nordpol : 0.05 UTC — Im Haus der alten Menschen wird für seine Bewohner Nacht um 8, wenn für die Besucher gerade ebendieses Hauses der Abend erst beginnt. Es war heute Gewitterluft gewesen, weshalb viele der alten Menschen nicht aufstehen wollten. Also blieben sie liegen und verirrten sich nicht. Es ist nämlich so, dass man sich, wenn man im Haus der alten Menschen ein Zimmer genommen hat, manchmal nicht weiß, wer man ist, oder man weiß nicht, wo zu Hause sein könnte, und bekommt, wenn man zu einer Schwester sagt: Ich möchte heim, zur Antwort: Meine Liebe, hier ist Daheim. Auf den Rücken der alten Menschen, die nicht wissen, wo sie sind, steht zu lesen: Ich heiße so oder so, ich habe mich verlaufen, ich wohne im Haus der alten Menschen, bitte bringen Sie mich nach Hause. Auf einem Tisch hier daheim steht ein Schallplattenspieler, der Musik macht, die vertraut ist, auch wenn man nicht weiß, wer selbst man ist, es wird gesungen, es sind Lieder der Kindheit. Twitter kennt man hier nicht. — stop
Aus der Wörtersammlung: alt
ai : BURUNDI
MENSCH IN GEFAHR: „Nestor Nibitanga, ein ehemaliger regionaler Beobachter der Menschenrechtsorganisation Association pour la Protection des Droits Humains et des Personnes Détenues (APRODH) in Zentral- und Ost-Burundi wird seit mehr als fünf Monaten in Untersuchungshaft gehalten. Ihm werden „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ und „Rebellion“ zur Last gelegt. Amnesty International ist der Ansicht, dass dies eine Vergeltungsmaßnahme für seine friedliche Menschenrechtsaktivitäten und seine frühere Zugehörigkeit zu APRODH sind. / Er wurde am 21. November 2017 bei sich zuhause in Gitega festgenommen. Während seiner Festnahme nahm die Polizei zwei USB-Sticks aus seinem Haus an sich, von denen einer den Entwurf eines Tätigkeitsberichts für ein lokales Netz von Menschenrechtsbeobachter_innen enthielt. Nestor Nibitanga war zu der Zeit nicht bei APRODH angestellt, da sie eine von mindestens zehn Menschenrechtsorganisationen war, die der Innenminister im Oktober 2016 geschlossen hatte. Er warf den Organisationen vor, „den Ruf des Landes zu schädigen“ und „Hass und Zwietracht unter der Bevölkerung zu säen“. / Zunächst war Nestor Nibitanga vom Geheimdienst (Service national de renseignement – SNR) ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand in der Hauptstadt Bujumbura festgehalten worden. Am 4. Dezember 2017 wurde er dann in das Zentralgefängnis Murembwa nach Rumonge gebracht. / Am 3. Januar wurde sein Antrag auf Freilassung gegen Kaution abgelehnt. Gegen diese Entscheidung hat er Rechtsmittel eingelegt. / Amnesty International betrachtet Nestor Nibitanga als gewaltlosen politischen Gefangenen, der aufgrund seiner friedlichen Menschenrechtstätigkeit ins Visier geraten ist.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 11.6.2018 unter > ai : urgent action
von magnetbändern
lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist virtuell, es kommen keine Antworten. — stop
von grammophonen
marimba : 18.52 UTC — Einmal gehe ich im Traum eine Straße spazieren. Da und dort Warenhäuser und Läden, schön warm beleuchtet, seltsamerweise ohne Ausnahme Schallplattenläden. Grammophone sind zu erkennen, ganz alte Kisten. Plötzlich kommt mein Bruder auf einem Fahrrad vorbei, kurz darauf Vater im Rollstuhl sehr kraftvoll. Er leuchtet vor Begeisterung, diese Geschwindigkeit, er ist ungeheuer geschickt mit seinem Stuhl. Der Rollstuhl ist von Kirschbaumholz, er blüht. Bald sind Vater und Bruder in einer Seitenstraße verschwunden. — Kurz nachdem ich erwacht war, erzählte ich Mutter meinen Traum, er gefiel ihr. Jetzt sitzt sie selbst im Rollstuhl. Wenn dieser, ihr kleiner Rollstuhl doch nur blühen würde, es ist Mai, sie trägt einen Sommerhut und schläft. — stop
