romeo : 0.05 — Das Vergnügen, ein Manuskript auf Papier zu drucken. Die nadelnden, summenden, pfeifenden Geräusche der Maschine, Satz für Satz Sekundenseiten. Wie ich Arbeit von Tagen, von Wochen, vor mir zu einem Segel auf den Boden breite. Wie ich zufrieden und still vor dem Windgefäß im Zimmer stehe. Wie ich, bald wieder stürmisch geworden, in die Knie gehe, um weiteren Flugsand mit der Hand aufs Papier zu setzen. — Notierte: Ein menschliches Gehirn ruhte in meinen Händen. Und ich dachte, kühl ist es und weich und schwer. Ich hörte deutlich eine denkende Stimme, als wäre da noch ein anderer Beobachter gewesen, als ich selbst. Dann bemerkte ich, dass ich mit bloßem Auge nicht erkennen konnte, in welcher Sprache jenes Gehirn, das ich in meinen bebenden Händen hielt, ein Leben lang träumte, auch nicht, ob es glücklich oder doch eher unglücklich gewesen ist. Eine schweigende, eine verlassene, eine Welt ohne Licht. Ja, lilimambo, das Leuchten lebender Menschen! — stop
Aus der Wörtersammlung: stimme
Geraldines Sommerhut
~ : geraldine
to : louis
subject : MEIN SOMMERHUT
Ahoi, Mr. Louis! Heute ist ein ganz besonderer Tag. Ich fühle mich wie neugeboren. Ja, wie neugeboren. Als ich gestern erwachte, saß der Doktor an meinem Bett. Ich hörte seine Stimme. Er sagte, ich glaube Geraldine wird wach. Und als ich die Augen geöffnet habe, lachte der Doktor und Mama lachte auch. Sie erzählten mir, dass ich zwei Tage geschlafen habe und ich weiß nicht, warum ich so lange Zeit geschlafen habe. Wenn Sie mich jetzt doch nur sehen könnten, Mr. Louis, wie ich in meinem Korbstuhl am Bug des Schiffes sitze und das helle Haar schäumenden Wassers betrachte, das wir hinter uns her ziehen. Ich trage meinen Sommerhut, den ich so liebe und ich hoffe, dass er mir nicht davonfliegen wird. Es ist heute sehr windig, müssen Sie wissen. Wie ich diesen Wind doch mag, seinen Duft. Aber das Schönste ist, dass ich ganz bunt bin im Gesicht. Mama hat mich geschminkt und jetzt sitze ich da und versuche meinen Mund nicht zu bewegen, damit mir die feine rote Farbe nicht verrutscht. Vielleicht wollen Sie wissen, warum ich mich geschmückt habe? Das will ich Ihnen gerne erzählen. Ich habe vor, meinen kleinen Steward heute noch nach seinem Namen zu fragen. Immerhin weiß er meinen Namen und deshalb habe ich wohl das Recht, auch seinen Namen zu wissen. Ich kann ihn sehen, während ich diesen Brief an Sie schreibe. Er arbeitet auf dem Unterdeck und ich sitze hier oben und schaue mit pochendem Herzen zu ihm hin und bewundere seine feinen, kleinen Schritte, wie er auf den Wellen tanzt. Manchmal denke ich, dass ich viel zu alt für ihn bin, aber das stimmt natürlich nicht, weil er 25 Jahre alt sein muss und ich bin nur 20, wie sie wissen. Und doch fühle ich, dass ich etwas schwerer bin an Zeit als er, den ich doch so liebe. Ich glaube, er hat mich schon bemerkt, er wird bald kommen, er tut nur so, als würde er mich nicht sehen. Ich muss jetzt aufhören, Mr. Louis, ich bin so schrecklich aufgeregt! Ist das nicht wunderbar, Mr. Louis? — Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 22.01.2009
20.12 MEZ
yanuk : hört zupfende geigen
~ : yanuk le
to : louis
subject : GEIGEN
date : jan 12 09 6.52 a.m.
