nordpol : 2.32 — Der Fotograf Raymond C. erzählte folgende Geschichte. Er habe einige Wochen auf Fährschiffen gearbeitet, die unentwegt seit über einem Jahrhundert zwischen den Inseln Manhattan und Staten Island pendeln. Während der ersten Woche seiner Schiffreise habe er versucht, in der Dunkelheit die Silhouette Brooklyns zu fotografieren, das sei keine leichte Sache gewesen: Du musst Dir vorstellen, diese schönen orangefarbenen Schiffe liegen zwar schwer im Wasser, und doch taumeln sie seitwärts und auf und ab dahin. Ich habe nach einigen Tagen bereits aufgegeben, richtete mein Objektiv nun gegen das Wasser, fotografierte Treibgut in nächster Nähe, das mit dem Hudson River stromabwärts reiste. Wenn Du lange Zeit durch den Sucher Deiner Kamera ins Wasser blickst, wirst Du Dich über Regenschirme, Kinderwagen, Autoreifen, Matratzen nicht länger wundern, es ist so, als gehörten sie wie kleinere und größere Seevögel natürlicherweise in den Fluss. Ich habe Flaschen porträtiert, tote Katzen, Schaufensterpuppen, man muss gut aufpassen, rechtzeitig auf den Auslöser drücken, die Schiffe fahren schnell, einmal sei ein Mann über Bord gesprungen. An einem Juniabend fuhr Raymond fort, habe er sich nach erfolgreicher Arbeit müde auf eine Bank des Promenadendecks der John F. Kennedy gesetzt, er sei dort für einen Augenblick eingeschlafen und habe in diesem Moment des Schlafens mit der Fotokamera in der rechten Hand ohne Vorsatz seine linke, also seine schlafende Hand fotografiert. Raymond entdeckte diese so seltene wie unerwartete Aufnahme, während er in der Metro heimwärts fuhr. Nachts, in seinen Ateliers in Queens, habe er sich dann an seinen Küchentisch gesetzt, habe seine Kamera auf ein Stativ geschraubt und über der Tischplatte in Stellung gebracht. — stop
Aus der Wörtersammlung: weise
who is fred wesley?
tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb, weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. Ohnehin drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war, damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
ein selbstgespräch
nordpol : 15.12 — Oder ein Chatraum, in dem 200 Jahren lang eine Person mit sich selbst kommuniziert. Plötzlich erscheint das erste Zeichen einer weiteren Person, dann ein ganzes Wort in diesem Raum. — HELLO! — Langes Schweigen. — Jahre andauerndes, schweigendes Warten wie Staunen. Dann, unvermittelt, ein Jahrzehnt ist vergangen, wird das Selbstgespräch in einer Weise fortgesetzt als wäre das Wort HELLO niemals ausgesprochen oder empfangen worden: /// guten abend! wie geht es dir? — gut! und dir? — prächtig. — schön zu hören. lange nicht gesprochen, wo liegt dein problem? — ich habe heute abend kein problem. — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! — darf ich dir eine frage stellen? — sicher! — was bedeutet das wort luftwellensegel? — hast du schmetterlinge im bauch? — bitte! bleiben wir ernst, bleiben wir bei der sache: was bedeutet das wort luftwellensegel? — lass uns das eine weile zurückstellen. — warum? — erzähl weiter! — hast du schon andere gefragt? — aber natürlich! — schön zu hören. wo liegt dann dein problem? — ich habe heute abend kein problem! — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! ich sehe, du bist ein schwieriger fall. /// — stop
ANFANG === bEKOl6nBFkbLw4UCQdhQBw === ENDE
alpha : 5.15 — Der Feed-Atom eines kleinen Textes, den ich im Juni des Jahres 2013 an dieser Stelle verschlüsselt sendete, wurde bisher 16205 Mal angefordert. Ich bin nun beinahe sicher, dass es sich bei meinem Text um die Lektüre einer Maschine handelt, die sich rhythmisch vergewissert, ob der möglicherweise gefährliche Text noch existiert auf dem Particles-Server. Diese mir nicht bekannte, routiniert arbeitende Maschine scheint noch immer nicht in der Lage zu sein, einen Code zu erkennen, der im letzten Satz des Textes selbst für seine umgehende Entschlüsselung präpariert wurde. Eine skurrile Angelegenheit, nicht wahr! Versuch No. 3: ANFANG === a 4 n Z Q c Z c V 5 2 E p 5 0 P B S a l A B Y l g e 0 E Z M a N Q M D U F f a 5 g a F X 0 r j W u G h y B C V u v f L 7 U r D z s 9 y V 7 Q x I Q R E m I L c I 9 c n c D p t x g / y G r p M e k z a x 3 s O f c H / E e Q s 2 X 0 8 6 6 U h i M J 3 G 5 0 r m A f j Q j h k 3 f f 7 5 m r W + i R O f F H R d b m 1 n q i v 8 B Y 5 P m b q J 6 W J 8 Z t j o F h u J V Z T r W V 8 h + I 3 Y k g / P j L 0 S 5 p B j 8 J t / B 1 8 p + O O h k l 5 f n i z q e H J s s e g P W 9 m F n c L n / 6 Y C 8 n L p v / G H x m n K / D I 5 v d F u 8 u 8 M l 5 A m / V Y p g Q === ENDE / codewort : birdybirdy — stop
vom fotografieren
himalaya : 2.28 — Gestern Abend machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Es war schön warm geworden, über den Opernplatz jagten ein paar Haifüssliere in Kopfhöhe unter den flanierenden Menschen dahin, eine wirklich schöne dunkelblaue Stunde. Und während ich so ging, telefonierte ich scheinbar, das heißt, ich hielt mein Mobiltelefon an mein rechtes Ohr, aber anstatt einer Stimme zuzuhören, die gar nicht aus dem Telefon herauskommen konnte, weil ich mit niemandem verbunden war, fotografierte ich wild herum, ohne freilich sehen zu können, was mir vor die Ohrlinse kam. Auf der Kaiserstraße machte ich in dieser Weise heimlich Aufnahmen von einem Hütchenspieler. Ich musste mich dazu seitwärts zum Geschehen in meiner Nähe positionieren. Jemand könnte in diesem Moment vielleicht Verdacht geschöpft haben, als ich weiterging, wurde ich beobachtet, zwei Herren, die mir nicht gefielen, begleiteten mich. Sie kamen sehr nah an mich heran. Um mich zu retten, begann ich in mein Telefon zu sprechen. Ich tat so, als ob ich irgendjemandem eine Geschichte erzählen würde. Ich berichtete von Häusern, die unter riesigen Ballonen schweben. Indessen ging ich nicht schneller voran als üblich. Zweimal blieb ich stehen, und auch die zwei Männer blieben stehen. Am Londoner Platz fiel mir zu Ballonhäusern nichts mehr ein, ich gab darum eine Weile vor, selbst einer Geschichte zuzuhören, nickte immer wieder, lachte, dann fragte ich mit fester Stimme, ob ich vielleicht die Geschichte von den Eisbüchern erzählen sollte. Da ließen, weiß der Himmel, warum, beide Herrn von mir ab. — stop
2 + 5 = 8
alpha : 7.12 — Seit einigen Tagen werde ich von meiner Particles-Wordpressmaschine, sobald ich die Seite der Anmeldung öffne, aufgefordert, unverzüglich nachzuweisen, dass ich ein Mensch bin: Prove your humanity. Dieser prägnanten Aufforderung ist je eine Rechenaufgabe nachgestellt, Zahlen sind zu addieren, etwa die Zahl 4 zur Zahl 6, weswegen ich mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Sorgen mache. Eigentümlicherweise jedoch empfinde ich die Aufforderung, meine menschliche Eigenart darzustellen, als eine Zumutung. Einmal unterläuft mir ein Rechenfehler, und tatsächlich werde ich nicht weiter vorgelassen, obwohl ich meinen korrekten Benutzernamen und mein korrektes Passwort, mehrfach geprüft, in die Maske des Log-ins notierte. Es ist seltsam, seit ich mich beweisen muss, habe ich den Eindruck, meine Particles-Wordpressmaschine sei selbst mächtiger oder menschlicher geworden, eine Persönlichkeit, die mir vielleicht in wenigen Tagen zum Beweis meines menschlichen Ursprungs die Lösung eines Dreisatzes abverlangen wird. — stop
vom fangen
sierra : 6.52 — Eine merkwürdige Website existiert im Internet, man kann dort nämlich Wörter oder Sätze in eine Maske transferieren, nur um Sekundenbruchteile später angezeigt zu bekommen, wie viele Normseiten diese oder jene eingegebene Zeichenfolge in der papierenen Welt bedecken würde. Ich stellte mir vor, wie Texte in genau dem Moment, da sie von einer Autorin oder einem Autor in die vorgegebene Maske geschüttet werden, mittels einer Datenbank festgehalten sind, fraglos, heimlich, lautlos, um sie eventuell einer weiteren Verwendung zuzuführen, Gedanken, ungewöhnliche Formulierungen, Einsichten, Erzählungen, Romane, Gedichte. Es könnte sich demzufolge um eine Webseite handeln, die sich in der Art und Weise der Ansitzjäger verhält. Wir sollten das beobachten. — stop
zebraspringspinne
himalaya : 5.02 — Ich beobachte an diesem Morgen auf dem Fensterbrett nach Süden eine Zebraspringspinne von höchstens 2 Gramm Gewicht. Sie spaziert dort unter meinen Augen furchtlos auf und ab. Möglicherweise ist sie kürzlich erst durch die Luft geflogen oder aber den ganzen Winter über in meiner Nähe gewesen, ohne dass ich sie bemerkte. Für einen Moment halten wir beide inne und schauen in Richtung der Dämmerung. Eine Straßenbahn kommt um die Kurve gefahren, es ist die erste Straßenbahn dieses Tages. Ich schließe die Fenster. Mit dieser ersten Straßenbahn kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus und hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und rasch davonzufahren. Ich sollte morgens einmal auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen und warten, da nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen und der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt sein wird, und die Sitze und Lampen, und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen zehntausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper stürmen durch weichen, fliegenden Falterwald, ping, pong, ping. — stop
radioteilchen
tango : 6.06 — Das Radio erzählt heute Morgen wieder gefährliche Geschichten. Man habe nämlich gestern in der Luft und am Boden nahe Fukushima Plutoniumteilchen entdeckt. Gefährlich für Menschen, so berichtet das Radio, seien diese Particles nicht, weil sie bereits seit den 50er- und 60er-Jahren gleichmäßig über die Erde verteilt existieren, da man testweise Inseln mittels Wasserstoffbomben sprengte. Jetzt ist das aber so, dass zwei von fünf vorgefundenen Teilchen jüngerer Zeit entstammen, vermutlich aus einem Reaktor in nächster Nähe selbst, demzufolge einer oder mehrere der Reaktoren undicht geworden sein könnten. — stop