prozedur
kilimandscharo : 20.02 UTC – Am 1. Mai, stelle ich mir vor, wird Mr. Hemingway (Name erfunden) seine Schreibmaschine zerlegen, um jedes ihrer Einzelteile zunächst zu säubern, zu betrachten und in feine Maschinenöle zu tauchen. Eine zeitaufwendige Prozedur, größte Sorgfalt wird geboten sein, denn die Schreibmaschine ist kostbar. Schon der Großvater, ein äußerst gebildeter Mann, soll auf ihr notiert haben, weshalb sie sozusagen mittels der Zeichen, die sie auf allerlei Papiere drückte, weit in der Welt herumgekommen war. Wie nun präzise, frage ich, wird Mr. Hemingway seine Schreibmaschine in ihre Einzelteile zerlegen, wie wird er vorgehen? Vielleicht, indem er zunächst einen Plan entwickeln wird, der einzelne Schritte der Zerlegung (Demontage) derart verzeichnet, dass sie später einmal in rückwirkender Art und Weise nachvollzogen werden könnten (Montage). Sehr viele Schräubchen, Tasten, Zahnräder werden zu berücksichtigen sein, 328 Teile insgesamt. Würde nur eines dieser Schräubchen, Tasten oder Zahnräder, zu Boden fallen und verschwinden, wäre es um die Schreibmaschine geschehen, aus und vorbei. Eine riskante Geschichte. — stop
haus ohne türen
india : 0.15 UTC – Ich träumte von einem Haus ohne Fenster, ohne Türen. Die Zimmer des Hauses waren von strahlend hellem Licht. Das Licht kam aus dem Boden, den Wänden, von der Decke. Auf dem Boden kauerte ein Mann. Der Mann schien darauf zu warten, dass es endlich wieder dunkel werden wird. Seine Augen waren entzündet. Er stand auf, suchte nach einem Schalter, um das Licht zu löschen. Vögel lebten in den Zimmern des Hauses, Hunderte winzige Vögel. Sie flogen herum, ohne jemals zu landen. Wenn der Mann einen der Vögel fing, war er sofort gebraten, er dampfte in seinen Händen, das Gefieder löste sich wie von selbst vom Leib und fiel zu Boden. — stop
ai : TÜRKEI
MENSCH IN GEFAHR: „Bis zu 17 Studierende der Universität Boğaziçi, die zum Teil seit bereits zwei Wochen in Polizeigewahrsam gehalten werden, weil sie gegen den türkischen Militäreinsatz in Afrin im Norden Syriens protestiert hatten, wurden am 3. bzw. 5. April vor drei Friedensgerichte in Istanbul gestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ Untersuchungshaft für sie beantragt. Auf diesen Straftatbestand stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis./ Am 3. April verhängte das Friedensgericht für Strafsachen Nr. 8 in Istanbul, das über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft für sieben der 17 Studierenden zu entscheiden hatte, Untersuchungshaft gegen vier Studierende, weil Kameraaufnahmen zeigten, dass ihre Münder in einer Weise geöffnet waren, die nahelegte, dass sie Parolen riefen. Dies zeige, dass sie eine aktive und andauernde Rolle in der Protestveranstaltung spielten, bei der auch Transparente mit Parolen wie „Kurdistan wird das Grab des Faschismus“, „Wir wollen keine Unterstützer_innen der Free Syria Army in unserer Universität“, „Seite an Seite gegen Faschismus“, „Der Palast will Krieg, das Volk will Frieden“ aufgehängt wurden. Das Friedensstrafgericht Nr. 6 in Istanbul, das die Fälle von acht Studierenden prüfte, verhängte ebenfalls Untersuchungshaft gegen fünf Studierende auf der Grundlage, dass sie „Transparente gehalten und Parolen gerufen haben.