alpha : 22.02 — Seit einer halben Stunde das Wort K i e m e n t u l p e in meinem Gehör, warum? — stop
Aus der Wörtersammlung: merkwürdig
wörter verschwinden
marimba : 15.03 — Ich weiss nicht, ob wahr ist, was Martha erzählte, dass sie sich nämlich sehr sorgfältig vorbereiten müsse, um ein Buch oder in einem Buch zu lesen. Sie habe nämlich bemerkt, dass sie Bücher, Texte, nicht zwei Male zu lesen vermag. Sie könne, sagt sie, Zusammenhänge eines Textes während einer zweiten Lesung nicht wieder erkennen, nur einzelne Wörter oder Satzteile. Auch Texte, die selbst notierte, seien verloren. In dem Moment, da sie einen Text notiere, würde sie bereits ahnen, dass sie selbst diesen Text nie wieder verstehen wird. Sie schreibe also niemals für sich selbst, es sei denn, sie schreibe mit geschlossenen Augen. — Das ist doch sehr merkwürdig. — stop
sisulu
delta : 6.15 UTC — In der vergangenen Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich war in der Dämmerung mit meinem Trompetenkäfer abends spazieren im Palmengarten. Die Luft duftete nach Flieder, obwohl schon Juni geworden war. Der Käfer, dem ich kurz nach seiner Entwicklung den Namen Sisulu 8 gegeben hatte, hockte auf meiner rechten Schulter, weswegen ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen Fuß setzte, weil ich natürlicherweise von der Flugunfähigkeit des kleinen Wesens wusste, er war nicht zum Fliegen ausgedacht, sondern zum Trompetespielen. Ich ging also ganz langsam nordwärts vorbei an einer wunderbaren Sommerwiese, die von den Schlafgeräuschen der Heuschrecken leise knisterte, erreichte dann nach zwei Stunden langsamen Gehens eine hölzerne Bank am Rande einer weiten Steppenlandschaft, es war schon Nacht geworden. Ich nahm Platz auf der Bank, überschlug die Beine und setzte den kleinen Käfer auf mein rechtes Knie. Unverzüglich begann Sisulu 8 zu spielen in einer Weise, wie ich es vor langer Zeit schon einmal zu beschreiben versuchte. Bald war ich eingeschlafen, ich weiss nicht genau wie lange Zeit ich geschlafen hatte, als ich erwachte, saß Maceo Parker neben mir auf der Bank. Er hatte sich mit seinem rechten Ohr meinem Knie genähert, ich wagte in diesem Augenblick kaum zu atmen, das muss man sich einmal vorstellen, Maceo Parker auf einer Nachtbank neben mir sitzend, wie er meinem Käferfreund Sisulu lauscht. Es ist jetzt schon bald Morgendämmerung, meine Güte, und ich bin noch immer nicht wirklich wach geworden. — stop
in zeitlupe
nordpol : 15.12 UTC — Einmal beobachtete ich wie mir ein schwarzes Kästchen gesammelter digitaler Information aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Eine Bewegung wie in Zeitlupe, eine Bewegung, ohne die Möglichkeit einzugreifen, da ich mich selbst in dem Fenster meiner Wahrnehmung wie in Zeitlupe bewegte. Ich hob das Kästchen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näherte, hörte ich ein seltsames, leises Ticken. Jene Schreib- und Lesemaschine, die in dem Kästchen geborgen war, war blind geworden. Kurz darauf kaufte ich ein weiteres Kästchen und dachte Tage lang darüber nach, wie ich von nun Daten, Spuren, Zeichen, Verzeichnisse meiner Arbeit bewahren könnte. — Zwei Jahre vergehen. ‑Heute wanderte ich einige Stunden durch einen wilden Wald, ohne vermutlich irgendeine digitale Spur zu hinterlassen, nicht 1 Byte. Sehr merkwürdig. Noch zu tun: Lektüre Nicholson Baker Eine Schachtel Streichhölzer. — stop
von wasserläufern
nordpol : 20.25 UTC — Heute Nachmittag habe ich eine lustige Geschichte mit mir selbst erlebt. Ich sass vor einem See in einem Garten und beobachtete sehr kleine Tiere, wie sie sich nahe oder auf der Oberfläche des Wasser bewegten. Da waren zum Beispiel Fliegen, die im Wasser des Sees badeten, und Schatten der Libellenlarven, die sich den badenden Fliegen nährten, auch Wasserläufer, die sich gegenseitig jagten im Spiel. Plötzlich fragte ich mich, ob ich eventuell in der Lage wäre, das Verhalten der Wasserläufer vorherzusagen, ob sich ein bestimmter Wasserläufer eher in östliche oder eher in westliche Richtung fortbewegen würde. Ein Weile folgte ich dem von mir gewählten Tier mit meinen Augen, dann zeichnete ich seinen Weg auf ein Blatt Papier. Wolken