echo : 10.12 — Einmal erlebte ich einen älteren Herrn, den ich immer wieder erinnere, beinahe jedes mal, sagen wir, wenn ich bewusst Fliegen beobachte. Dieser Herr nämlich nannte jede der zahlreichen Fliegen, die auf ihm selbst oder in seiner Nähe durch die Luft turnten, beim Namen. Ich hörte eine Weile zu, dann holte ich meinen Schreibblock aus der Tasche und begann die Namen der Fliegen zu notieren. Das waren wunderbare Namen, eine sehr lange Liste, Namen vermutlich, die in genau dem Moment, da sie an eine Fliege gerichtet würden, erfunden worden waren. Ich zitiere: Line Jacobsen . Nameer Burini . Jui Patel . Zollai Janos . Isabell Weber . Yvetta Cemohorsta . Alois Szeg . Bent Lauritzen . Katja Sally Innes . Vili Luksha . Abraham Vele . Magla Sellal . Sabiba Lu. — stop. Nichts weiter. — stop
Aus der Wörtersammlung: wunderbar
schlafende
sierra : 15.02 — Ich hörte, sobald Menschen zu schlafen beginnen, sobald sie sich in Langzeitschläfer verwandeln, verschwinden nach und nach jene Menschen aus ihrem Leben jenseits der Träume, die nur selten schlafen, nur für Stunden nachts. Oder aber die Schlaflosen kehren an die Betten der Schlafenden zurück, weil sie hier in den Schläferzimmern sitzend zur Ruhe kommen. Manchmal schlafen selbst die Ruhelosesten unter ihnen an den Betten der alten Menschen ein. Wie wunderbar die Herbstbaumlampen leuchten. — stop
max
charlie : 20.45 UTC — Ich habe meinen Freund Max besucht, der in München wohnt in der Briennerstraße unter dem Dach in einem Loft, das derart weiträumig ist, dass man darin Hallenfußball spielen könnte. Seine Vögel, zwei Kakadus, fliegen dort gern frei herum, sie sollen, so Max, niemals bislang irgendeinen Schaden an seinen Möbeln angerichtet haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass Max’ Vögel möglicherweise nicht ganz echt sind, ich meine, dass sie kühle Tiere von äußerst leichtem Metall sein könnten unter dichtem Federkleid verborgen, dass sie also nur vorgeben, Vögel zu sein, während sie vielmehr Drohnen sind, die sich von Max’ Computer gesteuert durch die Wohnung bewegen, als wären sie natürliche Wesen. Ich habe beide Tiere immer nur im Flug beobachtet, nie aus nächster Nähe, denn wenn sie einmal nicht fliegen, sitzen sie in einem Käfig, der dicht unter der Decke des Raumes unerreichbar weit entfernt montiert wurde. Wunderbare Algorithmen steuern den Flug der Kakadus, auch ihre Gespräche, die sie beständig führen. Es ist spät geworden, eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen, von Max’ Computer, der über eine Taste für Cappuccino verfügen soll. Diese Geschichte werde ich im nächsten Jahr erzählen. — stop
sumatra petit
india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wärme im Arbeitszimmer, 88 Prozent Luftfeuchte, meine Schreibmaschine, die gerade eben noch von einem Schirmsammler erzählte, schnauft vor sich hin, jeder weitere Satz scheint ihr Prozessorherz aufzuregen. Ich selbst habe schon längst aufgehört zu atmen, habe meine Kiemenschächte, die links und rechts hinter meinen kleinen Ohren im Verborgenen liegen, geöffnet, nun bin ich ganz auf der sicheren Seite. Mein Telefonhörer ruht neben Lutz Seiler Zeitwaage, ein Buch, das ich zur Stunde kaum wage anzufassen, es konnte zerfallen. Überhaupt bin ich heute ein wenig langsam in der Aufnahme der Wörter, ich lese sozusagen Buchstabe um Buchstabe voran. Über meinem Sofa haben sich drei Wolkentürme gebildet, die bald blitzen werden, ich kenne das schon, es blitzt und dann wird es regnen, diesen wunderbaren Regen aus meinen Zimmerwolken, der nach Veilchen duftet, ich weiss noch immer nicht warum. Auf dem Fensterbrett ein Zeisig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tauchen. — stop
sisulu
delta : 6.15 UTC — In der vergangenen Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich war in der Dämmerung mit meinem Trompetenkäfer abends spazieren im Palmengarten. Die Luft duftete nach Flieder, obwohl schon Juni geworden war. Der Käfer, dem ich kurz nach seiner Entwicklung den Namen Sisulu 8 gegeben hatte, hockte auf meiner rechten Schulter, weswegen ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen Fuß setzte, weil ich natürlicherweise von der Flugunfähigkeit des kleinen Wesens wusste, er war nicht zum Fliegen ausgedacht, sondern zum Trompetespielen. Ich ging also ganz langsam nordwärts vorbei an einer wunderbaren Sommerwiese, die von den Schlafgeräuschen der Heuschrecken leise knisterte, erreichte dann nach zwei Stunden langsamen Gehens eine hölzerne Bank am Rande einer weiten Steppenlandschaft, es war schon Nacht geworden. Ich nahm Platz auf der Bank, überschlug die Beine und setzte den kleinen Käfer auf mein rechtes Knie. Unverzüglich begann Sisulu 8 zu spielen in einer Weise, wie ich es vor langer Zeit schon einmal zu beschreiben versuchte. Bald war ich eingeschlafen, ich weiss nicht genau wie lange Zeit ich geschlafen hatte, als ich erwachte, saß Maceo Parker neben mir auf der Bank. Er hatte sich mit seinem rechten Ohr meinem Knie genähert, ich wagte in diesem Augenblick kaum zu atmen, das muss man sich einmal vorstellen, Maceo Parker auf einer Nachtbank neben mir sitzend, wie er meinem Käferfreund Sisulu lauscht. Es ist jetzt schon bald Morgendämmerung, meine Güte, und ich bin noch immer nicht wirklich wach geworden. — stop
ich war im flur spazieren
tango : 15.06 UTC — Über einen langen Flur eines Schiffes wandernd begegneten mir zwei Männer, ein junger und ein etwas älterer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stimmen in meinen Ohren deshalb lauter wurden, hörte ich, dass sie sich über ein Büro unterhielten, in welches einer der beiden Männer vor wenigen Tagen erst eingezogen war. Es ging in dem Gespräch außerdem um Möbel. Die Männer waren sich, so mein Eindruck, nicht ganz einig gewesen. Sie diskutierten, ein lautes, lachendes, ein lebendiges Gespräch, weshalb ich umdrehte und den Männern in dezentem Abstand folgte, ich wollte Ihnen heimlich zuhören, was vermutlich nicht ganz höflich gewesen war. Ich glaube, die zwei Männer bemerkten mich glücklicherweise nicht. Warum ist dein neues Büro so leer? wollte der eine Mann, er war wirklich noch sehr jung gewesen, von dem anderen, dem älteren Mann wissen. Das ist so, antwortete der alte Mann dem jungen Mann, hör zu, ich will unabhängig leben von meinem Büro, ich will nicht mit ihm verwachsen sein. Wenn ich von meinem Büro einmal getrennt werden sollte, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit meinem Büro verwachsen sein würde, könnte man mir Schmerzen zufügen, man könnte sagen, Sie dürfen bleiben, wenn sie folgsam sind, man könnte mich erpressen, verstehst Du, man könnte mich mit leichter Hand fertigmachen. Deshalb sind in meinem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papiere, ein Obstkorb, eine besondere Tafel, die beschriftet werden kann und wieder gereinigt von Farbe, eine Zeichnung weiterhin, die einen Mann zeigt, der sein Fahrrad zerlegte, außerdem sind da noch, eine Kaffeetasse, drei Stühle für Gäste, ein kleiner Kühlschrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Teppich, welchen ich auf einer Reise nach Marokko entdeckte, eine Stehlampe, die sich gleich hinter meinem Schreibtisch befindet, ein wunderbar warmes Licht strömt von dort, eine zweite Lampe auf dem Schreibtisch, die im Winter zusätzlich Licht spenden wird, ein kleines Sofa, Bleistifte in einem Bleistiftgefäß, ein Telefon, zwei Kakteen, fünf Orchideen auf der Fensterbank, ein Käfig mit einem Zeisigpärchen, drei Schreibmaschinen, eine Fotografie, die meine Geliebte zeigt wie sie lächelt, ist das nicht wunderbar. — stop