“ Die beiden Gerichte ließen die übrigen sechs Studierenden frei, weil Fotos darauf schließen ließen, dass sie zwar anwesend, aber nicht aktiv an dem Protest beteiligt waren. Am 5. April verhängte das Istanbuler Friedensgericht für Strafsachen Nr. 2 Untersuchungshaft gegen ein_e der am 3. und 4. April inhaftierten Studierenden und ließ die andere gegen Kaution frei./ Bei den zehn Studierenden in Untersuchungshaft handelt es sich um: Deniz Yılmaz, Yusuf Noyan Öztürk, Agah Suat Atay, Berke Aydoğan, Şükran Yaren Tuncer, Zülküf İbrahim Erkol, Esen Deniz Üstündağ, Sevde Öztürk, Kübra Sağır und Tevger Uzay Tulay. İbrahim Musab Çurabaz, Hamza Dinçer, Kültigin Demirlioğlu, Ali İmran Şirin, Denizhan Eren, Mustafa Ada Kök und Emir Eray Karabıyık wurden gegen Kaution freigelassen. / Durch die Teilnahme an der Protestveranstaltung nahmen die Studierenden lediglich ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahr, die im nationalen Recht und im Völkerrecht verbrieft sind.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 18.5.2018 unter > ai : urgent action
vom tonfilm
marimba : 18.15 UTC – Das Haus der alten Menschen scheint ein guter Ort zu sein, um das Wesen der Zeit zu beobachten. Ich habe auf den Fluren und in den Zimmern des Hauses weder Zeigeruhren noch Zifferuhren an Wänden entdeckt, aber Pulse. Manche der alten Damen und Herren tragen Armbanduhren, manche der Uhren sind längst stehen geblieben, niemand, so kommt mir das vor, würde sie wieder aufziehen wollen oder ihre Batterien erneuern. Auch meine alte Mutter trägt eine Uhr, sie ist von einem hellen Blau, das ist wichtig, nicht welche Zeit die Uhr anzeigen mag, die blaue Uhr ist neu, weshalb sich die Zeiger der Uhr noch bewegen. Wenn man lange Zeit ganz still sitzt an einem Bett, in dem sich ein schlafender Mensch befindet, scheint das Zeitgefühl sich zu verformen. Die Zeit vergeht langsam oder sie vergeht schnell. Eine alte Dame kommt im Rollstuhl vorüber in einem Rhythmus, der als eine geheime Uhr wirksam werden könnte. Sie fährt auf und ab, wie ein Pendel, einen langen Flur hin und her. Auch die Bewegungen der Schwestern wirken wie geheime Uhren, die Ausgabe der Medikamente, das Wenden der Körper in den Betten. Die alte, pendelnde Frau auf dem Flur wird bald 100 Jahre alt geworden sein. Im Jahr ihrer Geburt wurde der Tonfilm erfunden. — stop
time
sierra : 18.32 — Das seltsame Leben der Uhren, ihre Erscheinung, oder die Geschwindigkeit, in welcher sich ihre Zeiger oder Ziffern bewegen. Immer wieder die Frage, ob Uhrwerken nicht doch zu misstrauen ist. Gerade Funkuhren scheinen Persönlichkeiten zu sein, sie laufen, ich habe das mit eigenen Augen beobachtet, manchmal rückwärts. Und so stellte ich mir vor, eine Uhr zu verwenden, um eine andere Uhr zu kontrollieren, oder mehrere Uhren einer Umgebung, in der Hoffnung, dass sie sich gleichmäßig verhalten. Diese Überlegungen sind Orten verbunden, die niemals mit Tageslicht in Berührung kommen, Räume, in welchen 28 Stunden dauernde Tage längst denkbar geworden sind. — stop
eine alte schreibmaschine
alpha : 22.02 — Dachte wieder an eine Schreibmaschine, an eine besondere Schreibmaschine, an meine digitale Schreibmaschine, die jedes Zeichen, das ich notiere, im Moment der Speicherung in eine Hieroglyphe verwandelt, sodass ich schreibe einerseits, also einen Text speichere, anderseits nicht sofort wiederholend lesen kann, was ich für mich oder andere aufgehoben habe. Schreiben. Denken. Auf dem Wasser laufen. Eine vernünftige, das heißt, eine gute Schreibmaschine, ist nach wie vor mit dem Internet niemals verbunden. — stop