Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 507, Luftfahrt — 701, Automobile — 53], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 1, 19. Jahrhundert – 105, 20. Jahrhundert – 1422 , 21. Jahrhundert — 82 ], physical memories [ bespielt — 7, gelöscht : 26 ], Frösche [ ein Pärchen ] auf Treibholz [ 2 ], Öle [ 0.77 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 6, Kniegelenke – 33, Hüftkugeln – 88, Brillen – 2 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 177, Größen 38 — 45 : 209 ], Kühlschränke [ 22 ], Telefone [ 652 ], Porzellanpuppenköpfe [ 3 ] Gasmasken [ 8 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 56 ], Engelszungen [ 76 ] | stop |
noise
ginkgo : 21.38 — Als ich unlängst die wunderbare Filmkomödie Noise von Henry Bean entdeckte, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren in New York skizzierte. Sie geht so: Seit einigen Tagen spaziert ein drahtiger Herr von kleiner Gestalt in meinem Kopf herum. Er ist so deutlich zu sehen, dass ich meinen möchte, ich würde ihn einmal persönlich gesehen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärmquellen, die so beschaffen sind, dass man ihnen mit professionellen Mitteln zu Leibe rücken könnte, Hupen, zum Beispiel, oder Pfeifgeräusche jeder Art, Klappern, Kreischen, verzerrte Radiostimmen, Sirenen, alle diese verrückten Töne, die nicht eigentlich begründet sind, weil sie ihre Ursprünge, ihre Notwendigkeit vielleicht längst verloren haben im Laufe der Zeit, der Jahre, der Jahrzehnte. Ich erinnere mich in diesem Moment, da ich von meiner Vorstellung erzähle, an einen schrillen Ton in der Subway Station Lexington Avenue / 63. Straße nahe der Zugangsschleusen. Dieser Ton war ein irritierendes Ereignis der Luft. Ich hatte bald herausgefunden, woher das Geräusch genau kam, nämlich von einer Klingel mechanischer Art, die über dem Häuschen der Stationsvorsteherin befestigt war. Diese Klingel schien dort schon lange Zeit installiert zu sein, Kabel, von grünem Stoff ummantelt, die zu ihr führten, waren von einer Schicht öligen Staubes bedeckt. Äußerst seltsam an jenem Morgen war gewesen, dass ich der einzige Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch interessierte, weder die Zugreisenden noch die Tauben, die auf dem Bahnsteig lungerten, wurden von dem Geräusch der Klingel berührt. Auch die Stationsvorsteherin war nicht im mindesten an dem schrillenden Geräusch interessiert, das in unregelmäßigen Abständen ertönte. Ich konnte keinen Grund, auch keinen Code in ihm erkennen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebewesen, dessen Existenz nicht angetastet werden sollte. Wenn da nun nicht jener Herr gewesen wäre, der sich der Klingel näherte. Er stand ganz still, notierte in sein Notizheft, telefonierte, dann wartete er. Kaum eine Viertelstunde verging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei junge Männer entstiegen. Sie waren in Overalls von gelber Farbe gehüllt. Unverzüglich näherten sie sich der Klingel. Der eine Mann faltete seine Hände im Schoss, der andere stieg auf zur Klingel und durchtrennte mit einem mutigen Schnitt die Leitung, etwas Ölstaub rieselte zu Boden, und diese Stille, ein Faden von Stille. — stop
galina