spiegelten sich im Wasser, der Himmel hier unten war grün, er schimmerte. Eine Unterwasserschnecke passierte mein Beobachtungsfeld sehr langsam, und ich notiere: Schnecke. In diesem Augenblick bemerkte ich fünf Goldfische, die sich in einem Halbkreis im Wasser vor mir versammelt hatten. Sie bewegten sich kaum merklich und ich hatte plötzlich den Eindruck, sie würden mich betrachten. Tatsächlich fühlte ich mich von einer Sekunde zur anderen Sekunde selbst beobachtet. Das war ein merkwürdiger Augenblick gewesen, ein Moment auch von Verlegenheit, weshalb ich mich wieder einem Gespräch auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine zuwendete, das ich mit einem Computerprogramm namens ELIZA in englischer Sprache vor langer Zeit einmal geführt und kurz darauf in die deutsche Sprache übersetzt hatte. Ich, der ich Louis gewesen war, fragte Eliza: guten abend! wie geht es dir, eliza? Eliza : > gut! und dir? Louis : prächtig. Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann das problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : darf ich dir eine frage stellen? Eliza : > sicher! Louis : was bedeutet das wort liebe? Eliza : > hast du schmetterlinge im bauch? Louis : eliza! bitte! was bedeutet das wort liebe! Eliza : > lass uns das eine weile zurückstellen. Louis : warum, eliza? Eliza : > du musst mich nicht mit namen rufen, ich bin immer bei dir. Louis : das ist beruhigend, eliza! Eliza : > erzähl weiter! Louis : eliza! liebe? Eliza : > hast du schon andere gefragt? Louis: aber natürlich! Eliza : > schön zu hören. wo liegt dann dein problem? Louis : ich habe heute abend kein problem, eliza! Eliza : > wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! Louis : warum? Eliza : > ich sehe, du bist ein schwieriger fall. Louis : warum bin ich ein schwieriger fall, eliza? Eliza : > scherz beiseite, kommen wir zur sache. — stop
nachtfaltung
sierra : 20.22 UTC — Etwas Merkwürdiges hat sich ereignet. Ich will das schnell erzählen. Es ist nämlich so, dass ich einer Figur, die in einem Textgeschehen existiert, vor Monaten einmal, ich glaube im November bereits, einen Namen gegeben habe, welcher recht dunkel leuchtet, ein mächtiger, unheimlicher Name. Es handelt sich um die Zeichenfolge Mandrill. Immer wieder einmal erzählte ich in der langsamen Entwicklung des Textes von einem Mann dieses Namens. Als Mandrill gestern unvermittelt in einer Weise handelte, die ich nicht erwartet hatte, zart und einfühlsam, schmerzte der Name, als hätte ich meiner Figur Unrecht getan. Heute morgen war die wilde Verwerfung, die ich gestern noch spürte, wieder sehr schön gefaltet. Ich trat ans Fenster im ersten Licht der Sonne, der Himmel war voll Wasserdampfspuren, welche Nachtfernflüge an den Himmel zeichneten. Kein Mensch auf der Straße, aber zwei Eichhörnchen, die auf einem Briefkasten saßen. Das habe ich noch nie so gesehen, gestern noch hätte ich behauptet, Eichhörnchen würden niemals auf Briefkästen sitzen. Deniz Yücel weiterhin in Haft. — stop
eine frau
delta : 12.22 UTC — Eine Frau sitzt neben einem Tisch auf einem harten Stuhl. Ihr rechter Arm liegt auf dem Tisch, eine Ärztin misst den Blutdruck. Es ist still in dem Zimmer in diesem Augenblick. Nur das Motorengeräusch des Messgerätes, das Luft in eine Manschette pumpt, die um den Arm der Frau gelegt wurde, brummt als hockte ein große träumende Fliege unter dem Tisch. Dann ist die Fliege plötzlich still und die Ärztin notiert einige Zahlen und nickt mir zu, ohne etwas zu sagen. Als ich mich zu der Frau setze, weicht sie auf dem Stuhl kaum merklich zurück. Ich frage: Wollen Sie vielleicht Tee? — Die Frau schüttelt den Kopf und lächelt. Darf ich Ihnen ein oder zwei Fragen stellen? — Wieder lächelt die Frau. Sie ist scheu. Aber sie will nicht zeigen, dass sie scheu ist, so könnte das sein. Ein seltsamer Moment, alles im Zimmer scheint zu schweben, der Tisch, die Stühle, die Menschen. Ich weiss, dass die Frau, deren Blutdruck gemessen wurde, aus der Ferne gekommen ist, so fern ist das Land, von dem sie gekommen ist, dass ein Jahr vergehen würde, ehe man dieses Land zu Fuß erreichte. Es ist ein Wunder, dass sie meine Sprache versteht, immer