nordpol : 18.32 UTC — Vor bald zehn Jahren habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plante im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. — Das Radio erzählte von Menschen, die sich in der Stadt Mariupol über Pfützen beugten, um Wasser von der Straße zu trinken. — stop
Aus der Wörtersammlung: sozusagen
odessa
kilimandscharo : 22.52 UTC — Vor wenigen Tagen habe ich eine kleine digitale Maschine gekauft. Diese Maschine vermag die Zeit zu messen, welche ich in der einen oder anderen Aufgabe befindlich verbringe. Sie summiert sozusagen Sekunden, Minuten, Stunden heimlich für mich, damit ich, sobald Abend geworden ist, nachsehen kann, wo ich mich überall während des Tages arbeitend aufgehalten habe. Nun ist etwas Seltsames zu bemerken, dass ich nämlich Aufgaben erfinde, indem ich vertraute Aufgaben in kleinere Aufgabensegmente zerlege, sodass sie wie neue Aufgaben vor meinen Augen oder den Augen der Maschine erscheinen. Die Aufgabe der Korrespondenz beispielsweise, lässt sich in E‑Mail‑, Papierbrief- und telefonische Korrespondenz zergliedern. Ganz neu ist außerdem, dass ich der Maschine Anweisung erteilte, Lesezeiten zu notieren, wie lange Zeit ich in den Erzählungen John Updikes verbrachte. Oder der Vorgang nächtlicher Fledermausbeobachtung. Auch die Betrachtung der Maschine selbst wird von der Maschine wahrgenommen und aufgezeichnet. — Das Radio erzählt von einer jungen Frau, die seit heute in der Früh in der Stadt Odessa ohne Arme leben muss, obwohl sie gestern noch über zwei Arme verfügte. — stop
fred im zug
sierra : 22.32 UTC — Im Zug, es war Samstag, saßen nur wenige Menschen. Sie trugen alle eine Maske vor Mund und Nase. Ein seltsamer, berührender Anblick. Gerade deshalb, weil sie schliefen, wirkten sie verletzlich. Wie ich langsam an den Schlafenden vorüberging, die Versuchung je einer Fotografie. Plötzlich dachte ich an den Posaunisten Fred Wesley: Wie geht es Dir, Fred? Ich erinnerte mich so im Gehen an eine Nacht vor Jahren, da ich Fred Wesley mittels eines Filmdokuments so lange beobachtet hatte, bis ich der festen Überzeugung gewesen sein konnte, eine Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert: Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das hoffentlich noch immer so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, für Sekunden vor einem Mikrofon verharrt. Ich hatte damals den Verdacht, der alte Posaunist verfüge über die Fähigkeit, außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten. Deshalb notierte ich unverzüglich folgende E‑Mail: Sehr geehrter Mr. Wesley, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich sogleich mit meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
tauchgang
india : 0.08 UTC — ‘Es ist das Interessante an Büchern, über denen man eigentlich den Verstand verlieren müsste, dass man durch sie vielmehr an Verstand gewinnt. Freilich ist das nur ein neuer Kompromiß — denn anständigerweise müsste man allerdings nach ihrer Lektüre abdanken. Aber das Leben ist nicht das, was wir anständig zu nennen lieben. Allein schon der Umstand, dass der Autor seinen Verstand behalten hat, wird genügen, den Leser zum gleichen zu veranlassen; es sei denn — dass er nur so beweisen zu können meinte, dass er noch tiefer als jene sei, dass er sozusagen aus Ehrgeiz, aus “Willen zur Macht” wahnsinnig zu werden geradezu — wünschte.’ Christian Morgenstern 1906 in seinen Aphorismen/ — stop
prozedur
kilimandscharo : 20.02 UTC – Am 1. Mai, stelle ich mir vor, wird Mr. Hemingway (Name erfunden) seine Schreibmaschine zerlegen, um jedes ihrer Einzelteile zunächst zu säubern, zu betrachten und in feine Maschinenöle zu tauchen. Eine zeitaufwendige Prozedur, größte Sorgfalt wird geboten sein, denn die Schreibmaschine ist kostbar. Schon der Großvater, ein äußerst gebildeter Mann, soll auf ihr notiert haben, weshalb sie sozusagen mittels der Zeichen, die sie auf allerlei Papiere drückte, weit in der Welt herumgekommen war. Wie nun präzise, frage ich, wird Mr. Hemingway seine Schreibmaschine in ihre Einzelteile zerlegen, wie wird er vorgehen? Vielleicht, indem er zunächst einen Plan entwickeln wird, der einzelne Schritte der Zerlegung (Demontage) derart verzeichnet, dass sie später einmal in rückwirkender Art und Weise nachvollzogen werden könnten (Montage). Sehr viele Schräubchen, Tasten, Zahnräder werden zu berücksichtigen sein, 328 Teile insgesamt. Würde nur eines dieser Schräubchen, Tasten oder Zahnräder, zu Boden fallen und verschwinden, wäre es um die Schreibmaschine geschehen, aus und vorbei. Eine riskante Geschichte. — stop
erwärmung
olimambo : 22.06 UTC — In der 38 Minute des faszinierenden Films Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte erzählt Peter Handke: Heutzutage scheint mir, dass man wirklich nur nachstellt, was eh schon durch Filme, durch Fernsehen und Zeitung eh schon sozusagen ausgespuckt ist. Es muss erfunden werden. Und eine Erfindung ist ganz was Seltenes. Erfinden zu dürfen, zu können, zu sollen, das ist nicht normal. Es ist eine Art von Vision. Ohne Vision gehts nicht. / Der Ludwig Hohl, der Schweizer Schriftsteller, hat gesagt: Fantasie ist nicht Gaukelei, sondern ist die Erwärmung, ich füge vielleicht hinzu — die herzliche Erwärmung des Vorhandenen, dessen, was vorhanden ist. Das ist Fantasie. Und nicht das Storytelling. — — stop / Und Bosnien? Wie ist das gewesen? Wie erzählt und wie nicht erzählt? Ich muss wieder das Lesen lernen und üben. Anmerkung 15.10.2019