sierra : 16.28 — Gestern Abend, im Flughafenzug, erzählte Galina, die seit zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebt, sie sei vor wenigen Wochen mit ihrer 85-jährigen Großmutter nach Ägypten ans Meer geflogen, ein Wagnis, ein Abenteuer, weil ihre Großmutter, eine federleichte Person, kaum noch auf ihren eigenen Füßen gehen könne. Man habe sie in einem kleinen, offenen Elektroautomobil vor das Flugzeug gefahren und das „uralte Mädchen“ mittels einer speziellen Hebebühne zu einer besonderen Tür am Heck des Flugzeuges transportiert. Dort sei sie winkend verschwunden, um ihrer Enkelin kurz darauf freudestrahlend mittels eines Rollators im Gang des Flugzeuges entgegenzukommen, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. Die alte Frau, deren Name Galina nicht erwähnte, soll in ihrem Leben weit herumgekommen sein. Sie lebte in der Ukraine nahe Donezk, einige Jahre später zog sie nach Kirgisien weiter, auch dort, nahe der chinesischen Grenze, wurde die deutsche Sprache in einer Weise gesprochen, dass ich sie nur mit Mühe verstehen würde, bemerkte Galina. In Ägypten habe ihre Großmutter stundenlang bis zu den Schultern mit Wasser bedeckt im Meer gestanden, sie habe sich an einem Schwimmbrett festgehalten und gesummt und gewartet, dass die Fische zu ihr kommen. Ihr dreieckiges Kopftuch, das sie immerzu trage, habe sie indessen so gebunden, wie sie es von Grace Kelly lernte. Abends saßen die junge und die alte Frau in lindgrüne Bademäntel gehüllt im Hotelzimmer vor dem Bildschirm eines Notebooks. Sie waren via Skype mit Familienangehörigen in Donezk verbunden, immer wieder sei die Verbindung unterbrochen worden, einmal seien Detonationen zu hören gewesen, da habe sich ihre Großmutter ins Bett gelegt. Am nächsten Morgen schwebte die alte Frau wieder lange Zeit im Meer dahin. — stop
port-vila
marin
echo : 16.02 — Das sehr Besondere an der Gattung der Marinkäfer ist, dass sie blau sind, von einem tiefen, vornehmen Blau, nicht nur von Außen her betrachtet, sondern auch dann, wenn man sie öffnet, wenn man ihre Augen, ihr Gehirn, ihr Herz im Innern beobachtet, alles blau im Käfer, Faser für Faser. Seit Tagen bereits, da ich ihre Gattung entdeckte, denke ich darüber nach, wie sie das machen, das Blausein, ob das überhaupt möglich ist und woher sie kommen und wovon sie sich ernähren. Stunde um Stunde, das ist gesichert, Tag und Nacht, senden sie genau ein Milligramm ultramarines Pigment in die Welt, aber nur dann, wenn ich zärtlich zu ihnen spreche, wenn ich sie mit meinen Gedanken berühre. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Die gewaltlose politische Gefangene Atena Farghadani befindet sich seit dem 9. Februar im Iran im Hungerstreik, um gegen ihre Haft zu protestieren. Nun schwebt sie in Lebensgefahr. Die Künstlerin befindet sich wegen ihrer friedlichen Aktivitäten in Haft, unter anderem hatte sie in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert. Die iranische Malerin Atena Farghadani trat am 9. Februar in einen Hungerstreik. Sie nahm fortan nur noch Wasser, jedoch keine Nahrung mehr zu sich. Hiermit will sie gegen die Fortdauer ihrer Haft im Gharchak-Gefängnis in der Stadt Varamin protestieren, in dem es keinen Trakt für politische Gefangene gibt und in dem die Haftbedingungen äußerst schlecht sind. Am 25. Februar gab ihr Rechtsbeistand an, dass Atena Farghadani als Folge ihres Hungerstreiks einen Herzinfarkt erlitten und kurzzeitig das Bewusstsein verloren habe. Sie gab an, ihren Hungerstreik solange nicht zu beenden, bis die Behörden ihrem Antrag nachkommen, sie in das Evin-Gefängnis in Teheran zu verlegen. Am 26. Februar wurde sie in ein Krankenhaus außerhalb des Gefängnisses gebracht. Atena Farghadani wurde zum ersten Mal am 23. August 2014 wegen ihrer friedlichen Aktivitäten festgenommen. Sie hatte Familien von politischen Gefangenen besucht und in einer Karikatur Parlamentsabgeordnete kritisiert, die einen Gesetzentwurf