühl, unbe­klei­det oder von Lee­re umge­ben zu sein. Als ob ich einen immer­wäh­ren­den Aus­weg in mei­ner Nähe wis­sen woll­te, ein Zim­mer von Wör­tern, in das ich mich jeder­zeit, manch­mal nur für Minu­ten, zurück­zie­hen konn­te, um fest zu wer­den. Da waren also Bücher von Mal­colm Lowry, Kenzabu­ro Oe, Tru­man Capo­te, Frie­de­ri­ke May­rö­cker, Wal­ter Ben­ja­min, Janet Frame, Georg C. Lich­ten­berg, Hein­rich von Kleist, Moni­ka Maron, Alex­an­der Klu­ge, Boho­u­mil Hra­bal, Johann Peter Hebel, Patri­cia High­s­mith, Eli­as Canet­ti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger. Irgend­wann, weiß der Teu­fel war­um, hör­te ich auf damit. Und doch tra­ge ich noch immer ein Buch in mei­ner Nähe. Ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher nicht län­ger in der Hand, ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher im Ruck­sack auf dem Rücken. — stop

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downtown south ferry : lorra

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nord­pol : 0.22 — Elends­men­schen unter Decken, unter Män­teln, unter Papp­kar­tons ver­bor­ge­ne Per­so­nen­we­sen, zer­schla­ge­ne, gefro­re­ne, eitern­de Gesich­ter zu Tau­sen­den auf der Stra­ße, in Tun­nels, Haus­ein­gän­gen, Parks. Ich kann nicht erken­nen, ob sie Frau­en oder Män­ner sind, sie spre­chen und bewe­gen sich nicht, oder nur sehr lang­sam, als wür­den sie sich in einer ande­ren Zeit befin­den. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu spre­chen ver­fügt, wan­dert in der Sub­way, eine äußerst schwie­ri­ge Arbeit, das Erzäh­len immer wie­der ein und der­sel­ben Geschich­te: Guten Abend, mei­ne Damen und Her­ren! Ich bit­te um ihre Auf­merk­sam­keit! Ich bin Lor­ra, ich bin 32 Jah­re alt, ich bin woh­nungs­los, ich habe kei­ne Arbeit, ich habe Kin­der, wir müs­sen über den Win­ter kom­men. Von Wagon zu Wagon. Von Zug zu Zug. Stun­de um Stun­de. Sie nimmt auch zu Essen, zu Trin­ken, Papier oder lee­re Fla­schen an. Alles hilft, sagt Lor­ra, alles hilft. Sie wird nicht ver­höhnt, ver­trie­ben oder miss­ach­tet, sie bekommt, so oft ich ihr in der Linie 5 down­town South Fer­ry begeg­ne­te, zwei oder drei Dol­lar über­reicht. Abends sitzt sie im War­te­saal der Fäh­re und schläft. Ein­mal nähert sich ein Poli­zist. Lor­ra war ein wenig zur Sei­te gefal­len. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schul­ter: Mam, ist alles in Ord­nung? Aber Lor­ra ant­wor­tet nicht. Ein zwei­ter Poli­zist kommt hin­zu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie rich­ten die schla­fen­de Frau gemein­sam auf. Sie tra­gen jetzt Hand­schu­he von Plas­tik. Sie spre­chen solan­ge lei­se auf Lor­ra ein, bis sie die Augen öff­net. Dann macht sie die Augen wie­der zu. — stop

ping

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belichtung

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romeo : 0.01 — Sobald ich einen Satz selt­sa­mer Din­ge gedacht habe, freu ich mich, kann dann nicht blei­ben, sprin­ge auf, wenn ich sit­ze, oder in die Luft, wenn ich bereits auf mei­nen Bei­nen gestan­den habe.  Ich soll­te ein­mal einen Film dre­hen, wie ich durch die Woh­nung hüp­fe. Oder durch eine U‑Bahn sege­le. Oder im Schlaf ein Rad schla­ge, weil ich sehr gern im Schlaf merk­wür­di­ge Din­ge vor­be­rei­te für Sät­ze im Wachen. - Eine Blei­stift­spit­ze an ein lee­res Blatt Papier gelegt, blitzt das Noch­nicht­sicht­ba­re durch Hand und Arm in den Kopf. Alles Notie­ren scheint ein Vor­gang der Belich­tung mit­tels Ver­dunk­lung zu sein. — stop

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schnecken

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echo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.