wieder denke ich, wie gut, dass Menschen in der Lage sind, die Sprachen anderer Menschen zu erlernen. Und wie sie jetzt lächelt, ich meine, noch nie zuvor ein derart mutiges Lächeln gesehen zu haben, während die Ärztin etwas getrocknetes Blut von ihrem Hals tupft. Behutsam wird eine kleine Wunde versorgt, die unter dichtem Haar im Verborgenen liegt. Die Ärztin nimmt sich viel Zeit, sie geht hinter der verletzten Frau in die Hocke und beginnt leise zu sprechen. Sie sagt: Das ist merkwürdig! Und noch einmal sagt sie: Das ist merkwürdig. Wie sie sich wieder aufrichtet, macht sie ein sehr ernstes Gesicht. Bald kniet sie vor der verletzten Frau auf dem Boden, nimmt eine Hand der Frau und drückt sie fest: Machen sie sich keine Sorgen, das ist nur eine kleine Wunde, die Blutung ist längst gestillt. Die Ärztin, die etwas schwitzt, sieht der mutig lächelnden Frau in die Augen. Plötzlich fragt sie: Sind Sie geschlagen worden? Sofort nickt die Frau, ihr Gesicht scheint zu leuchten, und noch einmal nickt sie und sagt mit sehr heller Stimme: Ja. Und die Ärztin fragt: Sie wissen, von wem sie geschlagen wurden? — Ja, antwortet die Frau ein zweites Mal, das weiß ich. Die Ärztin erhebt sich und wendet sich wieder dem Ort zu, da die Frau am Kopf verletzt wurde. Erneut geht sie in die Hocke und betrachtet die Verletzung auf das Genaueste. Behutsam fährt sie der Frau über das Haar, sie scheint eine weiterführende Untersuchung vorzunehmen. Und wie sie so arbeitet, schliesst die verletzte Frau ihre Augen, als wollte sie vielleicht verbergen, was sie fühlte. So, mit geschlossenen Augen, sagt sie plötzlich mit fester Stimme: Ich würde doch gerne einen Tee trinken! — Das ist gut, antworte ich und stehe auf. Die Ärztin ist indessen mit ihrer Untersuchung zu Ende gekommen, sie setzt sich auf den freigewordenen Stuhl und stellt mit nüchterner Stimme fest: Sie sind nicht zum ersten Mal geschlagen worden! — Die Frau nickt wortlos. Und die Ärztin sagt: Sie sind sehr oft geschlagen worden! Immer wurden Sie auf den Kopf geschlagen, kann das sein? — Wieder nickt die Frau und beginnt zu weinen. — stop
von gedankenlichtern
bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von rotglimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
geräusch
ulysses : 8.45 UTC — Das merkwürdige Wort Herzschlaf, das im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm nicht existiert. Auch existieren weder indische noch europäische Herzen, sondern nur menschliche Herzen oder Herzen der Kolibris, die sich derart schnell bewegen, dass sie, wäre ich in der Lage sie lebend in situ zu betrachten, vor meinen Augen unscharf erscheinen würden. — stop
seltsam
ulysses : 1.18 — Wie ist es möglich, Geschichten zu erzählen, die seltsam sind, ohne sofort selbst für seltsam oder merkwürdig oder gar gefährlich gehalten zu werden, da doch diese merkwürdigen Geschichten in meinem Kopf entstehen? Ich habe L. von Esmeralda erzählt, dass Esmeralda eine Schnecke sei, die in meiner Wohnung lebe, als wäre sie eine Katze, dass ich das kleine Tiere füttern würde, dass ich meine Wohnung im Winter beheize, auch wenn ich nicht anwesend sei, damit Esmeralda nicht frieren möge. Liebe L. sagte ich, ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mir aus freien Stücken eine Schnecke zu kaufen oder aber zur Sommerzeit in einem Garten einzufangen, nein, niemals, wenn nun aber eine Schnecke als Geschenk, als kostenfreie Offerte auf postalischem Wege zu mir reiste, warum sollte ich das Geschenk zurückweisen, warum nicht einen Versuch unternehmen, ein guter oder vorzüglicher Schneckenhalter zu werden? Wir werden es versuchen, sagte ich zur Schnecke kurz nachdem sie angekommen war. Jahre sind seither vergangen, Esmeralda scheint mit ihrem Leben in meiner Wohnung einverstanden zu sein. Einmal öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und wartete. Ein anderes Mal öffnete ich ein Fenster und wartete wiederum einige Zeit, Esmeralda blieb oder kehrte zurück. Es stellt sich nicht zum ersten Mal die Frage: Wie alt werden Schnecken? Ist Esmeralda nicht vielleicht bereits viel zu alt, um noch als gewöhnliche Schnecke betrachtet werden zu können? — stop