Dämmerung. Und doch schon warme, weiche, ja schmeichelnde Luft. Werde einige Wochen hier auf Höhe 51O verweilen. Bin glücklich. Mehrfach während eines Tages passiert das Mädchen, von dem ich berichtete, mit einem rasselnden Geräusch, das vielleicht eine Sprache darstellen sollte, unser Habitat. Eine fabelhafte Kletterin! Entweder ist sie leicht wie eine Feder, oder aber sie verfügt über außerordentliche Muskelkräfte. Kein Tag, seit sie auf uns gestoßen ist, an dem sie nicht aus den Schatten der Blätter und Blüten tauchte, um bewegungslos für lange Zeiten mittels eines Armes an einem Ast befestigt vor uns über dem Abgrund zu schweben. Sie scheint in dieser Haltung doch zu schlafen. Ein seltsames Wesen! Gesprochen haben wir bislang noch nicht, kein verständliches Wort kam über ihre Lippen, aber sie lauscht meiner Stimme, indem sie den Kopf zu Seite neigt, wenn ich etwas sage, wenn ich erzähle, zum Beispiel, von Dir erzähle, und dass ich für Dich Gedanken und Beobachtungen notiere aus dem Gebiet der Riesenbäume. Auch in diesen Sekunden, lieber Mr. Louis, ist sie hier bei uns. Sie muss vor Kurzem noch, während eines Jagdausfluges, den Erdboden betreten haben. Der leblose Körper eines Kaninchens baumelt über ihrer linken Schulter. Denkbar, dass wir bald ein Geschenk erhalten werden. Cucurrucu — Yanuk
eingefangen
6.55 UTC
1875 Zeichen
mrs. callas betrachtet raissa orlowa und lew kopelew
nordpol : 0.01 — Kam von einem Besuch bei Freunden nach Hause zurück, und wie ich so in meine Wohnung stolperte, entdeckte ich Mrs. Callas, die weinend vor einer Fotografie stand, vor einer Schwarz-Weiß-Fotografie, die ich seit vielen Jahren besitze und mir immer wieder sehr gerne ansehe. Natürlich wunderte ich mich, dass Mrs. Callas weinte, weil die Fotografie zwei alte Menschen zeigt, eine Frau und einen Mann, die friedvoll Seite an Seite in einer Küche an einem Tisch sitzen. Raissa Orlowa, liest ihrem alten Mann, Lew Kopelew, vielleicht aus einem Buch vor. Und ich fragte Mrs. Callas, warum sie denn weinen würde, das sei doch eine sehr beruhigende Fotografie. Ich glaube, setzte ich hinzu, sie sind glücklich. Mrs. Callas antwortete unverzüglich mit Ernst in der Stimme, ja, das sind sie, glücklich, ganz sicher sind sie sehr glücklich. Ich wünsche mir für mich ein Ende wie dieses hier an der Wand, Mr. Louis. Sie müssen mir ein anderes Ende schreiben! – Und so sitze ich nun müde auf dem Sofa und notiere diese Geschichte, während Mrs. Callas mich hoffnungsvoll beobachtet. Wie nur könnte ich sie trösten, weil ich doch vor ihrem Schicksal ohnmächtig bin? Vielleicht könnte ich erzählen, dass ich Lew Kopelew in München einmal für wenige Sekunden begegnete. Ich könnte ihr beschreiben, wie er mir am Hauptbahnhof aus einer Menschenmenge heraus entgegenkommt, wie ich seine Erscheinung, seine stattliche Größe, seinen schlohweißen Bart bewundere. Und ich könnte Mrs. Callas berichten, wie Lew Kopelew meinen Blick bemerkt, wie er mich freundlich betrachtet und wie er meinen nickenden Gruß erwidert, weil er in meinem Blick gesehen haben wird, dass ich ihn für lange Zeit gelesen habe und immer wieder lesen werde. – Ja, vielleicht sollte ich Mrs. Callas von diesen Sekunden meines Lebens erzählen, und dass es erholsam sein könnte, sich zunächst einmal zur Ruhe zu legen für zwei oder drei Tage.
yanuk : fröhliche weihnachten
~ : yanuk le to : louis
subject : FRÖHLICHE WEIHNACHTEN
date : dez 23 08 6.55 a.m.
