lima : 0.01 — Ich hörte im Radio, ein Mann aus Jamaika sei eine Strecke von 100 Metern in 9.69 Sekunden gelaufen. Sofort setzte ich mich vor das Fernsehgerät und beobachtete diesen Mann, von dem ich gehört hatte, und ich dachte, dass ich ihn gerne einmal berühren würde, abklopfen oder mein Ohr auf einen seiner Oberschenkel legen und lauschen. — stop
Aus der Wörtersammlung: schlafen
langustenfliege
india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen. — stop
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
flugglas
nordpol : 22.05 — Lag nachmittags unter Sonne vor Ameisenstadt. Beobachtete, wie Bewohner, nein, Konstrukteure der knisternden Metropole, Käfer, Spinnen, Fliegen, Raupen, Rosenblätter, auch menschliche Papiere ins Wohngehäuse transportierten. Was, fragte ich mich, wird mit einer getöteten oder einer gelähmten Fliege, mit schlafenden Käfern und schlafenden Spinnen geschehen hinter der Fichtennadelhaut? Vielleicht einmal mit einer sehr kleinen Kamera eintauchen und schauen. Ich würde wohl auf eine Halle treffen, auf einen Ort der Zerlegung, des Tranchierens am laufenden Band. Hier also werden Prachtfliegen zerteilt und dort noch lebende Spinnen fein sortiert. In tiefer gelegenen Arsenalen dann die Kammer der Fluggeräte, die Kammer der Fliegen‑, der Libellenflügel, bitter duftende Luft, leichtes Flugglas bis unter die Decke geschichtet. In einer weiteren Höhlung sind je nach Länge und Stärke Spinnenbeine sortiert und aufeinandergelegt, Baumstämme, haarig, noch immer in zitternder Bewegung. Stunden werde ich in Magazinen schillernder Augen verweilen, ein begeisterter Zeuge in Fabriken gefangener Spinnen. Man hat ihnen die Beine abgenommen, aber sie leben und singen feinste Seide. Werden sie müde, werden sie an Soldaten verfüttert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gerade eben hörte ich vom Tod des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. — stop
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoß der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächsten Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie, solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, sodass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Raum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein Déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten. — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
yanuk : frogs
~ : yanuk le
to : louis
subject : LIGHT
date : july 12 08 6.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, ich schreib Dir noch rasch, bevor die Dunkelheit wie ein nasses Tuch vom Himmel fallen wird. Ist Dir bekannt, dass ich seit bald zweihundert Tagen auf Baum No 728XZ sitze, ohne einmal den Erdboden berührt zu haben? Viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen damit verbracht, mein Zelt gegen das Licht der Sonne abzudichten. Werde fortan versuchen, am Tag zu schlafen und nachts meinen Forschungsarbeiten nachzugehen. Bin zufrieden, habe viele neue Wesen entdeckt, aber die Hitze setzt mir zu, und das Licht scheint doch eine Flüssigkeit zu sein, die durch den kleinsten Spalt fließen und mein Zelt auszufüllen vermag. Vielleicht ist das Licht deshalb nicht auszuschalten, weil ich weiß, dass es dort draußen, vor meinem Zelt unter dem Mantel von Blättern, hell ist, oder weil Licht in meinem Kopf brennt, das ich nicht zu Ende denken kann. Und doch, mein lieber Louis, bin ich glücklich. Dank Dir herzlich für den feinen Simmons Text. Das erste Buch, das ich per E‑Mail erhalten habe. Ich bin natürlich bislang nicht sehr geübt im Lesen vor Bildschirmen und die Falter setzen mir zu. Sie haben die Größe meiner Hände, sind staubig und zu schwer für die Zungen der Frösche, die in meiner Nähe sitzen und warten, dass ich mit meinen Selbstgesprächen beginnen werde. Manchmal habe ich das Gefühl, bereits seltsam geworden zu sein. Vielleicht bin ich ein erfundenes Geschöpf? Wirst Du schreiben, sobald Du etwas Verrücktheit bei mir findest? – 6.12 p.m. 32 °C. 97 Prozent Luftfeuchte. Position 1°38’S 61°42’W — Yanuk
eingefangen
22.05 UTC
1538 Zeichen
nachtzeppelin
whiskey : 5.25 — Seltsame Lufterscheinung heute Nacht. Warm war’s bis 1 Uhr, dann plötzlich kühl bis 2, dann wieder warm. Arbeitete bei geöffneten Fenstern, hörte Duke Ellington, überlegte einen Brief an Daisy Hilton. Vielleicht ist ein kühles Objekt lautlos über die Stadt geflogen, ein Nachtzeppelin, oder ein Schwarm sehr kalter Faltertiere, vollkommen unbekannte Wesen, oder aber alle Eisspinnen der Stadt, so wie sie im Geheimen in jedem Kühlschrank existieren, haben ihre Boxen verlassen und sich zum Plaudern draußen vor den Fenstern getroffen. Wer könnte schon sagen, was genau geschehen ist in dieser Stunde mit ihrer seltsamen Luft? Haben doch fast alle Menschen geschlafen. — Es ist 7 Uhr morgens. Ich leg mich jetzt nieder. Gute Nacht. — stop
geraldine : limonade
~ : geraldine
to : louis
subject : LIMONADE
Lieber Mr. Louis, stellen Sie sich vor, heute habe ich einen Vogel gefüttert. Ich lag, wie jeden Tag seit wir New York verlassen haben, auf einer Liege an Deck und habe geschlafen. Als ich meine Augen öffnete, saß eine Möwe vor mir auf der Reling. Ich habe mich vorsichtig aufgesetzt und etwas Brot in die Luft geworfen und die Möwe hat das Brot gefangen und ist sofort weitergeflogen. Seit gestern haben wir viel Wind. Papa kommt immer wieder vorbei und schaut nach mir, aber es geht ihm nicht gut, ihm ist übel und auch Mama liegt im Bett, weil sie beide seekrank sind. Ich glaube, sie wissen jetzt, wie ich mich fühle, immerzu fühle. Sie sehen beide gar nicht gut aus. Mir aber scheinen die hohen Wellen nichts auszumachen, ich sitze oder liege und schaue auf das Meer und hoffe, dass die Sonne nicht untergehen wird, bis wir in Europa sein werden. Die Möwen sind still hier draußen. Vielleicht wird ihr Schreien vom Wind fortgetragen. Ein wirklich kräftiger und kühler Wind, und der junge Kellner, der Stewart, wie man hier sagt, muss sich gegen ihn stemmen, wenn er über das Deck zu mir kommt. Er kennt meinen Namen. Er sagt, Mrs. Geraldine, ich soll mich um Sie kümmern, wollen Sie eine Limonade. Ja, und immer will ich sofort eine Limonade. Sie ist blau, Mr. Louis, noch nie zuvor habe ich blaue Limonade getrunken, sehr süße blaue Limonade, die nach Lakritze schmeckt. Ich sehe gerne seinen Händen zu, wie er die Flasche für mich öffnet, weil ich doch kaum Kraft habe die Flasche selbst zu öffnen. Er hat mir gestern gesagt, Mr. Louis, dass ich schön sei, fast durchsichtig, und dass er sich sehr gerne mit mir unterhalten würde. Sein Blick ist traurig, ich kann nicht sagen, warum er so traurig ist, wenn er mich anschaut. Manchmal schlägt er die Augen nieder, wenn ich ihn ansehe. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht seine Gedanken vor mir verbergen möchte. Ich weiß jetzt, dass ich nicht schreien werde, wenn er mich bald einmal küssen wird. Ich bin so müde, Mr. Louis, ich bin 20 Jahre alt, aber ich bin unendlich müde. Höre auf zu schreiben für heute: Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 24.6.2008
22.15 MESZ
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.