sierra : 16.02 — Vor dem Rollstuhl, in dem die alte Dame hockte, kniete ein Mädchen im Alter von 6 Jahren. Die alte Dame erzählte dem Mädchen eine Geschichte. So leise war die Stimme der alten Dame geworden, dass sie kaum noch zu hören war, manche der leisen Wörter waren nur in Gedanken zu vernehmen, waren Vermutung. Je mehr der Vermutungen sich in den laut ausgesprochenen Wörtern der Erwachsenen, die links und rechts des Rollstuhles stehend, in gebückter Haltung lauschten, aneinander reihten, desto strenger wurde der Blick der alten Dame, sie schien unzufrieden, vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Plötzlich sagte das Mädchen: Ihr hört nicht richtig zu! Die Tante sagt, dass sie an Weihnachten immer den Gottesdienst in der Kirche St. Paul besuchte. Sie sagt gar nichts über das Wetter morgen. Unverzüglich begann die alte Dame zu lächeln. Sie winkte das Mädchen zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ja, sagte das Mädchen, das stimmt, ich kann hervorragend hören, ich glaube, ich kann auch Fledermäuse hören, wenn sie bei uns im Garten herumfliegen. Die alte Dame flüsterte etwas Weiteres in das Ohr des Mädchens, sofort stand das Mädchen auf und schob den Rollstuhl der alten Dame auf den Flur hinaus. Im Flur vor einem Fenster hockte eine weitere alte Dame in einem Rollstuhl, sie schien zu schlafen. Schnee fiel vor dem Fenster, dichte, große und sehr runde Flocken. Bald saßen nun zwei alte Damen Seite an Seite in ihren Stühlen. Und das Mädchen ging vor den Damen in die Hocke. Sie weckte die schlafende alte Dame und sagte mit ihrer hellen Stimme: Du, du wolltest heute Morgen meiner Tante etwas erzählen. Ich bin jetzt ganz Ohr! — stop
Aus der Wörtersammlung: eisen
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 155, Luftfahrt — 3, Automobile — 546 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 3, 19. Jahrhundert – 12, 20. Jahrhundert – 655, 21. Jahrhundert — 4532 ], Trolleykoffer [ blau : 22, rot : 8, gelb : 57, schwarz : 856 ], Seenotrettungswesten [ 12439 ], physical memories [ bespielt — 12, gelöscht : 33 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 458 ], 2 Krokodilpuppen [ Baujahr 1965 ], Brummkreisel : 12, Öle [ 0.22 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 83, Kniegelenke – 6, Hüftkugeln – 14, Brillen – 5688 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 112, Größen 38 — 45 : 55 ], Plastiksandalen [ 6452 ], Reisedokumente [ 568 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 755 ], Puppenköpfe [ 6 ] Gasmasken [ 1 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 5, mit Taucher – 14 ], Engelszungen [ 528 ] | stop |
max
charlie : 20.45 UTC — Ich habe meinen Freund Max besucht, der in München wohnt in der Briennerstraße unter dem Dach in einem Loft, das derart weiträumig ist, dass man darin Hallenfußball spielen könnte. Seine Vögel, zwei Kakadus, fliegen dort gern frei herum, sie sollen, so Max, niemals bislang irgendeinen Schaden an seinen Möbeln angerichtet haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass Max’ Vögel möglicherweise nicht ganz echt sind, ich meine, dass sie kühle Tiere von äußerst leichtem Metall sein könnten unter dichtem Federkleid verborgen, dass sie also nur vorgeben, Vögel zu sein, während sie vielmehr Drohnen sind, die sich von Max’ Computer gesteuert durch die Wohnung bewegen, als wären sie natürliche Wesen. Ich habe beide Tiere immer nur im Flug beobachtet, nie aus nächster Nähe, denn wenn sie einmal nicht fliegen, sitzen sie in einem Käfig, der dicht unter der Decke des Raumes unerreichbar weit entfernt montiert wurde. Wunderbare Algorithmen steuern den Flug der Kakadus, auch ihre Gespräche, die sie beständig führen. Es ist spät geworden, eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen, von Max’ Computer, der über eine Taste für Cappuccino verfügen soll. Diese Geschichte werde ich im nächsten Jahr erzählen. — stop
eine lampe
nordpol : 10.28 UTC — Gestern, ehe ich das Haus der alten Menschen besuchte, dachte ich noch, das Altwerden, das Alt- oder Uraltsein habe mit Unruhe zu tun, mit Schlaf, dessen Zeiträume kürzer und kürzer werden. Heute nun würde ich sagen, das Alt- oder Uraltsein hat etwas mit Schlaf über lange Zeiträume hinzutun, auf einem rollenden Stuhl sitzen und schlafen oder dämmern. Da war wieder eine Frau im Licht einer gelben Lampe, die im Wohnsaal vor einem Tisch saß und einen Telefonhörer in der Hand hielt. Der Telefonhörer war mit einem Telefon mit Wählscheibe verbunden, ein derart altes Telefon, dass man, um eine Nummer zu wählen, eine kreisende Bewegung ausführen muss. Dieses Telefon nun war nicht mit der Wand in Verbindung, vielmehr ragte aus dem Gehäuse des Telefons ein kurzes Stück Kabel, das anzeigte, dass das Telefon einmal tatsächlich mit der elektrischen Welt verbunden gewesen war. Als ich an der alten telefonierenden Dame vorbeikam, dachte ich für einen Moment, vielleicht liest ihr gerade jemand vor, vielleicht Hrabal, der aus seinem Roman Ich habe den englischen König bedient zitiert. Es wird Herbst, in jeder Hinsicht. 288P, ein Doppelasteroid, wurde entdeckt. Hurrikane Maria verwüstet die Karibik. Mr. Un droht mit Wasserstoffbombentest. — stop