In diesen Minuten, Mr. Louis, will ich sehr leise und behutsam von einer aufregenden Beobachtung berichten. Du musst wissen, heute Morgen, als ich auf Höhe 385 schlaftrunken mein Zelt verließ, hatte ich sofort bemerkt, dass während der Nacht irgendetwas geschehen sein musste, etwas Seltsames, etwas, das meine kleinen Affenfreunde beunruhigte. Sie lagen nicht, wie üblich, vor sich hin dämmernd lose auf dem hölzernen Boden herum, sondern dicht aneinander gedrängt und bebten, als würden sie frieren. Alle sahen sie mit ihren zitronengelben Augen in ein und dieselbe Richtung, starrten zum Stamm eines benachbarten Baumes hin, ein Bündel furchtsamer oder vielleicht staunender Blicke, das den schmalen, vollkommen unbekleideten Körper eines Mädchens betastete, der nur wenige Meter von uns entfernt über der Tiefe hing. Ich hatte natürlich zunächst den Gedanken, dass das vor mir baumelnde Mädchen nur eine Erscheinung gewesen war, vielleicht ein Traum oder die Spur eines Traumes, die in einen wirklichen Tag hinüberreichte. Beunruhigt wie meine Freunde, begann ich deshalb zunächst mit einer Kurbel Strom für meine Schreibmaschine zu erzeugen. Eine kontemplative Bewegung, eine, die ich auch im Schlaf verrichten könnte. Während ich so arbeitete, hörte ich bald ein menschliches Lachen. Ja, Sie lesen ganz richtig, Mr. Louis, das Mädchen lachte, ein feines, helles Lachen war zu hören, und die Affen fauchten und wurden so flach, als wollten sie spurlos verschwinden im warmen Holz oder sonst wohin, ganz unsichtbar werden. Wie sich doch alle vertrauten Geräusche verändern, sobald unerwartete Dinge geschehen. Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie sagte, das ist unglaublich, das ist ganz unglaublich, und ich hörte auf zu kurbeln und sah dem Mädchen in die Augen, und sofort klappte sie ihre Augen zu. Ich glaube, sie schläft jetzt, während ich diese Sätze so behutsam schreibe, wie ich nur kann, um das Mädchen nicht zu wecken. Ja, stellen Sie sich vor, Mr. Louis, sie scheint tatsächlich tief und fest zu schlafen, während sie den Ast, der sie trägt, mit ihrer linken Hand umfasst. Die rechte Hand liegt flach auf ihrem Bauch, einem muskulösen Bauch von hellem Schein, opak, als würde ein Teil des Sonnenlichts sich im Körper des Mädchens verfangen und weiter leuchten, von innen heraus weiter leuchten. Wenn sie nur nicht loslassen wird in dieser Höhe! Kein Haar auf dem Körper des Mädchens zu sehen. Das ist natürlich seltsam und ich weiß noch nicht genau, warum das so ist. Ich will Dir, Mr. Louis, an dieser Stelle meine herzlichen Weihnachtsgrüße übermitteln aus meinen tropischen Räumen. Und so mache ich das jetzt, ehe ich einen ersten Versuch unternehmen werde, mit dem Mädchen ein Gespräch zu führen. Vielleicht werde ich ihr meine Blütenzeichnungen zeigen, die ich während der vergangenen Tage sammelte. Fröhliche Weihnachten! Cucurrucu – Yanuk
eingefangen 6.58 UTC 2882 Zeichen
polarlichtspiel
sierra : 2.25 — Wale. Ein Abend voller weißer Wale. Wie sie duften. Wie sie sich bewegen. Wie sie fliegen. Ihre besonderen Stimmen. Die Zeichnung ihrer Haut. Die Farbe ihrer Augen. Die Position ihrer Ohren. Wie sie über das Polarlichtspiel des Nordens staunen. Schweigend. Seitwärts im Wasser liegend. Immer ist das linke Auge gegen den Himmel gerichtet. Die Wanderung der Schnecken auf ihren Körpern. Wie sie das Wasser suchen. Da ist ein Geräusch. Das Geräusch der Schnecken. Unhörbar. Ein Geräusch, das ich sehen kann. — stop
eisblumen
nordpol : 8.05 — Ich muss eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen sein. Stand vor dem Schreibtisch, hatte meinen rechten Arm senkrecht in die Luft gestreckt, übte mit dem Zeigefinger die kreisende Bewegung eines Propellers. Beobachtete das subkutane Spiel der Muskeln, bemerkte weitere Bewegung unter dem Hemd, krempelte das Hemd bis zum Ellenbogen hoch. stop. Die kleine uralte Narbe am Daumen. stop. Spur einer großen Geschichte. stop. Der Geschmack von Honig im Mund. Das Summen der Bienen. Die nackten Beine eines Mädchens. Ihre heiße Hand, die meinen schwellenden Daumen untersucht. Atem, der kühl ist. Eine helle Stimme, so viele Jahre alt. Sommerblumen. Wolken. Schlaf. Das schmelzende Eis auf meiner Stirn. — stop
tuba auditiva
victoria : 8.12 — Anatomische Arbeiten. Spielte Tonbandstimmen, las zum Gehör, studierte Strukturen der Muschel. — Zehn Uhr und zweiundzwanzig Minuten MEZ in Shangil Tobay, Darfur. — stop
nadja einzmann : zeit vergeht
tango : 8.25 — Ein warmer Wind wehte gestern Abend Laub von der Straße her ins Café. Lauschte einer angenehmen Stimme. Hörte eine Geschichte, die einmal meine Geschichte gewesen war und noch immer zu mir gehört und doch eine ausgewanderte, eine geschenkte Geschichte ist. Diese Geschichte schildert eine erste Wahrnehmung der Zeit. Als ich sie vor zwei oder drei Jahren an genau jenem Tisch erzählte, an dem sie nun aus einem Buch vorgelesen wurde, hatte ich nicht die Erwartung, sie einmal kunstvoll zwei Sätzen eingeschrieben und gedruckt zu sehen: Seine vielleicht erste Erinnerung, dass er unter dem Weihnachtsbaum liegt und sich in einer roten Weihnachtskugel spiegelt. Als er sich im folgenden Jahr wieder so gespiegelt vorfindet, denkt er zurück und weiß auf einmal, dass Zeit vergangen ist, dass Zeit vergeht. Nadja Einzmann
coltrane! coltrane!
echo : 8.27 — Das warme Licht, das im Holz der Kontrabässe brennt, ein Glühen, in das ich vernarrt bin, soweit ich zurückdenken kann? Die Schuhe eines uralten Bassisten, wie sie vor dem kleinen Jungen sehr fest auf dem Boden einer Kellerbühne stehen, während die Welt drumherum aufgewühlt ist, schwarze, spiegelblanke Schuhe, und irgendwo weit oben am Schneckenturm, dunkle Hände, die wie Echsen über Holz und kupferne Seile springen. — Mein seltsam fühlender Bauch. — Wunderte mich, dass sie miteinander sprechen, während sie spielen, lachen, spaßen, sich befeuern und beim Namen nennen. Höre ich nicht gerade noch Thelonius Sphere Monks Stimme wie er im Jahre 1957: Coltrane! Coltrane ruft? — stop