Aus der Wörtersammlung: traum

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hummergeschichte

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india : 6.32 — Ein Sola­ris­schiff, von dem ich träum­te, war der­art naht­los in ein düs­te­res Stadt­haus von enor­mer Grö­ße mon­tiert, dass nie­mand, der nicht in Kennt­nis gesetzt wor­den war, sei­ne Exis­tenz wahr­zu­neh­men ver­moch­te. Natür­lich spiel­te die Fahr­stuhl­an­la­ge eine bedeu­ten­de Rol­le. Dort war eine zen­tra­le Ach­se des Raum­kreu­zers hin­ein­ge­dacht, umge­ben­de Woh­nun­gen gehör­ten dazu, Tei­le der Küchen, Bäder, Flu­re, Wohn­zim­mer, auch wei­ter ent­fern­te Abtei­lun­gen des Gebäu­des, in dem aller­or­ten Was­ser von den Decken tropf­te. An einem Abend, von dem ich prä­zi­se träum­te, wur­den rausch­haf­te Fes­te unter Regen­schir­men gefei­ert. Sie dien­ten einem ein­zi­gen Zweck, Welt­raum­rei­sen­de näm­lich von zurück­blei­ben­den Men­schen zu sepa­rie­ren. Ich konn­te im Traum den ein oder ande­ren Bewoh­ner des Hau­ses leicht nar­ko­ti­siert von einem Apart­ment in das nächs­te wan­deln sehen. Als ich erwach­te, hock­te ein klei­ner blau­er Hum­mer an der Wand mei­nes Zim­mers. — stop

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in der subway

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sier­ra : 5.28 – Ich hat­te einen Traum, den ich ver­such­te fest­zu­hal­ten, also in ihm wei­ter­zu­exis­tie­ren, sagen wir ganz ein­fach, ich hat­te den Wunsch, nicht auf­zu­wa­chen. In die­sem Traum saß ich in einem Sub­way­wa­gon unter Men­schen, die einen fröh­li­chen Ein­druck mach­ten, ein Säug­ling wur­de in nächs­ter Nähe gewi­ckelt, ein paar Kugel­fi­sche schweb­ten durch den Raum, über einem offe­nen Feu­er wur­den Eich­hörn­chen gebra­ten, deren Sprung­keu­len in der Hit­ze der Flam­men knis­ter­ten und zisch­ten. Mein Vater saß neben mir und schlief. Und da war eine Frau, die einen Kof­fer auf ihre Knie gelegt hat­te. In die­sem Kof­fer befan­den sich Bücher, sie waren so klein, dass sie jedes der Bücher, das sie betrach­ten woll­te, mit einer Pin­zet­te aus dem Kof­fer heben muss­te. Mit einer wei­te­ren Pin­zet­te blät­ter­te sie um, sah in die­ser Bewe­gung durch ein Mikro­skop, das sie mit einem leder­nen Gür­tel vor ihre Stirn mon­tiert hat­te. Das war ein schwe­rer Appa­rat, wes­halb die Frau über kräf­ti­ge Hals­mus­keln ver­füg­te, die mit jeder Bewe­gung unter ihrer Haut hin und her hüpf­ten, als sei­en sie Tie­re für sich. Von Zeit zu Zeit notier­te die Frau in eines der Bücher, das sie her­vor­ge­holt hat­te. Auch der Stift, mit dem sie schrieb, war so klein, dass er für mei­ne Augen nicht sicht­bar war. Indem die Frau notier­te, for­mu­lier­te sie, ohne je eine Pau­se ein­zu­le­gen, immer nur einen Satz: Bit­te nicht atmen! Bit­te nicht atmen! Sie flüs­ter­te im Übri­gen mit den Ohren. — stop

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beutelmenschen

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ulys­ses : 0.05 – Lan­de­te an einer Küs­te vor einer hoch auf­ra­gen­den, glä­ser­nen Wand. Auf einer Wie­se, die sich vom Was­ser her bis zur Wand hin erstreck­te, blüh­ten Leber­blüm­chen, Zwerg­mohn, Kro­kus­se. Auch hin­ter der Wand war eine Wie­se zu erken­nen, Fische spa­zier­ten her­um, Tau­send­füß­ler­fi­sche, und wie­der Leber­blüm­chen, Zwerg­mohn, Kro­kus­se. Vor der Wand in einem Abstand von weni­gen Metern zuein­an­der reih­ten sich gefal­le­ne Gar­ten­stüh­le bis zu den Hori­zon­ten. Men­schen hin­gen dort in der Luft, Hän­de gefan­gen in Fal­len, die von der Kro­ne der Wand bau­mel­ten. Das waren Schnapp­fal­len gewe­sen, höl­zer­ne Appa­ra­tu­ren. Indem ich näher­kam, baten mich eini­ge der Men­schen flüs­ternd, einen der Stüh­le unter ihren Füßen wie­der auf­zu­rich­ten. Ande­re waren zu stil­len Haut­beu­teln gewor­den, in wel­chen Amei­sen Kno­chen beweg­ten. Ich sehe mich, wie ich einen Mohn­blu­men­strauß pflück­te. Wan­der­te die Küs­te ent­lang, erzähl­te hei­te­re Geschich­ten, über­reich­te traum­wärts den Leben­den je eine müde Blu­me und schmück­te die Toten. — stop
ping

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malta : eine scheeweiße frau

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tan­go : 10.18 – Kurz nach 10 Uhr mor­gens sind heu­te ein paar selt­sa­me Din­ge gesche­hen. Ich saß auf einem schma­len Bal­kon in ange­nehms­ter Luft und hör­te dem bezau­bern­den Gesang eines nicht sicht­ba­ren Vogels zu. Eine Fäh­re, viel­leicht von Sizi­li­en her, kreuz­te indes­sen den Aus­schnitt des Mee­res, den ich von mei­nem Stuhl aus wahr­neh­men konn­te. Sobald sie ver­schwun­den gewe­sen war, öff­ne­te ich die Times vom Vor­tag und las, dass noch immer nicht bekannt gewor­den sei, wo der chi­ne­si­sche Künst­ler Ai Wei­wei gefan­gen gehal­ten wird. In Japan ver­such­te man wei­ter­hin unter höchs­ter Gefahr in ver­seuch­tem Gebiet, Opfer des Tsu­na­mi zu ber­gen. In die­sem Moment öff­ne­te sich ein Fens­ter jen­seits der Stra­ße, eine Frau, deren Gesicht schnee­weiß gewe­sen war, starr­te mich für eini­ge Sekun­den an. Das war ein merk­wür­di­ger Blick, ein Blick, als ob sie mich in die­sen Sekun­den mit ihren Augen foto­gra­fie­ren wür­de. Bald zog sie ihren Kopf wie­der zurück in den Schat­ten des Rau­mes, um kurz dar­auf wie­der­zu­keh­ren, mit einem Korb in der Hand, der an einer Schnur befes­tigt war. Sie seil­te den Korb zur Stra­ße hin ab, sah mich in die­ser Bewe­gung wie­der foto­gra­fie­rend an, beob­ach­te­te dem­zu­fol­ge, wie ich ihrem Korb mit den Augen folg­te. Vor dem Haus weit unter uns war­te­te ein Brief­trä­ger. Der jun­ge Mann ent­nahm dem Korb ein Schrift­stück und leg­te statt­des­sen eine Fla­sche hin­ein. Unver­züg­lich hol­te die Frau den Korb wie­der zu sich nach oben. Kräf­ti­ge Bewe­gun­gen ihrer dür­ren Arme. Auch ihre Arme waren so strah­lend weiß, dass ich den Ein­druck hat­te, sie wären aus Licht gemacht oder von der Ein­sam­keit des Zim­mers. — stop

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alesund

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romeo : 22.58 — Plötz­lich bin ich in Ale­sund am Meer. Mei­ne Arme lie­gen traum­wärts auf einem Tisch von Holz. Bäu­me wach­sen auf ihrer Haut, Regen­wäl­der, dicht. Wenn ich mich mit einem Ohr nähe­re, hör ich das Brül­len der Affen, das Sin­gen der Vögel. Blau­es, ewi­ges Licht. Die Erde steht still. Ein schnee­wei­ßes Schiff glei­tet geräusch­los am Pier vor­über. Eis­ber­ge schau­keln am Hori­zont. Wenn ich sie betrach­te, schla­fe ich auf der Stel­le ein. — stop

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fernsehmaschine

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tan­go : 22.08 — Bil­der von der Fern­seh­ma­schi­ne, die einem Alb­traum ent­kom­men. Das Meer reißt mensch­li­ches Leben an sich, eine gewal­ti­ge, flüs­si­ge Faust, die auf schwan­ken­des Land nie­der­geht. Ato­ma­re Höl­len­hit­ze in zer­brech­li­chen Gefä­ßen. Ein klei­ner Jun­ge steht unter Nadel­bäu­men, erho­be­ne Hän­de, vor einer erwach­se­nen Per­son, die einen Schutz­an­zug trägt. Der Astro­naut misst, ob das Kind gefähr­lich gewor­den ist. Uralte Men­schen ruhen in der kal­ten Luft auf Bah­ren in Decken gewi­ckelt dicht über dem Boden, Neu­ge­bo­re­ne in ihren letz­ten Lebens­ta­gen, die mit wild gewor­de­nen Augen den Him­mel betas­ten. Von Stun­de zu Stun­de zäh­len Kom­men­ta­to­ren in den Spra­chen die­ser Welt Geis­ter­zah­len, Tote, Ver­miss­te, Ver­letz­te. Da ist ein brau­sen­des Geräusch, schwar­zes Was­ser, das Autos, Schif­fe, Häu­ser durch enge Stra­ßen land­ein­wärts drückt, Hupen, ble­cher­nes Kra­chen, kei­ne mensch­li­chen Stim­men. Am Strand dann aber ein Mann, der zu einer Kame­ra spricht. Er sagt, er glau­be, sich in einem Hor­ror­film zu befin­den, er wis­se nicht, ob er träu­me. Mit einem fes­ten Griff reißt er an der Haut sei­nes Gesich­tes. Das Unsicht­ba­re schon anwe­send. Weit drau­ßen auf dem offe­nen Pazi­fi­schen Oze­an treibt ein wei­te­rer Mann. Er steht auf dem Dach sei­nes eige­nen Hau­ses. — stop

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traumstempel

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alpha : 20.48 — Wie­der ein­mal von Regen­schirm­tie­ren geträumt. Es ist immer der­sel­be oder ein ähn­li­cher Traum, der in einer pen­deln­den Bewe­gung durch mein Leben streift. Sofort einen Text erin­nert, der sich nun­mehr wie ein Traum­er­zähls­tem­pel zu ver­hal­ten scheint: Die Luft im Traum war hell vom Was­ser gewe­sen, und ich wun­der­te mich, wie ich in die­ser Wei­se, bei­de Hän­de frei, durch die Stadt gehen konn­te, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und staun­te, weil ich nie zuvor eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men hat­te. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut, ja, Haut von der Art der Flug­haut eines Abend­seg­lers. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es reg­net noch immer. – Guten Abend! — stop

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kalkutta

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echo : 17.05 — Im Traum in Kal­kut­ta gewe­sen. Spa­zier­te unter einem Regen­schirm bis zu den Hüf­ten hin in schil­lern­dem Was­ser. Büch­sen und Tüten und Schu­he düm­pel­ten um mich her­um, dar­un­ter strah­len­de, lachen­de Gesich­ter von Kin­dern, die bade­ten, in dem sie mit hel­len Stim­men zu mir spra­chen. Bald zogen sie mich mit sich fort durch enge Stra­ßen, die höl­zer­ne Häu­ser säum­ten. In die Wand eines die­ser Häu­ser war ein Com­pu­ter­bild­schirm ein­ge­las­sen, dar­un­ter eine Tas­ta­tur mit Tas­ten je so groß wie eine aus­ge­wach­se­ne mensch­li­che Hand. Die Kin­der erzähl­ten, jene gefan­ge­ne Maschi­ne sei ihre Maschi­ne. Sie hüpf­ten vor der Wand hin und her, in dem sie einen Text notier­ten, den ich nicht lesen konn­te. Auch des­halb nicht lesen konn­te, weil ich mei­ne Arme und Bei­ne beob­ach­te­te, die je in eine ande­re Him­mels­rich­tung fort­ge­tra­gen wur­den. Eine Selbst­auf­lö­sung, die sich in Minu­ten­frist voll­zog, als sei der Text der Kin­der eine Beschwö­rung gewe­sen, die mei­ne ana­to­mi­sche Gestalt sorg­fäl­tig in klei­ne­re Tei­le zer­leg­te. Eines der Kin­der nahm mei­nen Kopf mit sich nach Hau­se. Behut­sam wur­de ich getra­gen und vol­ler Stolz her­um­ge­zeigt. Eine gespens­ti­sche Geschich­te viel­leicht, die sich ereig­ne­te am Mon­tag bereits gegen 3 Uhr am Nach­mit­tag. — stop
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man on wire

