echo : 8.25 — Weil ein unter der Wasseroberfläche lebender Vogel noch immer ein Vogel ist, weder Fisch noch Amphibie, wird er sich von Zeit zu Zeit an die Gestalt der Bäume erinnern, an den Luftgesang seiner Freunde, an den Wind, der durch sein Gefieder streifte, an das Vordämmerungslicht der Sonne, das ihm Augen und Schnabel öffnete, auch an die Farben der Wolken, an den Schnee, an den Duft der Blüten, an das Öl der Samen, der Nüsse. Er wird vielleicht auf sandigem Boden unter weiteren Vögeln sitzen und das Licht der Wellen wird ihm schmeicheln, komm zurück, komm zurück, und er wird in diesen Momenten fühlen, dass etwas anders geworden ist, dass man als schlafender Vogel auf und davon treiben, dass man niemals wissen kann, wo man erwachen wird. – Ein wunderbar ruhiger Abend, spazierte ins Café, besuchte L., notierte endlich wieder ein paar anatomische Sätze, studierte Zugfahrpläne Mumbai – Darjeeling. Wie schrittweise die Farben zurückkehren, Gravitation, ein Oben, ein Unten. Und plötzlich dieses feine Bild eines Schwarms der Unterwasservögel, wie sie schlafend als Vogelwolke in der Strömung treiben. Manche schweben auf dem Rücken, die Flügel weit geöffnet, andere haben ihren Kopf ins nasse Gefieder gesteckt, gleiten in einer Haltung dahin, als würden sie wie immer auf dem Ast eines Baumes sitzen. Das Nachtgespräch der Schlafenden in meinem Kopf, ein leises Singen, ein Singen, das schon bald zu einem Gespräch geworden ist. — stop
Aus der Wörtersammlung: weise
unterwasservögel
mumbai : 8.03 — Niemand kann sagen, wie das gekommen ist. Vielleicht, weil die Wälder, die sie bewohnten, verschwunden sind, haben Kolibris sich ins nahe liegende Wasser gestürzt, haben das Weite gesucht, das Meer, und konnten atmen, wie durch ein Wunder, konnten sie das Wasser atmen, das Salz, das Plankton. Von einem Tag zum anderen Tag, stelle ich mir vor, war die Gattung der Unterwasservögel geboren, nicht zeitweise tauchende Wesen der Luft, sondern wirkliche Vögel, die sich wie Fische derart fröhlich durchs Wasser bewegen, als seien sie schon immer hier gewesen. Ja, sie fliegen, sie rasen, sie schwärmen durch Korallenbänke, verdrehen Tauchern den Kopf, naschen von allem, was sie noch entfernt an süße Blüten erinnert. Aber schmal sind sie geworden, nasses Gefieder, und haben bisher nicht gelernt, Freund von Feind zu unterscheiden. Ich habe mir heute Morgen gedacht, dass jemand am Code gearbeitet haben könnte, dass bald schon die Möwen den Luftraum verlassen werden, eine Möwe nach der anderen Möwe, dann werden Tauben, Bussarde, Amseln folgen, und auch die Zeisige, die Nachtigallen, die Spatzen und Papageienvögel, alle werden sie das Wasser besuchen. Ich muss das im Auge behalten. — stop
yanuk : cucurrucu!
~ : yanuk le
to : louis
subject : RAIN
date : oct 23 08 6.52 p.m.
Lieber Mr. Louis, froh bin ich, lesen zu dürfen, dass Du wieder Schlaf finden kannst. 38 Tage mit je nur ein oder zwei Stunden der Ruhe, das ist eine lange Zeit. Du musst wohl bald Gespenster gesehen haben, ja, das nehme ich an, Geister oder solche Wesen, die eigentlich nicht für Dich anwesend sind. Ich kann nachfühlen, wie schwer diese Tage für Dich gewesen sein müssen. Auch ich schlafe nicht gut zurzeit. Seit acht Tagen Regen ohne Unterbrechung. Verlasse kaum das Zelt, ständig Geräusche des Wassers. Kühl ist es geworden auf Höhe 286. Ich habe alles so weit vorbereitet, dass ich unverzüglich weiter klettern kann, sobald der Regen nachgelassen haben wird. Vor zwei Tagen hatte ich einen Versuch gewagt und mich auf den Weg gemacht. Aber der Stamm meines Baumes und alle Gewächse, die ich üblicherweise nütze, um mich festzuhalten, sind so feucht, als seien sie Unterwasserpflanzen. Wundere mich, dass ich Deine Nachricht überhaupt empfangen konnte. Vielleicht könntest Du mir etwas Literatur übermitteln. Wäre das möglich? Solange ich nichts zu lesen habe, vertreibe ich mir die Zeit mit der Rettung von Ameisen. Schwimmt eine an meinem Zelt vorbei, biete ich ein Stöckchen an oder ein Blatt und fische sie aus den Sturzbächen heraus. Sie sind alle sehr ähnlich in der Art und Weise, wie sie sich trocknen. Zunächst streifen sie sich das Wasser von den Augen, dann bebt ihr Hinterleib, eine unglaublich schnelle Bewegung. Kaum zufrieden, laufen sie im Zelt herum und kämpfen gegen weitere zufriedene Artgenossen. Ja, jeder kämpft hier gegen jeden, als hätten sie alle unter der Erfahrung des Wassers ihr Gedächtnis verloren. – Cucurrucu! Yanuk
eingefangen
20.58 UTC
1680 Zeichen
que sera, sera, whatever will be, will be …
tango : 8.52 — Immer schon hab ich geträumt. Als Junge saß ich auf Bäumen, meinte, hoch auf einem Schiff zu schaukeln, bis ich bemerkte, dass die Zeit der Physikstunde bereits hinter mir lag. Dann war ich Astronaut oder Taucher, ich träumte Glühbirnen, wie man sie macht, war ein Entdecker in luftigen Räumen. Eines Tages begann ich, meine Träume aufzuzeichnen, um sie fortsetzen zu können. Nun hatte das Träumen etwas mit Erfindung zu tun, weil die geträumte Zeit und ihre Geschichten der wirklichen Welt eingeschrieben, ja einverleibt werden konnten, einer Welt auf dem Papier, wo sie sich behaupten sollten. Von diesem Moment an sammelte ich Träume, Entdeckungen, Nachtzeppeline, konnte zeigen, was ich erfand, konnte teilen mit anderen Menschen, eine spannende Aufgabe, nie ist mir seither langweilig geworden. Oft steh’ ich morgens in meinem Zimmer und schon wird geträumt, noch während ich mich wasche beginne ich meine Arbeit, suche, bin aufmerksam, lausche. Ja, ich arbeite, wenn ich lausche, wenn ich träume, ohne zu schlafen. Manchmal träume ich auf der Straße, während ich spaziere, das ist natürlich sehr gefährlich, weil ich Ampeln vergesse, weil ich mich verlaufe oder in verkehrte Straßenbahnen steige. Gestern Nachmittag beleuchtete ich einen Frosch, der die menschliche Sprache zu imitieren vermag. Zwei Stunden lang arbeitete ich, ging Einkaufen, fortwährend träumend, erfindend, kümmerte mich in der Küche um eine Entenbrust, einmal telefonierte ich, ohne je meine Gedanken an den kleinen, sprechenden Frosch aufzugeben. Ein Geschenk dieses Erzählen, diese Art und Weise zu leben, gerade in schwierigen Zeiten. — stop
anleitung zum glücklichsein
ginkgo : 18.25 — Am letzten Tag des Septembers unterm Regenschirm spaziert. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelt. Das war ein feines Gefühl unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich an einen kleinen Text, den ich im vergangenen Jahr bereits geschrieben habe. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal für Sie wiederholen: „Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man: Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, – diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works.”
wasser
echo : 2.15 — Seit Stunden die Fenster weit geöffnet, und obwohl ich einen Pullover tragen muss, um nicht zu frieren, halte ich die Nacht da draußen für eine Sommernacht. Es ist jetzt zwei Uhr und fünfzehn Minuten. Soeben habe ich Joseph Brodskys feinsinniges Venedig Buch Ufer der Verlorenen auf den Tisch gelegt, um eine Passage daraus abzuschreiben. Als ich die Tastatur in eine günstige Position rückte, sehe ich gerade noch, wie meine Springspinne zwischen zwei Tasten verschwindet, weshalb ich zunächst nicht wagte, auch nur ein Zeichen einzugeben, um sie nicht vielleicht zu verletzen oder gar zu töten. Habe das kleine weiße Klavier dann über dem Schreibtisch herumgedreht und etwas geschüttelt und wenn ich mich nicht täusche, ist mein Freund unter dieser unerwarteten Bewegung herausgefallen. Natürlich bin ich mir nicht ganz sicher, die Spinne ist sehr schnell, und deshalb schreibe ich diese und die folgenden Zeilen sehr behutsam, in einer Weise, sagen wir, die Joseph Brodskys genauer Beobachtung und seinem präzisen Ausdruck angemessen ist. Über den Geruch schreibt er das Folgende: Ein Geruch ist schließlich auch eine Verletzung des Sauerstoffgleichgewichts, ein Einbruch anderer Elemente – Methan? Kohlenstoff? Schwefel? Stickstoff? Je nach Intensität dieser Beimischung erhältst Du einen Duft, einen Geruch, einen Gestank. Es ist eine Frage von Molekülen, und Glück, so nehme ich an, ist der Augenblick, wenn Du die Elemente Deiner eigenen Zusammensetzung im freien Raum gewahrst. Davon gab es eine beträchtliche Anzahl da draußen, im Zustand totaler Freiheit, und ich spürte, dass ich in der kalten Luft in mein eigenes Selbstportrait hinaustrat.
