india : 22.55 UTC — Es ist Abend und ich sitze seit ein oder zwei Stunden im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern erwachte gegen 7 Uhr in der Früh war es schon hell. Eine Libelle, marineblau, balancierte auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte. Sie schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge und nichts Weiteres bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die über die Nacht kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich vor einer halben Stunde einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht wieder zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit einer vollen Stunde und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: abend
im garten
sierra : 18.01 UTC — Vater an einem Montag, wie er im Arbeitszimmer vor seinem Computerbildschirm sitzt. Er würde sich, wenn er noch lebte, ganz sicher mit dem Internet verbunden haben, um sehr aufmerksam einer Anhörung des U.S. Kongresses zu folgen, die sich der Frage widmete, ob der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika die Wahrheit oder wissentlich die Unwahrheit erzählte, als er den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika über den Kurznachrichtendienst Twitter eines schweren Vergehens bezichtigte. Ich sehe, wie mein Vater seinen Kopf zur Seite neigt, er lauscht, er wartet, es ist ein spannender Tag. — Ich habe meinen Vater immer wieder einmal beobachtet, wie er las oder schlief oder an seinem Computer arbeitete. Manchmal dachte ich, dass er nun wirklich alt geworden sei, obwohl ich ihn immer schon als einen alten Mann wahrgenommen hatte, eben sehr viel älter als ich selbst. Ich erinnere mich an einen Sommerabend, vor fünf Jahren. Mein Vater saß auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Drehverschluss. Ich glaubte damals, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu sprechen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht festzuhalten gewesen, vermutlich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr niedergeschlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch immer auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unterhalten, ohne aber die richtigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüttelte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrachtete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Friedens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder eingeschlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich unmittelbar vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewundert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zugedreht. — stop
am fenster
charlie : 22.01 UTC — Es ist Samstagabend geworden. Ich habe an diesem Tag lange Zeit Eichhörnchen beobachtet, wie sie blattlose Bäume vor meinen Fenstern untersuchten, als wären diese Bäume gerade erst gewachsen, unbekannte Orte also, die zunächst inspiziert werden mussten. Ich winkte gelegentlich, die Eichhörnchen blieben dann für einen Augenblick still sitzen, ich glaube, sie haben mich beäugt, haben möglicherweise darüber nachgedacht, ob sie sich an mich erinnern, und wenn ja, welche Erfahrung sie mit mir sammelten. Vermutlich werden sie gedacht haben, diesen Vogel dort drüben am Fenster kennen wir, er ist nicht gefährlich, er flattert nur mit seinen Flügeln, er kann nicht fliegen. — stop
im central park
nordpol : 20.05 UTC — Ich war spazieren an einem windigen Tag. Wie ich unter dem Regenschirm westwärts ging, beobachtete ich meine Schuhe, die sich vorwärts bewegten, als gehörten sie nicht zu mir. In diesem Moment hatte ich den Eindruck, durch den Central Park zu gehen. Das war nämlich so, dass ich an dem ersten Tag, den ich in der Stadt New York verbrachte, unter einem Regenschirm durch den Central Park wanderte und meine Schuhe beobachtete. Es war damals Mai und recht kalt gewesen. Von Zeit zu Zeit war ich stehen geblieben, um eines der Eichhörnchen zu betrachten, die groß sind in Nordamerika und ungestüm. Ich erinnerte mich noch gut an diesen Augenblick, da ich im Central Park spazierend wiederum eine Panthergeschichte erinnerte, die ich einmal notiert hatte über einen weiteren Park, in dessen Nachbarschaft ich lebe. In der Erinnerung an meinen Spaziergang in New York kehrte die Panthergeschichte zurück, ich drehte um und ging nach Hause, um nach der Geschichte zu suchen. Ich habe sie sofort gefunden. Panthergeschichte: Da ist mir doch tatsächlich ein junger Panther zugelaufen, ein zierliches Wesen, das mühelos vom Boden her auf meine Schulter springen kann, ohne dabei auch nur den geringsten Anlauf nehmen zu müssen. Seine Zunge ist rau, seine Zähne kühl, ich bin stark, auch im Gesicht, gezeichnet von seinen wilden Gefühlen. Der Panther schläft, unterdessen ich arbeite. So glücklich sieht er dort aus, auf der Decke unter der Lampe liegend, dass ich selbst ein wenig schläfrig werde, auch wenn ich nur an ihn denke, an das Licht seiner Augen, das gelb ist, wie er zu mir herüberschaut bis in den Kopf. Spätabends, wenn es lange schon dunkel geworden ist, gehen wir spazieren. Ich lege mein Ohr an die Tür und lausche, das ist das Zeichen. Gleich neben mir hat er sich aufgerichtet, schärft an der Wand seine Krallen, dann fegt er hinaus über die Straße, um einen vom Nachtlicht schon müden Vögel zu verspeisen. Daran sind wir gewöhnt, an das leise Krachen der Gebeine, an schaukelnde Federn in der Luft. Dann weiter die heimliche Route unter der Sternwarte hindurch in den Palmengarten. Es ist ein großes Glück, ihm beim Jagen zuhören zu dürfen. Ich sitze, die Beine übereinander geschlagen, auf einer Bank am See, schaue gegen die Sterne, und vernehme Geräusche der Wanderung des kleinen Jägers entlang der Uferstrecke. Ein Rascheln. Ein Krächzen. Ein Schlag ins Wasser. Wenn der Panther genug hat, gehen wir nach Hause. — stop
8.7 milligramm
echo : 22.58 UTC — An diesem späten Abend würde ich gern eine Geschichte erzählen. Sie handelt von einer Frau, die in der Lage ist, das Gewicht einer Ameise mittels der Zeigefingerbeere ihrer rechten Hand präzise zu bestimmen. Sie sagt: Diese Ameise wiegt 8.7 Milligramm. Ein zierliches Wesen, dachte ich, das sich im Moment des Wiegens auf der Fingerbeere der feinfühligen Frau niedersetzte und sich nicht im Mindesten rührte. Eigentlich eine seltsame Geschichte, die ich gern genauso erzählt haben würde, als wäre sie Wirklichkeit. Etwas muss sich verändert haben während der vergangenen Monate. — stop
bbc
alpha : 15.22 UTC — Mein Freund Samuel ist ein Freund, mit dem ich sehr gerne spreche, weil ich immer wieder beobachte, dass Wörter oder Sätze, die ich in dem Glauben verwende, sie seien für alle menschlichen Wesen gleichermaßen gültig, in unserer gemeinsamen Welt nicht existieren. Selbst die beiläufige Betrachtung eines Fernsehbildschirms provoziert Diskussionen. Wir sitzen, es ist später Abend, in einem Café am Flughafen. Die BBC zeigt Ausschnitte einer Pressekonferenz des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in einem Loop. Wiederholt demzufolge hören und sehen wir, wie der 45. Präsident eine farbige Journalistin beschimpft, die ihm eine sachliche Frage stellte. Ich sage zu meinem Freund, schau, hör zu, er beschimpft diese Frau. Nach fünfzehn Minuten, die Szene der Beschimpfung war dreimal wiedergekehrt, sagt mein Freund mit trockener Stimme: Das ist nicht Wirklichkeit, das ist eine Erfindung des Fernsehens. — stop
regenzeit
nordpol : 18.15 UTC — Es ist früher Abend und es regnet in Strömen. Tatsächlich, wenn ich vor dem Fenster stehe und meinen Blick derart in die Luft richte, dass ich den Regen wahrzunehmen vermag, meine ich für Sekunden, Schnüre von Wasser erkennen zu können, deren Ursprung ich nicht sehen kann. Die Beobachtung der Wasserschnüre bereitet mir Freude, ich sehe etwas, das ich nicht wirklich sehen, aber mir so gut vorstellen kann, dass es tatsächlich wirklich zu sein scheint. — stop
von fliegerbomben
alpha : 1.15 UTC — Gestern Abend sagte ich zu Jakob: Lieber Jakob, es ist kurz vor Mitternacht. Ich habe Dich zwei Monate, drei Tage und acht Stunden lang belichtet, in diesem Moment bist Du fertig geworden. Ich spazierte in der Küche auf und ab, ging für eine halbe Stunde auf der Straße spazieren, als ich zurückkam, saß Jakob noch immer still vor dem Tisch und betrachtete seine Hände. Er schien unglücklich zu sein, er war vielleicht unsicher, wusste nicht zu sagen, was das bedeutet, belichtet oder fertig geworden zu sein. Ich fragte: Sag, mein lieber Jakob, was ist los, wie geht es Dir? Lieber Louis, antwortete Jakob, ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen wird mit mir. Werde ich von Dir vergessen werden, oder wirst Du mich in eine Geschichte übertragen, in der ich mich wohlfühlen kann? Lange Zeit beobachtete ich den feingliedrigen, zeitlos wirkenden Mann, wie er scheu zu mir aufsah, wie er versuchte, in meinen Augen zu lesen. Ich sagte: Lieber Jakob, ich werde Dich niemals vergessen! Ich werde eine Geschichte schreiben, die nur für Dich gemacht sein wird, für einen Mann von außerordentlichem Fingerspitzengefühl. Ich werde für Dich sorgen, lieber Jakob, in Deiner Freizeit wirst Du Briefmarken sammeln, versprochen, ich werde für Dich eine zarte Geschichte schreiben. — stop
von makis
echo : 3.08 UTC — Gestern Abend habe ich versucht, meine Gedanken zu beobachten. Eigentlich wollte ich eine Liste meiner abendlichen Gedanken verfertigen, Gedanken in der Straßenbahn, Gedanken vor einer Supermarktkasse wartend, Gedanken in der Beobachtung eines Fernsehbildschirmes. Ich war sehr müde gewesen, hatte lang gearbeitet, war, sagen wir, langsam mit dem Kopf, deshalb nicht ausreichend schnell, um sagen zu können, das war nun ein Gedanke, der soeben abgeschlossen wurde, nun beginnt gerade ein weiterer Gedanke, dieser Gedanke No 18 (Herzlich Willkommen!) beschäftigt sich mit der zentralen Frage, wovon Koboldmakis sich eigentlich ernähren? Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, einen Gedanken festzuhalten, um den Gedanken zu vergrößern, ihn also schwerer (Gravitation) zu machen, sagen wir, den Gedanken mit Zeiträumen rückwärts (erinnernd) oder vorwärts (spekulierend) zu versehen. Je länger ich an einem Gedankenknoten festhalte, desto schläfriger werde ich. Ein Gedanke kann sich in ein Bild verwandeln. Wenn ich in Gedanken die Augen eines Koboldmakis zur Aufführung bringe, schlafe ich ein. — stop
kalkutta
nordpol : 0.15 UTC – Es ist an diesem Abend seltsam mit meiner Schreibmaschine. Ich würde gern einen Text formulieren, der von meiner Erwartung der Stadt Kalkutta erzählt, aber es schreibt immer wieder etwas anderes auf den Bildschirm: Make Europe great again! Eigentlich will ich diesen Satz nicht notieren, weil er mich an einen Satz erinnert, der aus dem Mund eines Mannes kommt, über den ich möglichst gar kein Wort verlieren möchte, wenn er doch nur nicht so gefährlich wäre, oder genauer gesagt, jene Personen gefährlich wären, die ihn umgeben, die ihm zuflüstern, wenn sie Gelegenheit haben, ihn doch für einige Minuten von seinem Fernsehweltgerät zu lösen. Alle raten zur Gelassenheit. Gelassenheit ist immer gut. Auf nach Kalkutta. — stop