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiss nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domins Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht ein längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls hab ich keine andere. Weisst Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervorgespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie irgendeine unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop
chicago
india : 16.28 UTC — Einmal, ich habe vor zwei Jahren bereits davon erzählt, arbeitete ich im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie los werden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gern zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiere in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
sekundenglück
romeo : 17.10 UTC — Adele, die in Südafrika geboren wurde, in Johannesburg genauer, in Soveto, sitzt auf einer Bank der Centralstation. Sie sollte eigentlich längst auf dem Weg zur Arbeit sein, es ist kurz nach zehn Uhr, stattdessen sitzt sie hier unter weiteren Menschen auf einer Bank und weint. Sie sagt, sie habe ihre Brille vergessen, ohne Brille könne sie nicht arbeiten, wenn sie heute nicht arbeiten würde, werde das sehr schlimme Folgen haben, man würde ihren Vertrag nicht verlängern, ohne Arbeit sei ihre Aufenthaltsgenehmigung bald verwirkt, sie müsse dann zurück nach Südafrika, ich könnte mir gar nicht vorstellen, was das für sie bedeuten würde, deshalb weine sie, deshalb sei sie ganz am Ende, nein, dass Lesebrillen existieren, die nicht einmal soviel kosten wie eine Wochenzeitung, das wusste sie nicht, das ist jetzt doch eine Überraschung, die wunderbar ist, Brillen gleich hier um die Ecke, Brillen die stark sind, nein wirklich! Wie sie jetzt aufspringt, wie sie zunächst auf die Uhr blickt, dann auf die kleine Skizze, die sie aus den Wörtern pflückte, die ich ihr erzählte, wie sie auf knallroten Turnschuhen losrennt, wie sie mit einem Lächeln zurück in der Menschenmenge verschwindet, so viel Glück, dass die Luft zu knistern beginnt, soviel Glück. — stop
beckett
charlie : 6.32 UTC — In dem kleinen Café, das den Namen Sahara trägt, wird Menschen, die am Flughafen arbeiten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gerade von der Arbeit. Außerdem schneit es in einer Weise, als wäre Winter. Sie zieht ihren Mantel aus und die Handschuhe, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstimmung in der Türkei nicht sprechen. Sprechen wir über meine nächste Reise, ich weiss nicht wohin ich reisen soll, ich bin seit ich denken kann, immer in die Türkei gereist, diesmal werde ich nicht in die Türkei reisen. — Ist es zu gefährlich, frage ich. — Nein, antwortet lcal, es ist nicht gefährlich für mich, ich will nicht. Wohin könnte ich nur reisen im Sommer? — Ich sage: Venedig ist schön, aber eher im späten Herbst, vielleicht magst Du in die Berge gehen, Du könntest auf einer Hütte im Karwendelgebirge wohnen und wandern, das ist ganz wunderbar dort. In diesem Moment entdecke ich einen Schriftzug von weisser Farbe, der Iclals rosafarbenes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Das sind wunderbare Worte, sage ich, Samuel Beckett hat sie geschrieben. — Ja, wirklich, antwortet Ical, wer ist das? Sie sieht an sich herab. Ich habe nicht darauf geachtet, was da steht, das ist Englisch, ich kann kein Englisch, was steht da, das Beckett geschrieben hat? — Ich überlege, wie ich Becketts Sätze korrekt übersetzen könnte. ich überlege lange. Das ist offensichtlich schwierig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poesie, da muss man sehr behutsam mit den Wörtern umgehen, man muss sehr genau sein. Kurz darauf werde ich mit meiner Übersetzung fertig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dachte noch, wie gerne ich ihr Lachen in diesem Moment auf Tonband aufgenommen hätte — stop