memory
olimambo : 3.02 — Vor einer Stunde ungefähr, aus heiterem Himmel, erinnerte ich mich an eine Briefmarke, die sich zu einer Zeit in meinem Besitz befunden hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. Diese Marke, obwohl sehr viele Jahre weit von mir entfernt, war so gegenwärtig von einer Sekunde zur anderen, als hätte ich sie wenige Minuten zuvor einem Sammelalbum entnommen und auf einen Luftpostbrief geklebt. Zu Ehren des Schimpansen Ham, der in den Weltraum gereist war, um dort einige Übungen in der Schwerelosigkeit zu absolvieren, war sie in einer begrenzten Auflage gedruckt geworden. Das Besondere an Ham war ohne Frage seine Menschenähnlichkeit gewesen, auch dass Ham, im Gegensatz zu Leica, einer russischen Hundedame, seinen Ausflug in den Kosmos überlebte. Der kleine Briefmarkenaffe trug einen Helm, genau genommen einen weißen Astronautenhelm, der unglücklicherweise von einem Stempel getroffen worden war. In diesem Moment, da ich notiere, erinnere mich an einen Riss, der mein Briefmarkenalbum bedrohte, weil er mit jeder Besichtigung der Sammlung, knisternd wuchs. Einmal habe ich einem Mädchen, in das ich verliebt gewesen war, mein Album mit Riss gezeigt, eine seltsame Erfahrung, weshalb ich das Sammeln der Briefmarken aufgeben habe und mich den Schallplatten zu widmen begann. Dieses Mädchen, das mich von den Briefmarken entfernte, hieß Patrizia und trug sehr kleine blaue Knöpfe in beiden Ohren, die herrlich funkelten, sobald sie sich bewegte. Ja, sie funkelten damals bis in meine Träume hinein und sie funkeln noch heute oder wieder, während ich hier still in einer kühlen Nacht herumsitze und mich wundere, dass ich an Dinge denke, die ich vor einer Stunde noch nicht wusste. — stop
gedankenstimme
india : 5.12 – Ich wiederholte einen Gedanken, den ich gegen Mitternacht wahrgenommen hatte, in dem ich versuchte, ihn zunächst langsam und kurz darauf in einer schnelleren Weise zu denken. Und während ich also Geschwindigkeiten probierte, entdeckte ich, dass ich einerseits mit Wörtern, mit Stimmwörtern denke, aber auch ohne Stimme, ohne Wörter. Ich kann die Wörterstimme in meinem Kopf schneller denken oder ich kann sie langsamer denken. Gedanken, erste Gedanken, die scheinbar ohne Sprache sind, sind dagegen so schnell, dass sie bereits fertig geworden sind, wenn sie in meinem Kopf bisher nicht angefangen haben. – Gestern wurde Radovan Karadžić gefangen. — stop
panzerwesen
delta : 5.05 — Seltsame Panzerwesen, die heute Nacht über meinen Schreibtisch taumeln. Sind wie besoffen. Sind, während ich in Jürg Federspiels Typhoid Mary las, weiß Gott woher aufgetaucht, manche paarweise an ihren Hinterteilen verlötet. Schwarz sind sie, tintenschwarz, und riechen streng nach Muskat und diesen Dingen. In nächster Nähe, zur selben Zeit, zwei kleine Fliegen, eine gelb, die andere grau und schwarz. Entweder auch hier etwas Liebe oder aber die dunkle Fliege saugt der hellen Fliege das Leben aus dem Hals. — 4 Uhr 25. Dämmerung. Minutenweise verlängert sich die Nacht. — stop
regenmaschine
charlie : 0.01 — Während eines Spaziergangs entdeckte ich unlängst im Eingangsbereich einer luxuriösen Wohnanlage eine Regenmaschine. Eine Regenmaschine, werden Sie vielleicht fragen, was ist denn das? Nach Beobachtung, eine halbe Stunde, lässt sich Folgendes notieren. Eine Regenmaschine regnet je für drei Sekunden genau dorthin, wohin ein ordentlicher Regen, der vom Himmel kommt, nicht fallen kann, weil ihn ein Dach, beispielsweise, daran hindert. Eine Regenmaschine hingegen regnet auch unter Dächern oder in Hauseingängen oder in Wohnungen, und auch dann, wenn es gerade einmal nicht vom Himmel regnet, regnet sie im Takt einer Minute. Dieser Regen einer Regenmaschine, wie ich sie vorgefunden habe, ist also ein besonderer Regen, ein Regen, der sich gegen Personen richtet, gegen Straßenbürger, gegen Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Organisierter Regen, sagen wir, Regen gegen den Schlaf und diese Dinge. — stop