Frü­her Abend, ruhi­ge See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewoh­nen, krei­sen dicht über dem Was­ser. Gera­de eben mel­de­te Noe, zwei Put­zer­schne­cken näher­ten sich sei­nem Gesicht. Er müs­se jetzt vor­sich­tig sein, um sie nicht zu ver­let­zen, sofern sie sei­nen Mund entern soll­ten. Noe wohl­auf. Seit zwei Wochen sen­den wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Char­lie Par­ker gela­den, das mach­te ihn ner­vös, weil er sich nicht bewe­gen kann im Tau­cher­an­zug im Rhyth­mus, der schnell geht, ruhe­los. Wir pro­ben, for­schen nach sanf­te­ren Takes. Er kön­ne, das sei neu, berich­tet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht län­ger in Erin­ne­rung rufen, als wür­de sich das Wort Regen nach und nach ent­lee­ren. Wir haben ver­spro­chen, Regen für ihn auf­zu­zeich­nen und in die Tie­fe zu schi­cken. Ges­tern, als wir nachts allei­ne mit­ein­an­der spre­chen konn­ten, wünsch­te Noe, dass ich ihm das Schiff beschrei­be, unter wel­chem er schwebt. Er sei glück­lich, sag­te Noe, aber er seh­ne sich nach einer Uhr. — Dein OE SOM

gesen­det am
24.09.2011
1143 zeichen

oe som to louis »

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the empress of weehawken

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echo : 20.07 — Frü­her ein­mal, sobald ich spa­zie­ren ging oder auf eine Rei­se, zur Arbeit, ins Thea­ter oder sonst wohin, nie ver­ließ ich das Haus, ohne eines mei­ner zer­schlis­se­nen Unter­wegs­bü­cher mit mir zu füh­ren. Wenn ich ein­mal doch kein Buch in der Hand oder Hosen­ta­sche bei mir hat­te, sofort das Gefühl, unbe­klei­det oder von Lee­re umge­ben zu sein. Als ob ich einen immer­wäh­ren­den Aus­weg in mei­ner Nähe wis­sen woll­te, ein Zim­mer von Wör­tern, in das ich mich jeder­zeit, manch­mal nur für Minu­ten, zurück­zie­hen konn­te. Da waren also Bücher von Mal­colm Lowry, Kenzabu­ro Oe, Tru­man Capo­te, Frie­de­ri­ke May­rö­cker, Wal­ter Ben­ja­min, Janet Frame, Georg C. Lich­ten­berg, Hein­rich von Kleist, Moni­ka Maron, Alex­an­der Klu­ge, Boho­u­mil Hra­bal, Johann Peter Hebel, Patri­cia High­s­mith, Eli­as Canet­ti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger. Irgend­wann, weiß der Teu­fel war­um, hör­te ich auf damit. Seit­her tra­ge ich mei­ne Stra­ßen­bü­cher nicht mehr in der Hand, ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher auf dem Rücken. Ges­tern ist ein wei­te­res hin­zu­ge­kom­men, eines von Ire­ne Dische. Das Buch ist 257 Gramm schwer am Mor­gen, o,5 Gramm leich­ter als am Abend. Selt­sam. Ich habe kei­ne Erklä­rung für die­ses Ver­hal­ten. — stop

ping

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subway

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sier­ra : 22.01 — Immer wie­der der Ein­druck, Men­schen wür­den mit­tels rascheln­der Zei­tun­gen in U‑Bahnwagons mit­ein­an­der spre­chen. Eine Wei­le ist Ruhe, aber dann blät­tert jemand eine Sei­te um, und schon knis­tert der Zug in einer Wei­se fort, dass man mei­nen möch­te, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal habe ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von beson­de­rer Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, geschmei­di­ge Wesen, so dass kei­ner­lei Geräusch von ihnen aus­ge­hen wür­de, sobald man sie berühr­te. Eigen­tüm­li­che Stil­le ver­brei­te­te sich sofort, Lee­re, ein Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung.- stop. / dezem­ber­clo­ne 2007