laufen
delta : 15.12 UTC — Ich mag Menschen, die Verzeichnisse anlegen, die Verzeichnisse beschriften nach geheimen oder nach Regeln, die sofort erkennbar sind. Mein Vater führte Verzeichnisse seiner Wetterbeobachtungen, auch welche Vögel er im Garten beobachtet hatte, wurde akkurat mit Bleistift in Listen eingetragen, Amseln, Meisen, Sperlinge, Zaunkönige und Dompfaffen und Rotkehlchen. Daran erinnerte ich mich gestern, als ich einen Film beobachtete, der von den Vogelbeobachterinnen und Vogelbeobachtern des Central Parks erzählt. Eine alte Dame legt dort ähnliche Verzeichnisse an, wie mein Vater, als er noch lebte. Ich selbst notiere nicht selten, welche Filme ich betrachte, während ich auf einer Laufmaschine laufe, wenn es regnet oder nicht. Unlängst lief ich mit Kopfhörern, folgte Gene Hackman in dem Film French Connection. Zuletzt wurde ich immer schneller in meinen Bewegungen. Anstatt 10 Kilometern, die ich bereits notiert hatte, lief ich 14 Kilometer. Ich radierte im Notizbuch. Es war an einem Samstag gewesen. — stop
regenzeit
alpha : 20.15 UTC — Tiefseetauchbücher, von der NASA zur Prüfung astronautisch Reisender entwickelt, werden ab sofort als Regenbücher gehandelt. Sie sollen sich in tropischen Gegenden gut verkaufen. Haben Sie schon einmal mit E.E.Cummings Selected Poems gebadet, mit Hemingways Fiesta oder Dorothy Parkers The portable? Weitere Werke werden folgen: Homer, Beckett, Carson McCullers. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 10, Luftfahrt — 14, Automobile — 102], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 5, 19. Jahrhundert – 26, 20. Jahrhundert – 478, 21. Jahrhundert — 146 ], Trolleykoffer [ blau : 1, rot : 8, gelb : 1, schwarz : 188 ], Seenotrettungswesten [ 5317 ], physical memories [ bespielt — 12, gelöscht : 22 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 355 ], 1 Rollstuhl Westfalia [ Baujahr 1914 ], Brummkreisel : 3, Öle [ 0.33 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 5, Kniegelenke – 215, Hüftkugeln – 12, Brillen – 425 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 105, Größen 38 — 45 : 33 ], Plastiksandalen [ 435 ], Reisedokumente [ 1558 ], Kühlschränke [ 1 ], Telefone [ 658 ], Puppenköpfe [ 2 ] Gasmasken [ 12 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 5 ], Engelszungen [ 102 ] | stop |
glück
charlie : 20.52 UTC — Am Ufer eines kleinen Sees auf einer Bank in einem Park kurz vor der Dämmerung. Da und dort Karpfenschnäbel, die etwas von der regen frischen Luft zu trinken scheinen. Drei Ameisen hasten gleich neben mir hin und her über warmes, verwittertes Holz. Und da ist ein Falter. Er tastet mit seinen Fühlern nach Wortzeichen auf meinem Bildschirm, vielleicht deshalb, weil das strahlende Weiß des Bildschirmhintergrundes Luft, Zeichen hingegen ein Etwas bedeuten, einen Schatten, mit dem kommuniziert werden kann. — Ich habe wieder einmal beobachtet, dass ich, wenn ich mit meinen Ohren nach Geräuschen suche, die nicht hörbar sind, meine Augen öffne so weit ich kann. Der Wunsch, einmal in meinem Leben, für eine halbe Stunde nur, über das Vermögen zu verfügen, den Sonarhupen der Abendsegler lauschen zu können. — stop
beckett
charlie : 6.32 UTC — In dem kleinen Café, das den Namen Sahara trägt, wird Menschen, die am Flughafen arbeiten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gerade von der Arbeit. Außerdem schneit es in einer Weise, als wäre Winter. Sie zieht ihren Mantel aus und die Handschuhe, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstimmung in der Türkei nicht sprechen. Sprechen wir über meine nächste Reise, ich weiß nicht, wohin ich reisen soll, ich bin seit ich denken kann, immer in die Türkei gereist, dieses Mal werde ich nicht in die Türkei reisen. — Ist es zu gefährlich, frage ich. — Nein, antwortet Iclal, es ist nicht gefährlich für mich, ich will nicht. Wohin könnte ich nur reisen im Sommer? — Ich sage: Venedig ist schön, aber eher im späten Herbst, vielleicht magst Du in die Berge gehen, Du könntest auf einer Hütte im Karwendelgebirge wohnen und wandern, das ist ganz wunderbar dort. In diesem Moment entdecke ich einen Schriftzug von weißer Farbe, der Iclal’s rosafarbenes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Das sind wunderbare Worte, sage ich, Samuel Beckett hat sie geschrieben. — Ja, wirklich, antwortet Iclal, wer ist das? Sie sieht an sich herab. Ich habe nicht darauf geachtet, was da steht, das ist Englisch, ich kann kein Englisch, was steht da, das Beckett geschrieben hat? — Ich überlege, wie ich Becketts Sätze korrekt übersetzen könnte. Ich überlege lange. Das ist offensichtlich schwierig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poesie, da muss man sehr behutsam mit den Wörtern umgehen, man muss sehr genau sein. Kurz darauf werde ich mit meiner Übersetzung fertig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dachte noch, wie gerne ich ihr Lachen in diesem Moment auf Tonband aufgenommen hätte — stop
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet, mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er so viel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich sehe noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop