himalaya : 2.28 — Gestern Abend machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Es war schön warm geworden, über den Opernplatz jagten ein paar Haifüssliere in Kopfhöhe unter den flanierenden Menschen dahin, eine wirklich schöne dunkelblaue Stunde. Und während ich so ging, telefonierte ich scheinbar, das heißt, ich hielt mein Mobiltelefon an mein rechtes Ohr, aber anstatt einer Stimme zuzuhören, die gar nicht aus dem Telefon herauskommen konnte, weil ich mit niemandem verbunden war, fotografierte ich wild herum, ohne freilich sehen zu können, was mir vor die Ohrlinse kam. Auf der Kaiserstraße machte ich in dieser Weise heimlich Aufnahmen von einem Hütchenspieler. Ich musste mich dazu seitwärts zum Geschehen in meiner Nähe positionieren. Jemand könnte in diesem Moment vielleicht Verdacht geschöpft haben, als ich weiterging, wurde ich beobachtet, zwei Herren, die mir nicht gefielen, begleiteten mich. Sie kamen sehr nah an mich heran. Um mich zu retten, begann ich in mein Telefon zu sprechen. Ich tat so, als ob ich irgendjemandem eine Geschichte erzählen würde. Ich berichtete von Häusern, die unter riesigen Ballonen schweben. Indessen ging ich nicht schneller voran als üblich. Zweimal blieb ich stehen, und auch die zwei Männer blieben stehen. Am Londoner Platz fiel mir zu Ballonhäusern nichts mehr ein, ich gab darum eine Weile vor, selbst einer Geschichte zuzuhören, nickte immer wieder, lachte, dann fragte ich mit fester Stimme, ob ich vielleicht die Geschichte von den Eisbüchern erzählen sollte. Da ließen, weiß der Himmel, warum, beide Herrn von mir ab. — stop
Aus der Wörtersammlung: mensch
kurz vor mitternacht
sierra : 23.55 — In U‑Bahnen reisend immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Waggon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, sodass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — Kurz vor Mitternacht. Ich habe diese kleine Geschichte soeben Schnecke Esmeralda vorgelesen, um sie zu wecken. Sie war in der Abenddämmerung über meinen Küchentisch gekrochen, hatte sich auf eine Banane gesetzt und war dann vermutlich eingeschlafen, während ich eine Debatte des griechischen Parlaments via Livestream beobachtete. Dort auf dem Bildschirm aufgeregte Menschen, die in einer wohlklingenden Sprache formulierten, die ich nicht verstehe, aber sofort erkenne, sobald ich sie vernehme. Einmal meinte ich, den Namen Willy Brandts gehört zu haben. — stop. Wolkenloser Himmel. stop. Nichts weiter. — stop
timi
nordpol : 5.32 — Seit fünf Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Einmal schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren, dachte finnisch klingende Namen aus: Satu N. Mäkela . Annukka R. Timi. Helena Paivi . Jonathan Paivi . Janne Ollila. Zwei dieser ausgedachten Namen zeitigen Spuren wirklicher Menschen in der Sphäre der Suchmaschinen, einer scheint männlicher Natur zu sein, obwohl ich ihn weiblich überlegte. — stop
alexandros panagoulis
alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
ai : SUDAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Zwei Mitglieder der presbyterianischen Kirche im Südsudan, Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen, sind am 1. März auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs in acht Punkten unter Anklage gestellt worden. Zwei der ihnen zur Last gelegten Straftaten können die Todesstrafe nach sich ziehen. Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen waren am 21. Dezember 2014 bzw. am 11. Januar 2015 vom sudanesischen Geheimdienst (NISS) festgenommen worden und wurden bis zum 2. März 2015 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Sie wurden am 1. März auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs von 1991 unter Anklage gestellt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten sind “gemeinsame Handlungen zur Planung einer kriminellen Handlung”, “Unterwanderung der verfassungsmäßigen Ordnung”, “Krieg gegen den Staat”, “Spionage gegen das Land”, “Enthüllung und Erhalt von Informationen und offiziellen Dokumenten”, “Schüren von Hass zwischen religiösen Gruppen”, “Störung des öffentlichen Friedens” und “Beleidigung von religiösen Überzeugungen”. Auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs können die Straftatbestände “Krieg gegen den Staat” und “Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung” mit der Todesstrafe geahndet werden, während die übrigen sechs Straftatbestände eine Prügelstrafe nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass die beiden Geistlichen wegen ihrer religiösen Überzeugungen festgenommen und angeklagt wurden. Der NISS hielt die Gefangenen bis zum 2. März ohne Kontakt zur Außenwelt fest. An diesem Tag wurden sie ins Gefängnis Kober in Khartum verlegt, und man gestattete ihnen erste Familienbesuche.Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen traten am 28. und 29. März zwei Tage in den Hungerstreik, um gegen ihre fortgesetzte Inhaftierung und die Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeiständen zu protestieren. Sie werden derzeit von einem pro bono tätigen Anwaltsteam vertreten. Am 19. und am 31. Mai haben bereits Anhörungen im Fall der beiden Geistlichen stattgefunden. Am 15. Juni soll ihre Verfahren fortgesetzt werden. Amnesty International betrachtet Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen als gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung festgenommen, inhaftiert und angeklagt wurden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 21. Juli hinaus, unter »> ai : urgent action
2 + 5 = 8
alpha : 7.12 — Seit einigen Tagen werde ich von meiner Particles-Wordpressmaschine, sobald ich die Seite der Anmeldung öffne, aufgefordert, unverzüglich nachzuweisen, dass ich ein Mensch bin: Prove your humanity. Dieser prägnanten Aufforderung ist je eine Rechenaufgabe nachgestellt, Zahlen sind zu addieren, etwa die Zahl 4 zur Zahl 6, weswegen ich mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Sorgen mache. Eigentümlicherweise jedoch empfinde ich die Aufforderung, meine menschliche Eigenart darzustellen, als eine Zumutung. Einmal unterläuft mir ein Rechenfehler, und tatsächlich werde ich nicht weiter vorgelassen, obwohl ich meinen korrekten Benutzernamen und mein korrektes Passwort, mehrfach geprüft, in die Maske des Log-ins notierte. Es ist seltsam, seit ich mich beweisen muss, habe ich den Eindruck, meine Particles-Wordpressmaschine sei selbst mächtiger oder menschlicher geworden, eine Persönlichkeit, die mir vielleicht in wenigen Tagen zum Beweis meines menschlichen Ursprungs die Lösung eines Dreisatzes abverlangen wird. — stop
schlafwelt
alpha : 5.02 — Sie ist eine fragile Welt, die Schlafwelt der Nachtmenschen, sobald sie in Städten nahe der Tagmenschen leben. In dieser Welt ist es ein wenig so, als würde man mit einem Holzstöckchen bewaffnet in einem Wald unter rasenden Wölfen leben. — stop
radioteilchen
tango : 6.06 — Das Radio erzählt heute Morgen wieder gefährliche Geschichten. Man habe nämlich gestern in der Luft und am Boden nahe Fukushima Plutoniumteilchen entdeckt. Gefährlich für Menschen, so berichtet das Radio, seien diese Particles nicht, weil sie bereits seit den 50er- und 60er-Jahren gleichmäßig über die Erde verteilt existieren, da man testweise Inseln mittels Wasserstoffbomben sprengte. Jetzt ist das aber so, dass zwei von fünf vorgefundenen Teilchen jüngerer Zeit entstammen, vermutlich aus einem Reaktor in nächster Nähe selbst, demzufolge einer oder mehrere der Reaktoren undicht geworden sein könnten. — stop
geister
india : 0.58 — Das tödliche Elend kommt nicht in Sekundenbruchteilen auf arme Menschen nieder, als eine Welle langsam und kontinuierlich ansteigender Preise für Zucker, Mais, für Wasser kommts daher. Wer sind diese Personen, die mit Getreide spekulieren? Könnte man nicht einen Namen finden? Ein Gesicht? Ein menschliches Wesen, Nase, Augen, Ohren, das man befragen könnte: Warum tun Sie das? — stop
am radio
zoulou : 0.08 — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryanair, einer Fluggesellschaft, sollen die Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des Fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von sich selbst mordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war gestern. — stop