sumatra petit
india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wärme im Arbeitszimmer, 88 Prozent Luftfeuchte, meine Schreibmaschine, die so eben noch von einem Schirmsammler erzählte, schnauft vor sich hin, jeder weitere Satz scheint ihr Prozessorherz aufzuregen. Ich selbst habe längst aufgehört zu atmen, habe meine Kiemenschächte, die links und rechts hinter meinen kleinen Ohren im Verborgenen liegen, geöffnet, nun bin ich ganz auf der sicheren Seite. Mein Telefonhörer ruht neben Lutz Seiler Zeitwaage, ein Buch, das ich zur Stunde kaum wage anzufassen, es konnte zerfallen. Überhaupt bin ich heute ein wenig langsam in der Aufnahme der Wörter, ich lese sozusagen Buchstabe um Buchstabe voran. Über meinem Sofa haben sich drei Wolkentürme gebildet, die bald blitzen werden, ich kenne das schon, es blitzt und dann wird es regnen, diesen wunderbaren Regen aus meinen Zimmerwolken, der nach Veilchen duftet, ich weiß noch immer nicht warum. Auf dem Fensterbrett ein Zeisig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tauchen. — stop
von gedankenlichtern
bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von glimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
the look of silence
papa : 0.45 — Als ich gestern Abend den außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Look of Silence betrachtete, ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Meine Schnecke Esmeralda stürzte nämlich aus 1 Meter Höhe von der Wand auf den Fußboden, woraufhin ich die Schnecke vorsichtig in die Hände nahm und nach möglichen Schäden suchte. Als ich die Schnecke kurz darauf wieder vor die Wand setzte, als Esmeralda nach weiteren 2 Minuten erneut von der Wand stürzte, stoppte ich den Film und überlegte, ob meine Schnecke möglicherweise krank geworden sein könnte. Indessen kletterte Esmeralda, wie unter einem Zwang, zum dritten Mal die Wand hinauf, dieses Mal jedoch fiel sie nicht auf den Boden zurück. Besorgt verfolgte ich ihre Bewegung mehrere Minuten lang, alles ging so lange gut, bis ich die Betrachtung des Filmes fortsetzte. Nach einigen weiteren Versuchen ist nun Folgendes zu berichten. Esmeralda reagiert scheinbar auf Geräusche, die der Film erzeugt. Ich nehme an, meine Schnecke wird von Rufen der Zikaden, welche im Film immer wieder über längere Zeit zu hören sind, müde, sie schläft ein, sie vergisst sich sozusagen, ihre Lage an der Wand, die gefährliche Tiefe unter ihr. Eine erstaunliche Beobachtung. Ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, ob Schnecken über ein Hörvermögen verfügen, es ist denkbar, dass Schnecken über ein Körperhautohr gebieten. — stop
mitternacht im garten von gut und böse
kilimandscharo : 1.52 — Es ist heiß und schwül. Ein Ventilator dreht sich langsam über dem Tresen einer Bar. Zwielicht. Auf einem Hocker vor einem Glas Whiskey sitzt ein trinkender Mann, der bereits betrunken zu sein scheint. Wir befinden uns in Amerika irgendwo im Süden, ich glaube in Savannah. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, auch nicht in welchem Film präzise der trinkende Mann auf einem Stuhl vor einem Glas Whiskey sitzt. Das Seltsame, das Besondere an diesem Mann ist, dass um seinen Kopf herum Fliegen schwirren, die sich nicht entfernen, weil sie in irgendeiner Weise an dem Kopf selbst oder in seiner Nähe befestigt wurden, Fliegen, die sozusagen Gefangene oder Haustiere des trinkenden Mannes sind. Plötzlich fällt mir ein, dass sich diese Szene in dem Film Mitternacht im Garten von Gut und Böse ereignet haben könnte, den ich vor einiger Zeit beobachtet und in Besitz genommen hatte. Also suche ich nach der Szene im Film und entdecke bald einen hellen Ort, einen Imbiss, in dem ein Mann namens Lucer vor einem Tresen sitzt. Der Mann ist weder betrunken noch existiert ein Glas Whiskey, aber eine Tasse Kaffee. Um seinen Kopf herum schwirren Bienen, deren Körper nun tatsächlich an Fäden befestigt sind, welche wiederum mit Hemd und Hose des Mannes unmittelbar in Verbindung stehen. Einige Bienen haben auf dem haarlosen Kopf des Mannes Platz genommen, er scheint sich darüber zu wundern, dass man ihn beobachtet. In der 46. Minute der Filmzeit verlässt der Mann den kleinen Laden, um sofort wieder rückwärts einzutreten. Ich nehme an, ich erinnerte mich an diese Szene, weil ich gegen 22 Uhr eine Nachricht von Atombatterien gelesen hatte, die nicht stärker als ein menschliches Haar sein sollen und in der Lage, hunderte Jahre kleinere Maschinen mit Strömen zu versorgen. Das war in der Tat eine wunderbare Nachricht, weil ich jetzt ernsthaft über die Existenz künstlicher Taubenschwänzchen nachzudenken vermag, Wesen, die ein menschliches Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende als fliegende Satelliten begleiten und dokumentieren könnten. Wie sie nun in der Nacht leise summend dicht über den Schlafenden schweben und warten. — stop