eingebracht hatten, der freiwillig durchgeführte Sterilisationen unter Strafe gestellt hätte und der Teil eines groß angelegten Plans ist, den Zugang zu Verhütungsmitteln und Dienstleistungen bezüglich der Familienplanung zu beschränken. Sie wurde fast zwei Monate lang im Trakt 2A des Evin-Gefängnisses festgehalten, davon 15 Tage in Einzelhaft. Zu ihrer Familie und ihrem Rechtsbeistand durfte sie keinen Kontakt aufnehmen. Am 6. November 2014 wurde sie gegen Zahlung einer Kaution freigelassen. Ihre neuerliche Festnahme am 10. Januar erfolgte nach der Vorladung eines Revolutionsgerichts, möglicherweise als Vergeltungsmaßnahme für ein Video, das sie nach ihrer Haftentlassung veröffentlicht und in dem sie erklärt hatte, wie Gefängnisaufseherinnen sie geschlagen und erniedrigenden Leibesvisitationen unterzogen sowie anderen Misshandlungen ausgesetzt hatten. Ihre Eltern gaben in Interviews an, dass Atena Farghadani vor ihrer Überführung ins Gharchak-Gefängnis noch im Gerichtssaal geschlagen wurde. Die Anklagen gegen sie lauteten auf “Verbreitung von Propaganda gegen das System”, “Beleidigung von Parlamentsabgeordneten durch Zeichnungen” und “Beleidigung des Religionsführers.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und bis spätestens 10. April, unter »> ai : urgent action
ein päckchen
tango : 17.01 — Einmal, in einem August, stehe ich in einer Schlange wartender Menschen. Der Ort: U.S. General Post Office, New York, 8. Straße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin weite Strecken durch die Stadt gewandert. Ich denke noch, wenn ich nicht achtsam bin, könnte ich vielleicht im Stehen einschlafen. Ich überlege, ob ich in diesem Falle umfallen oder einfach so schlafend stehen bleiben würde. Draußen ist es höllisch heiß, schwül und feucht, in der Halle des Postamtes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie versehentlich umarmen könnte, wartet eine zierliche, ältere Dame, sie ist vielleicht gerade vom Friseur gekommen, ihr Haar, ein bläulich schimmernder Ball, der heftig duftet. Auf ihren Schultern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Reihe kommt, tritt sie an den Schalter heran, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und legt ein Päckchen auf dem Tresen ab. Mit einer lässigen Handbewegung schiebt sie die Ware zu einer Postangestellten hin. Die Frauen unterhalten sich. Ich kann nicht jedes Wort verstehen, sie sprechen schnell. Ich meine, zu hören, wie die Postangestellte bemerkt, dass das Päckchen leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts enthalten wäre. Die alte Dame erwidert, in dem Päckchen sei sehr wohl etwas enthalten, nämlich 7 x 1 Stunde Schlaf, die sie einem Freund übermitteln würde, der nahe Boston wohne, ein Geschenk. Daraufhin lacht die Postangestellte mit tiefer Stimme. Sie sagt: Das ist ein unglaubliches Geschenk, sie würde auch einmal sehr gerne etwas Schlafzeit geschenkt bekommen. Kurz darauf dreht sich die alte, zierliche Frau auf dem Absatz um, ein feuerrot geschminkter Mund, gepuderte, helle Haut, winzige blaue Augen. Sie durchquert den Saal nach Norden hin. Kleine Schritte, schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Richtung korrigieren muss, wird sie beinahe aus der Kurve getragen. — stop
=
echo : 8.01 — n a s e n b e i n
winterzeiten
himalaya : 3.18 – Ich könnte das Wort Winter schreiben. stop. Wie viel Zeit vergeht, ehe ich das Wort Winter zu Ende geschrieben haben werde? stop. Einhundert Winterzeiten. stop. Wie viele Winterzeiten machen einen Tag? — stop.
=
ulysses : 15.02 — a u g e n h a u t