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nord­pol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Phil­ip­pe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem win­di­gen Tag heim­lich zwi­schen den Tür­men des World­tra­de Cen­ters gespannt wor­den war, mit Balan­cier­stan­ge in Hän­den auf den Rücken legt. Kei­ne Film­auf­nah­men exis­tie­ren von jenem Moment aus nächs­ter Nähe, aber Foto­gra­fien, die im Wis­sen des Win­des und der Tie­fe einen deh­nen­den, einen zer­ren­den Schmerz in mei­nem Kör­per erzeu­gen. Der Seil­tän­zer wur­de fest­ge­nom­men und einem Psych­ia­ter vor­ge­führt. stop. Schnee in Zeit­lu­pe. stop. Ruhe. stop. Der Luft­raum, in dem sich Phil­ip­pe Petit beweg­te, exis­tiert wei­ter fort. — stop
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herr auf bahnsteig

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echo : 6.28 — Ein älte­rer Herr abends spät auf dem Bahn­steig einer Metro­sta­ti­on. Der Mann ist offen­sicht­lich glück­lich. Gera­de noch, vor weni­gen Minu­ten, pas­sier­te er mit einem Kof­fer in der lin­ken Hand eine Bild­schirm­wand, las im lang­sa­men Gehen einen Text, der eine hal­be Minu­te zuvor dort erschien. Die­ser Text, eine Mel­dung, berich­tet von For­schungs­er­geb­nis­sen eines nord­ame­ri­ka­ni­schen Insti­tu­tes, man habe näm­lich her­aus­ge­fun­den, dass die Inten­si­tät der Gefüh­le mit dem wach­sen­den Alter eines Men­schen stei­gen wür­de, man kön­ne sich mit 60 Jah­ren am bes­ten in eine ande­re Per­son hin­ein­ver­set­zen, gleich­wohl schwie­ri­gen Zei­ten etwas Gutes abge­win­nen. Wie er die­sen Text nun liest, wird der alte Mann lang­sa­mer, hält schließ­lich an, wen­det sich dem Licht des Bild­schir­mes zu, setzt den Kof­fer neben sich auf den Boden ab. Leicht nach vor­ne gebeugt steht er da, ein Schat­ten, eine Sil­hou­et­te, die sich auch dann nicht bewegt, als die Nach­richt, die von der Natur, vom elek­tri­schen Wesen des alten Man­nes per­sön­lich erzählt, ver­schwin­det und statt­des­sen ein Wet­ter­be­richt (Eis und Schnee), eine Rei­se­emp­feh­lung (Ägyp­ten), sowie aktu­el­le Devi­sen­kur­se (Dol­lar stei­gend) erschei­nen. Der alte Mann war­tet, er war­tet zwei oder drei Minu­ten, bis der Text, den er stu­dier­te, wie­der­kehrt. Wei­te­re Minu­ten ver­ge­hen, dann nimmt der alte Mann sei­nen Kof­fer vom Boden, dreht sich auf dem Absatz her­um, sieht mich an, er lächelt und geht wei­ter. Eine Frau nähert sich in die­sem Moment, da ich notie­re, dem Luft­raum vor dem Bild­schirm. Sie trägt einen läng­li­chen Papp­kar­ton, in dem sich, einer Zeich­nung fol­gend, ein Weih­nachts­baum (Tan­ne) befin­den soll. Aber das ist schon eine ganz ande­re Geschich­te. Guten Mor­gen! — stop



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