marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um einen weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zur Zeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
Aus der Wörtersammlung: tastatur
propellerzunge
tango : 2.01 – Wieder der Versuch, den Klang menschlicher Stimmen vorzustellen, wie sie sich unter einer Wasseroberfläche artikulieren. Eine schwierige Aufgabe, insbesondere deshalb, weil ich einerseits annehme, ein authentisches Sprechgeräusch, welches sich unter Wasser ereignet, in meinem Kopf jederzeit erzeugen zu können, andererseits jedoch über keinerlei Wörter verfüge, dieses Geräusch angemessen zu beschreiben. Ein Problem der Übersetzung scheint vorzuliegen, ein Raum zwischen geistigem Hören und dem annähernd korrekten Ausdruck in der Sprache meines Mundes oder meiner Hände auf Tastaturen, der auch in dieser Nacht, nach Jahren intensiver Versuche, nicht zu überwinden ist. Ich nehme an, Phoneme, die eine ausgedehnte Öffnung des Mundes erfordern in der Sprache unter der Wasseroberfläche sprechender Lungenmenschen, werden im Laufe der Jahrhunderte seltener werden, Artikulation indessen mittels gespitzter Lippen, pfeifende Laute, eine Entwicklung in diese Richtung, das ist denkbar. — Leichter Regen. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billets beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um solange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken geworden war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
vor neufundland 1.16.28 uhr : kirschblüten
zoulou : 0.08 — Die Nachricht, ein afrikanischer Mann von der Elfenbeinküste habe bereits am vergangenen Mittwoch seinen 8 Jahre alten Sohn in einem Rollkoffer über die marokkanisch — spanische Grenze nach Europa transferiert. Das Kind wurde während einer Kofferdurchleuchtung lebend entdeckt, sein Vater festgenommen. Ich erinnere mich, vor zwanzig Jahren einmal beobachtet zu haben, wie am Centralbahnhof ein Kind in ein Gepäckschließfach kletterte, eine Frau, vielleicht die Mutter des Kindes, klappte die Tür des Schließfaches zu, wartete einige Sekunden, dann öffnete sie die Tür wieder und das Kind kletterte aus dem Fach. Das Kind lachte. — Meldung von Noe aus 805 Fuß Meerestiefe vor Neufundland. ANFANG 01.14.02 | | | > s t o p habe das wort sommerzeit notiert. s t o p kurz darauf eingeschlafen. s t o p als ich erwache liegt meine hand noch auf der tastatur der maschine. s t o p ein gelber fisch. s t o p behutsam. s t o p als ob er mit meinem handschuh sprechen wollte. s t o p werde bald ohne luft sein. s t o p das ist denkbar, s t o p ohne erinnerung. h u n t i n g r e d f i s h f r o m a b o v e. s t o p planlos. s t o p ein lautloses ende. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p | | | ENDE 01.16.28
über staten island nachts
whiskey : 8.28 — Auf der Suche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mit Hilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war sehr gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
nachtschläferkapselbaum
delta : 0.02 — Sobald ich das Wort Nachtschläferkapselbaum notiere, meldet mein Textverarbeitungsprogramm, dieses Wort sei in seinen Registern nicht zu finden, ein Wort demzufolge, das bislang nicht existierte. Tatsächlich ist das so, dass ich das Wort Nachtschläferkapselbaum zunächst im Kopf erfunden habe, ehe ich das Wort mittels der Tastatur meiner Schreibmaschine verwirklichte. Die Vorstellung eines Baumes von enormer Größe, an dessen Ästen Kapselformen befestigt sind, in welchen sich Menschen zur Ruhe legen. Ich überlegte Bäume, die in der Nähe eines Flughafens sich erheben, Leitern, Seile, Wendeltreppen, Blätter, Blütenduft, Flüssigkeit spendende Röhrenlianen. Selbstverständlich wurde vor wenigen Sekunden nun bereits zum dritte Male gemeldet, dass das Wort Nachtschläferkapselbaum nicht existiert. Wenn ich nun aber das erfundene, markierte Wort und damit die unbekannte Welt, die sich mit ihm verbindet, mit meiner Mouse berühre, entdecke ich die Möglichkeit, das Wort zu lernen, also in das Register des Programms einzutragen. Es wäre dann so, dass ich nie wieder an das vorgestellte Wort erinnert sein würde, solange ich meine eigene Schreibmaschine verwende, weil meine Schreibmaschine sich über die Existenz der Nachtschläferkapselbäume nicht wieder wundern würde. — Gewitterfront von Südwest. — stop
gedankengang
echo : 3.18 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Kurz nach vier Uhr auf dem Maidan-Platz, Kyjiw. — stop
paul moreau
ulysses : 2.18 — Vor genau 1162 Tage folgende Beobachtung: Das bewusste Denken scheint ohne Ausnahme ein Denken mit Stimme zu sein. Ich höre meine ureigene Gedankenstimme, als würde ich über Ohren gebieten, die nach innen gerichtet sind. Sobald ich einen Gedanken mittels der Stimme Paul Newmans oder Jeanne Moreaus in meinem Kopf zur Sprache bringe, habe ich einen bereits vorliegenden Gedanken erinnert, übersetzt, erzählt. Erstaunlich der Eindruck, dass sich mein Mund öffnet, sobald sich meine Hände einer Tastatur nähern. — Weiterhin vertraut. — stop
vor den mangroven
delta : 2.25 — Es darf nicht sein, dass Leute einem den Film kaputt machen. Manchen habe ich schon das Essen aus der Hand gerissen und weggeworfen. Man muss sie verprügeln oder bedrohen, sonst ist der Film verdorben, man hat das Recht sie umzubringen, damit sie aufhören. Aber Mord ist keine sehr gute Lösung, nachher wird man noch verhaftet bevor der Film zu Ende ist. Als ich die „Lady von Shanghai“ das letzte Mal gesehen habe, wollte ich nicht einfach nur mit Rita Hayworth schlafen: Ich wollte Sex mit ihr in Schwarzweiß! Vielleicht könnte man das mit Kontaktlinsen oder einer Brille hinkriegen, die alles in Monochrom verwandelt. Das ist eine seltsame Sache, dass ihre Lippen nicht rot sind. Und das liegt nicht am Lippenstift. Ihr Mund hat diese besondere Farbe, weil er in diesem silbrigen Schwarzweiß gefilmt worden ist. Sie ist ein Fetischobjekt, nicht nur weil sie so schön ist, sondern weil Welles’ Kamera sie fotografiert hat. Deshalb möchte man nicht nur einfach Sex mit Rita Hayworth, man möchte genau mit dieser Figur aus dem Film schlafen. Der Grund warum ich sexuell total verkümmert bin, liegt in meinem Scheitern, den filmischen Vorbildern gerecht zu werden. Im echten Leben spielt sich Sex niemals in Schwarzweiß ab. — Diese kleine Geschichte, die eigentlich aus zwei Geschichten besteht, erzählte Jack Angstreich gerade noch in dem wundervollen Film Cinemania von Angela Christlieb und Stephen Kijak, einer Dokumentation, die von dem Leben leidenschaftlicher Kinogänger in New York berichtet. — 2 Uhr 15. Regen nach wie vor, kühler, hellgrauer Herbstregen. Es könnte sein, dass dieser Regen nie wieder aufhören wird. In einigen tausend Jahren bald bewegten sich amphibische Eichhörnchen vor meinem Fenster durchs Mangrovengebiet. Ebenso denkbar ist, dass ich zu diesem Zeitpunkt über zugespitzte Fingerbeeren verfügen werde, geeignet, jede der filigranen Tastaturen moderner Telefonapparate fehlerfrei und gelassen bespielen zu können. — stop
lufträume
bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop